„Augen auf, unsere Kinder gehen drauf“, skandieren die aufgebrachten Demonstranten. Wie zum Beweis haben sie ihre Kinder mitgebracht, ihnen rote Farbe auf die Kleidung gemalt und sie zusammen mit rot verschmierten Puppen auf den Boden gelegt.
Bei einer Demonstration gegen die israelische Militäroffensive im Gaza-Streifen ziehen am Dienstag rund 350 Menschen vom Potsdamer Platz bis kurz vor das Brandenburger Tor. Die Demonstranten rufen „Merkel, warum kein Wort? Völkermord ist Völkermord“. Auf Transparenten wird Israel des Mordes bezichtigt.
So geschah es auch am Montag: Auf einem Plakat sind verwundete Kinder zu sehen und die Worte: „Kindermörder Israel“. Ein palästinensischer Mann schreit: „Sie schießen Raketen und Bomben auf uns.“ Dann sagt der etwa 50-Jährige: „Juden sind alle Hurensöhne“.
Ein palästinensischer Ordner fordert den Mann auf, die Demonstration zu verlassen: „Sofort!“, sagt er. „Ich will Sie hier nicht mehr haben.“ Doch die Menge schreit ihn nieder. Ein Polizist will die Demonstranten beruhigen. Er ist aber auf sich gestellt und wirkt hilflos.
Die Szene spielte sich bei einer Demonstration vor der israelischen Botschaft ab. Ähnliche Situationen gab es bei Kundgebungen in der vergangenen Woche: „Jude, Jude, feiges Schwein. Komm’ heraus und kämpf’ allein“, skandierten dort mehrere Jugendliche. Oder: „Kindermörder Netanjahu“. Am Sonnabend musste die Polizei einen Übergriff auf ein jüdisches Touristenpaar verhindern.
Antisemitische Parolen an der Tagesordnung
Nach der israelischen Offensive im Gazastreifen und der Veröffentlichung grausamer Bilder von palästinensischen Opfern scheint bei immer mehr palästinensischstämmigen Berlinern eine Hemmschwelle zu fallen. Antisemitische Parolen sind bei Protestmärschen fast an der Tagesordnung. Die Grenze zwischen legitimer Kritik an der Politik und blankem demagogischen Antisemitismus verschwimmt.
Was aber treibt die palästinensischstämmigen Berliner und ihre Sympathisanten zu dem, was der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, als „ekelhaft und bösartig“ und als „ganz gemeinen Judenhass“ bezeichnet?“
Ein „neuer Antisemitismus“ ist es nicht, wohl aber „eine erschreckende Form, die immer wieder aufbricht“, sagt Bernd Palenda, Chef des Berliner Verfassungsschutzes. Die „Bilder des Schreckens“ aus Gaza würden zur Stimmungsmache genutzt.
„Zusammenrottung erlebnisorientierter Jugendlicher“
Der Islamwissenschaftler Hannes Bode von der Universität Halle hat viele propalästinensische Demonstrationen, bei denen es antisemitische Ausfälle gab, beobachtet. Er bezeichnet sie als „Facebook-gestützte Zusammenrottung erlebnisorientierter Jugendlicher“, die vom Konflikt oft nicht unmittelbar betroffen seien.
Viele würden sich mit den vermeintlichen „Widerstandskämpfern“ militanter islamistischer Gruppen wie der Hamas und der Hisbollah identifizieren – genauso wie mit Idolen aus deutschen Rapvideos. Den meisten ginge es, trotz „Allahu akbar“-Rufen (Gott ist größer), aber nicht um Religion.
„Die pseudo-religiöse Komponente des Protests dient dazu, die eigene Identität zu stärken und dem Gefühl, als ‚Ausländer‘ in der Diaspora diskriminiert zu werden, etwas entgegen zu setzen.“ Israel und „die Juden“ dienten den Jugendlichen als Projektionsfläche für „das Böse“. „Die im antisemitischen Protest angelegte Gewalt, die in den Parolen zum Ausdruck kommt, verspricht Ermächtigung.“
Rund 30.000 Palästinenser leben in Berlin
Die Extremismus-Expertin Claudia Dantschke vom Berliner „Zentrum Demokratische Kultur“ verweist zudem auf die hohe Zahl von Palästinensern in Berlin. Schätzungen zufolge sind es rund 30.000. Ihre Familiengeschichte ist oft eng mit dem Nahost-Konflikt verbunden.
Viele Jugendliche würden die Hintergründe des Konfliktes allerdings oft nicht verstehen. „Sie werden permanent mit einer Schwarz-Weiß-Sicht der Dinge konfrontiert und identifizieren sich damit“, sagt Dantschke. „Es gibt unter arabischen und palästinensischen und auch türkischen Migranten kein anderes Thema, was so viele unterschiedliche Leute auf die Beine bringt“, sagt Dantschke.
Zentral gesteuert werden die Proteste nicht, da sind sich Verfassungsschutz und andere Beobachter einig. Einige Demonstrationen wurden dagegen von Gruppierungen angemeldet, die als Anhänger der Hamas gelten.
Ermittlungen gegen Hassprediger
In die Schlagzeilen geriet zuletzt die Neuköllner Al-Nur-Moschee. Ein arabischstämmiger Gast-Prediger aus Dänemark bezeichnete Juden dort als „Schlächter des Propheten“. Er „betete“ dafür, dass Allah die am Konflikt beteiligten Juden töten möge. Der Staatsschutz hat Ermittlungen wegen Volksverhetzung aufgenommen.
Mit Sorge blicken die Sicherheitsbehörden nun auf Freitag – wenn die jährliche Al-Quds-Demonstration vom Adenauerplatz über den Kurfürstendamm führen soll. In vergangenen Jahren waren dabei antisemitische Parolen zu hören. Die Demonstranten stehen zwar eher der schiitischen Hisbollah nahe als der in Gaza operierenden sunnitischen Hamas. Angesichts der aufgeheizten Stimmung könnten die unterschiedlichen Gruppen aber zusammenfinden.
Um antisemitischen Parolen etwas entgegenzusetzen, könnte die Politik, im Rahmen des Grundgesetzes, das Versammlungsgesetz ändern. Denn im Zuge der Föderalismuskommission ist die Zuständigkeit dafür auf die Länder übergegangen. Bis zur Verabschiedung eigener Gesetze gilt in Berlin aber das Bundesversammlungsgesetz weiter.