Günther Jonitz mischt sich ein. Nicht nur, wenn Berlins Ärzte für mehr Gehalt streiken. Der 56 Jahre alte gebürtige Münchner gilt als Experte in Fragen der Patientensicherheit. Jonitz, von Haus aus Chirurg, kam als Student nach Berlin und arbeitete zunächst am Krankenhaus Moabit. Seit fast 16 Jahren steht er an der Spitze der Berliner Ärztekammer. Er kennt die Probleme, sagt aber auch, dass die medizinische Versorgung der Berliner ausgesprochen gut ist. Dennoch sei der Senat gut beraten, wenn er die Krankenhäuser mit einem groß angelegten Sanierungsprogramm auf den neuesten Stand brächte. So könnte durch eingesparte Energie auf lange Sicht viel Geld gespart werden.
Berliner Morgenpost: Herr Dr. Jonitz, Berlin hat viele Arztpraxen, aber nicht an der richtigen Stelle. Kassenärztliche Vereinigung (KV) und Krankenversicherungen wollten die Verteilung gerechter organisieren. In diesem Monat wird der Zwischenbericht erwartet. Hat sich in den schlecht versorgten Gebieten etwas verändert?
Dr. Günther Jonitz: Es zeichnet sich eine Trendwende ab. Es ist zu erkennen, dass Arztpraxen im Osten und sozial schwachen Gebieten aufmachen und im wohlhabenden Westen nicht wieder eins zu eins besetzt werden, wenn sie beispielsweise aus Altersgründen aufgegeben werden.
Aber Haus- und Kinderärzte dürfen doch sowieso in den wohlhabenderen Gegenden inzwischen keine neuen Praxen mehr gründen. Greift diese Reglementierung nicht zu sehr in die Niederlassungsfreiheit der Ärzte ein?
Die Kriterien sind nicht in Stein gemeißelt. Es gibt auch einen Ermessensspielraum. So kann eben auch entschieden werden, dass sich Ärzte wieder dort verstärkt niederlassen, wo Bedarf ist und den Patienten lange Wege erspart bleiben. Sie haben exakt das gleiche Problem bei den Krankenhäusern in Berlin. Im wohlhabenden Südwesten Berlins können Sie mit dem Fahrrad gleich mehrere Kliniken erreichen. Je weiter Sie in den Osten kommen, desto schwieriger wird es.
Hat die hohe Belastung der Notaufnahmen auch mit der schlechten Verteilung der Praxen zu tun? Immerhin könnten von den 1,2 Millionen Patienten in Berliner Rettungsstellen 800.000 auch von einem niedergelassenen Arzt versorgt werden.
Das ist weniger die Frage der Verteilung der Praxen als ein Beweis für den sehr hohen Standard der medizinischen Versorgung, den wir in den Berliner Krankenhäusern haben. Bei allen Problemen, die es gibt, kenne ich dennoch kein anderes Bundesland, in dem die Patienten besser versorgt werden. Die Berliner – im Osten wie im Westen – sind es gewöhnt, dass eine sehr hohe Dichte an Krankenhäusern da ist. Und dass sie dort umfassend versorgt werden. Sie haben in der Regel schnell einen Doktor, eine freundliche Schwester und innerhalb von ein oder zwei Stunden im Idealfall drei Fachdisziplinen gesehen, inklusive Labor, Röntgen und Sonografie. Das ist ein grandioser Anreiz.
Verkraften die Kliniken den Ansturm denn personell?
Mittlerweile leiden auch die Berliner Krankenhäuser massiv unter den Sparzwängen, auch in den Rettungsstellen. Sie haben sehr häufig nachts in den Krankenhäusern keine Fachärzte mehr vor Ort. Sie können an einer Hand abzählen, wo sie nachts in Berlin einen Bauchchirurgen finden, wenn Sie ein Problem haben.
Mario Czaja möchte die Bereitschaftsdienstpraxen an Krankenhäusern ausbauen, um die Rettungsstellen zu entlasten. Könnte das eine Lösung sein?
Die Idee hat Charme. Niedergelassene Ärzte, die dann am Krankenhaus arbeiten, könnten davon profitieren, dass sie leichteren Zugang zu den Ressourcen des Krankenhauses haben. EKG, Röntgen, Labor, andere Berufsgruppen.
Der neue Krankenhausplan sieht vor, dass Ärzte in den Rettungsstellen in Zukunft besser qualifiziert sein sollen.
Da haben wir als Ärztekammer Berlin mit einer Fachqualifikation und speziellen Zusatzweiterbildungen für klinische Akut- und Notfallmedizin nachgelegt. Das ist deutschlandweit ein Novum und könnte perspektivisch eines der Erfolgsrezepte der Berliner Gesundheitspolitik sein: nicht zu überlegen, wo Geld gespart werden kann durch Krankenhausschließungen, sondern die Fragen der medizinischen Probleme aktiv zu lösen.
Der Bundestag debattiert nach der Sommerpause darüber, wie Sterbehilfe künftig geregelt sein soll. Wie soll sie geregelt sein?
Man muss sich zuerst mal klar machen: Es geht nicht darum, dass die Menschen keine Lust mehr haben zu leben oder dass sie ihren Kindern nicht zur Last fallen wollen. Es geht darum, dass sie nicht leiden wollen. Wir Ärzte haben die Aufgabe, Leben zu erhalten und es vor allem auch lebenswert zu gestalten. Deswegen müssen wir alles tun, um die Palliativmedizin entsprechend aufzurüsten.
Medizinisch?
Auch, aber die guten Palliativmediziner sind mittlerweile so weit, dass sie mit ihren Patienten einen Lebensplan machen. Dass die Menschen zur Vollendung bringen können, was sie zur Vollendung bringen wollten. Das ist im besten Sinn humane Lebensgestaltung. Und nur eine verschwindend geringe Zahl ist von dem Thema Sterbehilfe wirklich betroffen.
Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, möchte das Verbot des ärztlich assistierten Suizids in die Musterberufsordnung aufnehmen. Was halten Sie davon?
Ich sehe das differenzierter als der Präsident der Bundesärztekammer. Denn man kann einen Arzt nicht schlechter stellen als jeden anderen. Nach Strafgesetzbuch ist Beihilfe zum Suizid nicht strafbar, deswegen können wir unsere berufsrechtlichen Vorschriften nicht strenger regeln. Aber wenn man ehrlich ist, sind die wenigen Fälle, um die es hier geht, sowieso meist schon geregelt.
Wie meinen Sie das?
Wenn Sie als Arzt von Ihrem langjährigen Patienten wissen, der will und kann definitiv nicht mehr und Sie dann mitbekommen, dass der Patient seine Medikamente nicht mehr nimmt und stattdessen in der Schublade sammelt – das können Sie auch einfach nicht gesehen haben. Diese Entscheidung ist extrem schwer, extrem sensibel und kann nur auf der Basis tiefsten Vertrauens im Einzelfall geregelt werden.
Sie haben im Zusammenhang mit den möglichen Manipulationen am Herzzentrum Berlin gefordert, die Kriterien der Organvergabe zu verändern – weg von der Schwere der Erkrankung hin zu der Orientierung an der Lebenserwartung des Patienten.
Sie haben vom Gesetz her Kriterien, die schon in sich widersprüchlich sind. Die Organe sollen vergeben werden nach den Kriterien der Dringlichkeit und des Nutzens für den Patienten. Dringlich ist ein Organ für jemanden, der im Sterben liegt. Erhält er das Organ hat er von allen Empfängern die geringste Lebenserwartung. Den größten Nutzen hat derjenige, dem ich mit der Diagnose eines kranken Herzens frühzeitig ein neues Organ gebe. Er hat die beste Lebenserwartung.
Das heißt, besonders kranken Menschen lohnt es weniger, zu helfen?
Das ist das klassische Dilemma der Ärzte. Sie haben einen Operationssaal für zwei Patienten. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie die Mutter von vier Kindern oder den Nobelpreisträger für Literatur behandeln. Medizin ist nie eine reine Mathematik. Aber in Deutschland hatten wir bis vor wenigen Jahren den Umstand, dass über 80 Prozent der Herzen an Menschen vergeben wurden, die im Sterben lagen. Das ist ein deutliches Signal.
Der Arzt gilt als derjenige in der Gesellschaft, der Gutes tun will. Wie erklären Sie den Menschen Vorfälle wie am Herzzentrum?
Die Ärzte in der Transplantationsmedizin haben immer mit Menschen zu tun, die um ihr Leben ringen. Und die gucken ihnen jeden Tag mit großen Augen in die eigenen und fragen, Herr Doktor, was ist denn jetzt? Komme ich auf die Warteliste, wo stehe ich denn? So, und das halten Sie mal aus. Also primär, ganz schlicht, weil die Ärzte im Sinne ihrer Patienten handeln. Das System der Organvergabe ist seelenlos. Es ist völlig egal, ob der Patient in Kiel, in Antwerpen oder in der Uckermark liegt. Aber als Arzt fühle ich mich den Patienten gegenüber verantwortlich, an deren Bett ich stehe. Deswegen muss man sich auch über das Vergabeverfahren Gedanken machen. Es sollte beispielsweise, wie früher einmal, über eine regionale Komponente nachgedacht werden.
Würde die Spendenbereitschaft, die ja seit Jahren zurückgeht, dann Ihrer Meinung nach steigen?
Natürlich. Und warum sollte ein Transplantationszentrum in Berlin intensiv Reklame machen bei allen Berliner Krankenhäusern und darum bitten, zu spenden, wenn die Organe dann irgendwo anders hingehen.
Der Senat hat diese Woche beschlossen, die Krankenhausförderung auf Investitionspauschalen umzustellen. Bislang wurden Investitionen vom Land einzeln gefördert. Was halten Sie davon?
Es ist sinnvoll, dass die Krankenhäuser durch Pauschalen eine verlässliche Planungsgrundlage haben. Ob sie sich davon Betten anschaffen oder ein CT, ist dann im Prinzip egal. Aber es wird interessant sein, wie Gesundheitssenator Mario Czaja konkret die Förderung umstellt. Denn solange Krankenhäuser ein Bereich der Daseinsvorsorge sind, und der Staat mit Steuermitteln dafür sorgen muss, dass die Versorgung funktioniert, solange wird sich das Land eine Steuerungsfunktion nicht nehmen lassen. Czaja am allerwenigsten.
Was würde sich verändern?
Es würde sehr viel Verwaltung und Zuteilungsaufwand reduziert. Die Leute werden berichten, was sie mit dem Geld gemacht haben. Dann wird man sehen, ob es gut oder schlecht war. Aus beidem kann man lernen.
Welche Gefahr könnte damit verbunden sein?
Die Pauschale fördert automatisch die großen Kliniken mehr und die kleinen weniger. Aber es ist nicht so, dass die großen automatisch besser sind, geschweige denn effizienter arbeiten. Wir haben in Berlin keine Klitschen mehr, Sie finden überall eine hochkarätige Versorgung. Entscheidend für den Patienten ist sowieso die ärztliche Fachkompetenz und weniger das Krankenhaus. Menschen machen Menschen gesund.
Das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) hat berechnet, dass Berliner Krankenhäuser einen jährlichen Investitionsbedarf von 219 Millionen Euro haben. Sie erhalten in diesem Jahr nur rund 70 Millionen Euro. Gibt es dadurch Probleme?
Nun, in die Rettungsstelle des Klinikums Neukölln hat es reingeregnet. Und das Klinikum ist noch nicht einmal so alt. Und wenn Sie manche Krankenhausflure betreten, fragen Sie sich auch, ob die kürzeren Liegezeiten damit zu tun haben, dass die Patienten möglichst schnell wieder raus wollen. Wir sind nicht überall im Gold-Standard angekommen.
Wo muss dringend investiert werden?
Mit einem groß angelegten Programm für die energetische Sanierung könnte auf lange Sicht viel Geld gespart werden. Die gestiegenen Energiekosten sind ein Problem. Doch das ist eine politische Entscheidung auf Senatsebene. Den laufenden Betrieb zahlen die Krankenkassen, aber für die Infrastruktur ist der Staat zuständig. Die öffentliche Hand hat sich längst aus diesen Verpflichtungen schleichend herausgezogen.
Aber irgendwie muss der Betrieb ja laufen.
Die Krankenhäuser haben mehr und mehr gelernt, das Geld, das sie von den Kassen für die Patientenversorgung erhalten, abzuzweigen, um mal ein Haus zu bauen, einen Teppich neu zu verlegen oder ein Gerät zu kaufen. Die öffentliche Hand kommt ihren Verpflichtungen auch in Berlin in hohem Maße nicht nach. Gleichwohl sind die Mitarbeiter Belastungen gewöhnt und tragen das mit einer latent zornigen Gelassenheit nach dem Motto: Das kriegen wir jetzt auch noch hin. Die Gretchenfrage ist dabei wirklich, warum soviel in einen seltsamen Flughafen investiert wird und die Krankenhäuser vergleichsweise wenig erhalten.
Wird sich daran irgendwann etwas ändern?
Ja, denn den Grad an Humanität und Solidarität einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Das beginnt bei Obdachlosigkeit und geht weiter bei Alten und Kranken. Alleine durch den demografischen Wandel und die Zunahme von chronischen Krankheiten wird es sich keine Politik leisten können, in dem Bereich noch mehr zu sparen als ohnehin schon.