Der Aufruf wirkt zynisch: Für „Eine sichere Zukunft aller Juden“ ist darauf zu lesen. Und: „Gemeinsam gegen Antisemitismus“. Das klingt gut. Doch beim näheren Blick auf den Text dürfte das Wohlwollen vieler Leser in Fassungslosigkeit umschlagen. Denn die Verfasser rufen nicht zu einer Solidaritätskundgebung für die in Deutschland oder Israel lebenden Juden auf – sondern zur alljährlichen Demonstration am sogenannten Al-Kuds-Tag. Zu jener Kundgebung, auf der in früheren Jahren immer wieder antisemitische Parolen zu hören waren. An dem Tag, der 1979 vom islamistischen iranischen Revolutionsführer Ayatollah Chomeini ins Leben gerufen worden war und der in der arabischen Welt für Massenaufmärsche genutzt wird, bei denen Teilnehmer die „Befreiung Jerusalems von den zionistischen Besatzern“ oder die Vernichtung Israels fordern.
Auch in Berlin hatten Kundgebungen zum Al-Kuds-Tag für Schlagzeilen gesorgt. Im Jahr 2002 hatte ein Vater seine Tochter sogar mit einem umgebundenen Sprengstoffgürtel als Selbstmordattentäterin verkleidet. In den vergangenen Jahren war es allerdings ruhiger geworden. Zuletzt kamen zu den Kundgebungen nur noch wenige hundert Teilnehmer.
In diesem Jahr ist das anders. Denn nach der israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen ist die Stimmung auch in Berlin aufgeheizt. Viele palästinensischstämmige Berliner haben Verwandte im Nahen Osten, die unter dem Konflikt leiden. Die Bilder getöteter Zivilisten sorgen dafür, dass auch Palästinenser, die schon seit Generationen in Deutschland leben, sich am heutigen Freitag der Demonstration anschließen wollen. Hinzu kommt die häufig in Aggressivität umgeschlagene Emotionalität vieler junger Männer. Mit den „Widerstandskämpfern“ der Hamas identifizieren sie sich weniger aus persönlicher Betroffenheit – sondern, um sich von der „westlichen“ Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, von der sie sich diskriminiert fühlen.
Die Wut über die Politik der israelischen Netanjahu-Regierung, persönliche Betroffenheit, die Macht der Bilder und die Suche einiger Jugendlicher nach einem Ventil für individuellen oder kollektiven Frust: All das hat in den vergangenen Tagen zu dem geführt, was der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, als „ekelhaft und bösartig“ und als „ganz gemeinen Judenhass“ bezeichnet hat. Was er gemeint hat, ist in Youtube-Clips zu sehen: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf’ allein“, skandierte eine aufgebrachte Menge vergangene Woche in der West-Berliner City. Auch der kollektive Ruf „Kindermörder Israel“ war bei der Demonstration zu hören.
Bisher brach sich der Antisemitismus auf kleineren Demonstrationen Bahn. Einige waren von Vereinen angemeldet worden, die als Hamas-Sympathisanten gelten. Zentral gesteuert waren die Proteste in Berlin bislang aber nicht. Auch die Veranstalter der Kundgebung zum Al-Kuds-Tag könnten unter normalen Umständen nicht alle Gruppen erreichen, bei denen Kritik an Israel mitunter in Hass und Antisemitismus umschlägt. Denn von den Aufrufen der vom Verfassungsschutz beobachteten „Quds-AG“ des Berliner Vereins Islamische Gemeinde der Iraner in Berlin-Brandenburg fühlen sich traditionellermaßen vor allem radikale schiitische Muslime angesprochen, die mit der aus dem Libanon agierenden Hisbollah sympathisieren. Die Mehrheit der Muslime in Berlin ist aber sunnitisch – und die radikaleren der rund 30.000 Palästinenser in der Stadt orientieren sich, wenn sie einen Bezug zum Gaza-Streifen haben, an der dort herrschenden Hamas.
Aufmarsch soll am Adenauerplatz beginnen
Angesichts der aufgeheizten Stimmung könnten beim Al-Kuds-Tag am Freitag aber Gruppen zusammengeführt werden, die sonst Distanz zueinander halten. Die beiden größten Dachverbände der türkischstämmigen Muslime in Berlin, die DITIB und die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, versuchen daher gegenzusteuern. Sie haben alle Berliner zu einer Demonstration für diesen Sonnabend aufgerufen – ein Versuch, der radikalen Al-Kuds-Demonstration das Wasser abzugraben und den Protest gegen die Gaza-Offensive in geordnete Bahnen zu lenken.
Die Veranstalter der Al-Kuds-Demo rechnen dennoch mit 1500 Teilnehmern. Das wären deutlich mehr als in den Jahren zuvor. Der Aufmarsch soll um 14.30 Uhr am Adenauerplatz beginnen. Die Strecke führt dann durch die City West bis zum Breitscheidplatz. An der Kreuzung Joachimstaler Straße soll es einen Zwischenstopp und eine erste Kundgebung geben.
Die Sicherheitsbehörden sprechen von einer „konkreten Gefährdungserhöhung von israelischen Einrichtungen“. Die Polizei rechnet zwischen 14.30 Uhr und 18.30 Uhr mit großen Verkehrseinschränkungen und will „ausreichend Kräfte“ einsetzen. Angekündigt sind auch Gegendemonstrationen, unter anderem am George-Grosz-Platz und an der Kreuzung Kurfürstendamm, Brandenburgische Straße. Die Parole „Jude, Jude, feiges Schwein“ hatte die Polizei nach massiven Protesten bereits am Dienstag verboten.
200 Menschen bei Demo am Donnerstagabend
Auch am Donnerstagabend bekundeten mehr als 200 Menschen ihre Solidarität mit den Palästinensern im Gazastreifen. Redner verurteilten am Donnerstagabend am Kottbusser Tor die israelischen Militäraktionen gegen die radikal-islamische Hamas, bei denen bisher mehrere hundert Menschen zu Tode kamen, darunter ganze Familien.
Einen Protestzug durch das Stadtviertel ließ die Versammlungsbehörde nicht zu, wie eine Polizeisprecherin mitteilte. Die Kundgebungsteilnehmer waren aufgefordert worden, antisemitische Parolen zu unterlassen. Für Mitternacht war am Hermannplatz eine weitere Kundgebung mit Kerzen zum Gedenken an die Opfer israelischer Bombardements in Gaza angemeldet.
Wowereit und Henkel sind besorgt
Auch die Berliner Politiker sind besorgt. Die Kundgebungen dürften nicht für antisemitische Propaganda genutzt werden, warnte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) am Donnerstag. Das Demonstrationsrecht dürfe niemals „den Vorwand für das Skandieren antisemitischer Hetzparolen oder Gewaltaktionen bieten“, sagte Wowereit. Innensenator Frank Henkel (CDU) sagte, die Sicherheitsbehörden würden gegen antisemitische Vorfälle konsequent vorgehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ erklären, antisemitische Straftaten würden konsequent verfolgt. Bundespräsident Joachim Gauck hatte den Juden in Deutschland bereits am Mittwoch seine Solidarität ausgesprochen.
Die Jüdische Gemeinde Berlin forderte die Berliner auf, antisemitische Aufrufe nicht hinzunehmen. „Es darf nicht sein, dass Juden in dieser Stadt wieder Angst um ihr Leben haben müssen“, heißt in einem Appell führender Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde. Die Muslime baten die Gemeindevertreter um Solidarität. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, hatte mitgeteilt: „Wer Judenhass predigt oder meint, im Zuge des Gaza-Krieges Antisemitismus verbreiten zu müssen, bewegt sich außerhalb unserer Gemeinden.“ Der Liberal Islamische Bund teilte mit: „Wir rufen alle Musliminnen und Muslime zu einer notwendigen Differenzierung zwischen Judentum, Menschen jüdischen Glaubens und der Politik des Staates Israel auf.“