Bei Anne Will ging es um sexuellen Missbrauch – wie an der Odenwaldschule. Das Fazit: Geschlossene Systeme wie Internate, Heime oder Kirchengruppen sind für Missbrauch besonders anfällig.

Diese Talkrunde war sich sofort einig. Während sonst in solchen Runden polemisiert wird, ging es hier darum, ein Thema zu präzisieren. „Weggehört, weggeschaut – Warum war Missbrauch über Jahrzehnte möglich?“: So lautete die Frage des Abends. Gemeint ist der vielfache Missbrauch an den katholischen Gymnasien wie dem Aloisiuskolleg in Bonn oder dem Canisius-Kolleg in Berlin, der erst Jahre später, auch dank des damaligen Direktors Klaus Mertes, zur Sprache kam. Und natürlich der jahrelange Missbrauch von Internatsschülern in der Odenwaldschule, lange der Leuchtturm der Reformpädagogik in Hessen, liebevoll „OSO“ genannt. Der Fernsehfilm „Die Auserwählten“ über den Missbrauch in den 70er-Jahren an dieser OSO ging der Talksendung voran.

Dann wird es persönlich. Keine halbfiktiver Dokufilm, sondern eine wahre Missbrauchserfahrung. Den Anfang macht Adrian Koerfer, zwischen 1968 bis 1975 Schüler an der Odenwaldschule. Er lebte in der so genannten „Familie“ des Schuldirektors Gerold Becker, eines damals berühmten und geachteten Pädagogen, der sich zu seiner Homosexualität bekannte. Das Klima der Schule – scheinbar offen, ohne Hierarchien, Schüler und Lehrer auf Augenhöhe. Die 70er-Jahre, eine Zeit, in der die sexuelle Revolution losbricht. „Wir wussten, Gerold Becker duscht mit seinen Knaben“, wirft Tilman Jens in die Runde, der damals auch auf die Odenwaldschule ging, allerdings in einem anderen Haus lebte. Er entkam den Übergriffen. Aber Adrian Koerfer wurde missbraucht, immer und immer wieder. Von Direktor Gerold Becker, von anderen Lehrern. In diesem Klima des laissez-faire.

Als Koerfer 1975 Abitur machte und die Schule verließ, redet er mit seiner damaligen Freundin darüber. Die will sofort die Polizei anrufen. „Vergiss es, das glaubt uns kein Mensch“, sagt er ihr damals. Obwohl volljährig, denkt er noch kindlich. „Ich hatte die ganz naive Vorstellung, dass der Missbrauch aufhören würde, wenn ich weggehen würde.“ Mit seiner Missbrauchserfahrung setzt er sich nicht auseinander, er denkt, die sei einmalig gewesen. So sehr denkt er das, dass er 2005 seine eigene Tochter auf die Odenwald-Schule schickt. Verrückt?

Beide Gesichter

„Diese Schule war Himmel und Hölle“, bringt es Tilman Jens auf den Punkt. Freiheit wie nirgends sonst. Denkfreiheit. Bewegungsfreiheit. Und dann dieses Böse im Zentrum – der Direktor übergriffig, einer, der sich nimmt, was er will. Viele andere Lehrer auch. Es erwischt Jungen wie Mädchen. Niemand ist sicher.

Alice Schwarzer, an diesem Abend angenehm konkret und zurückgenommen, bringt es auf den Punkt. Das besonders „Infame“ an der Odenwaldschule sei gewesen, dass der Direktor und seine Lehrer alle Hierarchien leugneten. „Es wurde geduzt, miteinander getrunken“ – und dann miteinander ins Bett gegangen. Nach dem Motto, wir sind doch alle gleich, Lehrer und Schüler, alle locker drauf. „Dass dem Kind der Schutz, die Fürsorge verweigert wurde“, sagt Alice Schwarzer, das sei grauenhaft gewesen.

Geschlossene Systeme

Klar wird am Ende: Alle geschlossenen Systeme sind anfällig für Pädophilie, nicht an sich, sondern weil Pädophile so etwas suchen. Schulen, Internate, Sportvereine, Kirchenkreise. Eltern vertrauen ihre Kinder den Pädagogen, Trainern, Jugendarbeitern, Priestern an. Und die Kinder wenden sich vertrauensvoll an sie. Und wird ihr Vertrauen missbraucht, wird ihnen viel zu oft nicht geglaubt. „Das wird schon nicht so schlimm sein, das wirst du schon aushalten“, kriegten Odenwald-Schüler von ihren Eltern zu hören, wenn sie sich hilfesuchend an sie wandten. Zu gut war der Ruf der Schule. Zu links, zu fortschrittlich. Zu strahlend der Glanz des Direktors Gerold Becker.

Mindestens 20 Täter

132 Opfer der Odenwaldschule haben sich gemeldet. „Mindestens zwanzig Täter gab es“, sagt Adrian Koerfer, „mindestens.“ Bei der Hotline der Katholischen Kirche haben sich 1800 Missbrauchsopfer gemeldet. Und die meisten Missbräuche finden weiterhin in Familien statt. Die Täter sind oft genug Männer – und auch Frauen – mit Charme, die sich geschickt in die Herzen der Kinder schleichen. Was dann kommt, ist verheerend, es kann ein Leben zerstören.

Und die Lösung? Kontrolle. Niemandem zu viel Macht über Kinder geben, zu viel unkontrollierte Zeit mit ihnen allein. Und vor allem: den Kindern zu hören. Ihre Verstörung erkennen. Das wäre ein Anfang.