Morgenpost Online: Herr Gude, Sie haben zuletzt 2008 die Strukturen im Wrangel-Kiez erforscht und arbeiten zurzeit in Nord-Neukölln. Vor zehn Jahren hieß es ja noch, das ist eine Gegend voller Gangs, da geht man nicht hin. Mittlerweile reden alle von Gentrifizierung. Was ist richtig?
Sigmar Gude: Das war vor zehn Jahren so falsch wie die Behauptung vor vier Jahren, dass dort schon die große Gentrifizierung eingesetzt hätte. Wir haben festgestellt, dass junge Leute mit niedrigem Einkommen in diese Gebiet zu ziehen, weil es Ausweichgebiete wie in den 90er-Jahren, also Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain, nicht mehr gibt. Damals war Kreuzberg relativ teuer und nicht mehr so angesagt. Aber inzwischen gehen die Leute wieder nach Kreuzberg. Wir haben 2008 im Kreuzberg das festgestellt, was wir derzeit auch in Nord-Neukölln sehen: Die etwas weniger Armen streiten sich mit den ganz Armen um den Wohnraum.
Morgenpost Online: Aber wenn man die Wohnungsangebote liest, hat man einen anderen Eindruck. Nirgendwo sonst sind die Mieten bei Neuvermietung stärker gestiegen als rund um den Görlitzer Park.
Sigmar Gude: Ein bisschen verschärft hat sich die Tendenz. Aber wir haben überall in Berlin einen angespannten Wohnungsmarkt. In Nord-Neukölln sind die Mieten deutlich stärker gestiegen als in SO36 (der ehemalige Postzustellbezirk, der den Nordosten Kreuzbergs umfasst, die Red.).
Morgenpost Online: Aber man wollte doch immer eine Aufwertung man in Gegenden wie Nord-Neukölln oder dem Wrangel-Kiez?
Sigmar Gude: Es kommen junge Leute. Ob sie in Nord-Neukölln bleiben, wenn sie sich richtig etabliert haben, bezweifele ich. Im Wrangel-Kiez war das anders. Leute, die dort heute mit einem vernünftigen Einkommen wohnen, sind oft schon als Studenten dorthin gezogen. Die haben damals eine schöne Wohnung bekommen, sie sich ausgebaut und dann beschlossen, dort wohnen zu bleiben. Das Gebiet hatte ja immer Qualitäten für Leute, die einen innerstädtischen Kiez wollen. Aber ob wirklich reiche Leute in großer Zahl in den Wrangel-Kiez ziehen, bezweifele ich. Ich rechne zwar mit einer weiteren Verschärfung auf dem Wohnungsmarkt, aber nicht mit einer grundsätzlichen Umstrukturierung der Bevölkerung.
Morgenpost Online: Warum ist die Stimmung in Kreuzberg immer so aufgeregt, wenn irgendetwas Neues passieren soll im Stadtteil?
Sigmar Gude: Das hängt mit der Geschichte zusammen. Die Leute sagen, sie haben das herunter gekommen Gebiet in den 80er-Jahren vor dem Abriss gerettet und erobert, mit Hausbesetzungen und Projekthäusern. Niemand sonst war an diesem Stadtteil interessiert. Jetzt stellen sie fest, dass andere auch auf diesen Stadtteil zugreifen wollen.
Morgenpost Online: Ist deswegen der Widerstandsgeist dort ausgeprägter als in anderen Bezirken?
Sigmar Gude: In Kreuzberg gibt es eben noch eine Vernetzung von Leuten, die solche Diskussionen und Widerstände hervorbringt. In Prenzlauer Berg sind die alle verschwunden. Es gibt diese Gruppen, sie haben Kontakt untereinander und können sich aktivieren. Deswegen hat auch die Initiative gegen die Mediaspree Erfolg gehabt.
Morgenpost Online: Und jetzt hat man sich das Guggenheim Lab als Kampffeld ausgesucht, weil man gegen größere Vorhaben wie Mercedes am anderen Spreeufer oder gegen die O2-World nichts machen kann?
Sigmar Gude: Es bricht immer an verschiedenen Stellen aus. Die Frage ist, welche Ängste berechtigt sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Guggenheim Lab Mieterhöhungen bewirken würde. Die Mietentwicklung gab es vor dem Lab und sie wird es danach geben. Wir haben aber weltweit eine Diskussion unter dem Label „reclaim the city“: Wer bestimmt, was im öffentlichen Raum passiert. Diese Debatte hat sich an den vielen Einkaufszentren entzündet, wo Private im öffentlichen Raum mitbestimmen. Da sind viele Leute sehr sensibilisiert.
Morgenpost Online: Werden wirklich Leute in großer Zahl aus der Innenstadt verdrängt?
Sigmar Gude: In Friedrichshain und Prenzlauer Berg sind tatsächlich in Zusammenhang mit unfangreicher Modernisierung, durch Bauarbeiten, durch Geldzahlung oder durch Druck Leute verdrängt worden.
Morgenpost Online: Und in Kreuzberg und Nord-Neukölln?
Sigmar Gude: Hier passiert Verdrängung eher strukturell. Wer umziehen will, findet nichts Neues in der Gegend. Wenn ein armer Haushalt wegzieht, kann kein armer Haushalt mehr nachkommen. Gerade die Kreuzberger Szene besteht zu großen Teilen aus prekären Selbstständigen. Die sind gut ausgebildet, verdienen aber wenig. Sie haben erlebt, wie seit Mitte der 90er-Jahre die Mieten in SO 36 von einem niedrigen Niveau stark angestiegen sind. Jetzt sind sie an einer Grenze. Viele haben sehr konkrete Angst. Wenn der Mietspiegel noch einmal steigt und der Vermieter diesen Spielraum auch einfordert, dann trifft es mich vielleicht, dann muss ich wirklich gehen. Und wenn Leute, die ohnehin schon knapp sind, 20, 25 Euro mehr bezahlen sollen, müssen sie sich einschränken. Das wiegt deswegen dort schwer, weil es in Kreuzberg und Nord-Neukölln eben immer noch einen hohen Anteil ärmerer Bevölkerung gibt.
Morgenpost Online: Ist das ein natürlicher Prozess in einer Metropole? Es heißt ja immer, in München oder Frankfurt sei das schon längst so, worüber beschwert ihr euch?
Sigmar Gude: In Großstädten gibt es nichts Natürliches. Die Frage ist, ob diese Prozesse Berlin voranbringen. Ich bin skeptisch, ob es sinnvoll ist, wenn wir die Kieze ständig durchmischen und immer wieder Leute aussondern, anstatt eine gewisse Stabilität in die Stadtteile zu bringen. Die Wohnungswirtschaft behauptet immer, das sei eine wirtschaftlich sinnvolle Allokation der Ressourcen. Aber das stimmt nur für die Wohnungswirtschaft, nicht für die öffentliche Hand. Die ist immer von den Nachfolgekosten betroffen.
Morgenpost Online: Profitiert nicht auch die ansässige Bevölkerung von dem Prozess, indem sie Läden eröffnen oder bessere Jobs finden können?
Sigmar Gude: In sehr geringem Umfang. In Berlin ist der Zusammenhang zwischen Arbeits- und Wohnort seit dem Bau der S-Bahn nicht mehr vorhanden.
Morgenpost Online: Was können Bezirk und Senat tun, um den Prozess der Aufwertung zu steuern?
Sigmar Gude: Wenig. In unserer Wirtschaftsordnung sind solche Mietentwicklungen kaum zu begrenzen. Aber der Senat hat eben auch lange gesagt, es gebe das Problem nicht. Jetzt stellt man plötzlich fest, dass uns 30.000 Wohnungen fehlen.
Morgenpost Online: Vor allem 30.000 günstige Wohnungen.
Sigmar Gude: Viele glauben ja, wenn wir im oberen Preissegment neu bauen, dann ziehen dort die Reichen hin und machen unten billige Wohnungen frei. Aber das Dumme ist: Auch die Reichen zahlen gerne wenig Miete. Wir haben vor acht Jahren eine Studie für den Senat gemacht und festgestellt, dass der preiswerte Wohnungsmarkt zur Hälfte von Leuten belegt ist, die ein deutlich höheres Einkommen haben. Die Armen hatten damals schon kaum eine Möglichkeit, an solche Wohnungen zu kommen, weil Vermieter lieber solvente Mieter nehmen.
Morgenpost Online: Hat Berlin den Punkt verpasst, an dem man den Prozess hätte bremsen können?
Sigmar Gude: Man hat die Entwicklung verschlafen. Unsere Studie ist damals in der Versenkung verschwunden. Jetzt muss man dringend handeln, sonst wird diese Art von Konflikten zunehmen. In fast allen Kiezen haben die Menschen den Eindruck, dass die Mieten steigen und es Gentrifizierung gibt. Die Angst ist weit verbreitet und wird zunehmen. Derzeit ist weltweit viel billiges Geld unterwegs, das nach Anlagemöglichkeiten sucht. Die Investoren hören, in Berlin sind die Mieten billig, sie hoffen, durch Mieterhöhungen einen guten Schnitt zu machen. Das wird in dieser Stadt mit den niedrigen Einkommen problematisch. Denn auch die Zuwanderer haben meist keine hohen Einkommen. Wir haben nicht Massen von Leuten, die teurere Wohnungen leicht bezahlen könnten und ganz Kreuzberg oder Nord-Neukölln gentrifizieren. Aber der Druck auf die vorhandenen Haushalte wird zunehmen, auch wenn sie nicht sofort ausziehen müssen.