Den ersten Auftritt der Piraten in einem bundesdeutschen Parlament hat die Jüngste: Susanne Graf, 19 Jahre alt, darf die Abgeordneten der 17. Legislaturperiode in der konstituierenden Sitzung aufrufen. „Wolfgang Albers, Linke, Turgut Altug, Grüne“, beginnt die Studentin mit dem Schal in der leuchtend orange Piratenfarbe das Ritual. Dann weiter mit fester Stimme: „Michael Arndt, SPD. Ich soll dazu sagen, er ist auf dem Weg hierher“, sagt Graf. Gelächter im weiten Halbrund. Die Neulinge auf der parlamentarischen Bühne haben am Donnerstag den Etablierten die Schau gestohlen. Besonders Gerwald Claus, ein Hüne von einem Mann in orangefarbener Latzhose und blau-weißem Kopftuch, gibt Interview um Interview, nachdem er versucht hatte, mit einer drei Meter hohen Piratenfahne in den Preußischen Landtag zu gelangen. Al-Dschasira, japanisches TV, holländische Dokumentarfilmer, sie alle zeigen den Bilderbuchpiraten, der sein Outfit erklärt: „Ich trage die Latzhose als Arbeitskleidung“, so der Kommunikationselektroniker, der seine proletarische Herkunft betont: „Alle Latzhosenträger zusammen können nicht so viel Schaden anrichten wie ein Anzugträger, der an der falschen Stelle sitzt.“
Wenn Piraten Anzüge tragen, dann so wie Christopher Lauer. Der erscheint zwar im Dreiteiler, aber die Krawatte hat er sich statt um den Hals ums Handgelenk geschlungen.
Die alteingessenen Politiker reagieren mit einer Mischung aus Neid und Gelassenheit auf den Medienauflauf rund um die neuen Kollegen. „Jeder Journalist hat mich nach den Piraten gefragt“, sagt der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) leicht genervt. „Aber wir haben hier schon ganz andere Erscheinungen gehabt als die Piraten“, erinnert sich Wowereit an seine langen Erfahrungen als Parlamentarier.
Die Piraten wollen es bei ihrer ersten Sitzung jedoch nicht darauf bewenden lassen, Wlan-Netze im Plenum zu installieren und die Hausordnung zu testen. Das bleibt eine Episode: Saaldiener weisen Simon Kowalewski darauf hin, dass er seinen Piratenhut nicht im Plenarsaal tragen solle. Das Tuch des Kollegen Claus lassen sie jedoch durchgehen. Offensichtlich hat niemand Lust auf eine Kopftuchdebatte.
Aber die Piraten dominieren die erste Sitzung auch inhaltlich. In einem für die anderen Fraktionen überraschenden Antrag fordern sie, die Geschäftsordnung zu ändern, auch kleinen Fraktionen einen Parlamentsvizepräsidenten zu geben und die Rechte einzelner Abgeordneter zu stärken. „Wir haben festgestellt, dass wir mit dieser Geschäftsordnung nicht vernünftig arbeiten können“, sagt Fabio Reinhardt bei seinem ersten Auftritt vor dem Landesparlament.
„Wenig Rechte der Abgeordneten“
Die Piraten streben eine Verfassungsänderung an, um durchzusetzen, dass jede Fraktion einen Parlamentsvize erhält, um laut Reinhardt „in allen Arbeitszusammenhängen dabei zu sein“. Notfalls wolle die Fraktion auch eine Organklage beim Verfassungsgerichtshof einreichen. Zudem sollte jede Fraktion das Recht haben, eine Sondersitzung des Plenums einzuberufen. Pirat Pavel Mayer ergänzt, er könne es „persönlich nicht fassen, wie wenig Rechte der einzelne Abgeordnete hier im Haus hat“. Jeder Abgeordnete repräsentiere etwa 20.000 Bürger, so der Pirat, „aber hier darf er noch nicht einmal einen Antrag“ stellen. Es seien doch alles intelligente Menschen hier, sagt Mayer, da bestehe doch keine Gefahr, dass permanent aussichtslose Einzelanträge besprochen werden müssten: „Diese Geschäftsordnung ist eine Misstrauenserklärung an uns selbst“, fasst der Pirat seine Kritik zusammen.
Die anderen Parteien reagieren wohlwollend auf den „neuen Blick von außen“. Er hätte sich aber gewünscht, die Anträge samt achtseitiger Begründung eher als eine Stunde vor der Sitzung auf den Tisch zu bekommen, sagt der Sozialdemokrat Sven Kohlmeier. Die Redner der anderen Fraktionen sagen zu, das Anliegen der Piraten in den Rechtsausschuss zu überweisen und dort zu prüfen.
Weniger gnädig geht die neue Mehrheit im Haus mit dem Antrag der Grünen, Linken und einzelner Piraten um, wonach der Opposition der Vorsitz im Hauptausschuss zustehen sollte. In diesem Gremium wird über das Geld entschieden, hier findet die wesentliche Kontrolle der Regierung statt, argumentiert der Grünen-Abgeordnete Benedikt Lux. Aber zum ersten Mal seit 2001 stimmt in Berlin eine rot-schwarze Front aus SPD und CDU gegen die Opposition.
Als die Fraktionen über den Antrag der Piraten abstimmen, zeigt sich etwas Neues im Parlament: Die Piraten selber heben nur zur Hälfte die Hände, stimmen uneinheitlich ab. „Das war eher der Verwirrung geschuldet“, sagt hinterher der Abgeordnete Christopher Lauer.
Alles ordnungsgemäß verläuft bei der Wahl des Parlamentspräsidenten: Ralf Wieland (SPD) wird mit 129 von 149 Stimmen zum Nachfolger Walter Mompers gewählt. Vizepräsidenten werden Andreas Gram von der CDU mit 108 Stimmen und Anja Schillhaneck von den Grünen mit 116 Stimmen.