Die Besucher des Hamburger Bahnhofs in Berlin können dem Himmel ab sofort ein Stück näher kommen. Die Installationen des argentinischen Künstler Tomas Saraceno geben neue Impulse über Ort, Zeit und Raum.
Vor knapp einem Jahr siedelten und grasten Rentiere in der Historischen Halle des Hamburger Bahnhofs. Zwölf Kanarienvögel zwitscherten in riesigen Volieren. Das ganze durchdesignt in einer aufwendigen Installation. Wir zwinkerten mit den Augen angesichts der surrealen Labor-Szenerie. Carsten Höller wagte zur Weihnachtszeit mit „Soma“ ein museales Experiment, das sich gelohnt hat.
Jetzt stehen wir abermals in der großen Halle im Museum – und staunen über ein neues Experiment. Tomás Saraceno, 1973 in Argentinien geboren, ist ein ebensolcher Tüftler wie Höller. Von der Decke des Gewölbes schweben riesige transparente Kugeln, die aussehen wie dicke Luftblasen. Innen sind sie hohl. Mal sind die Ballons mit Grünzeug bewachsen, mal nicht. Untereinander sind die organischen Gebilde mit einer Art Spinnennetz verbunden, das aus flexiblen Seilen besteht. Fixiert sind diese an genau berechneten Ankerpunkten in der Wand. Man muss wissen, dass der Künstler ein ausgesprochener Spinnenliebhaber ist, und sich mit diesen ungemütlichen Gliedertierchen bestens auskennt, ihre Netzwerkpfade, ihre Organisationsstrukturen genau studiert hat. Schön sieht das alles aus, auch wenn einem die Gebilde irgendwie bekannt vorkommen. Egal, Museumschef Udo Kittelmann jedenfalls hat ein Faible für spektakuläre Hingucker.
Der Künstler liebt Spinnen
Die über Gebläse beatmeten „Cloud Cities“ sind interaktiv nutzbar. Über eine Stahltreppe kann der Besucher sich meterhoch in die Wolkenstadt hineinfallen lassen. Schuhe müssen draußen bleiben. Eine transparente Lufthaut trägt ihn, und wenn es gut läuft, sieht er das Museum im Panoramablick. Etwas sportlich sollte man schon sein, die Lufthaut ist durchaus widerständig. Vom Gefühl ist das in etwas so wie in einem gigantischen Wasserbett, oder ja, einer Hüpfburg, die nach allen Seiten hin blubbert, und man Mühe hat, die Balance zu halten. Kinder werden ihre Freude an diesem Kunstwerk haben. Familienkompatibel war schon Höllers Rentier-Tableau. Saraceno lacht: „Das ist unglaublich spielerisch. Für mich ist es verblüffend, in die Gesichter zu schauen und zu sehen, wie sich die Gesichter in der instabilen Situation verändern!“
So luftig und locker die aus 23 Einzelteilen bestehende Installation daher kommt, so tonnenschwer lastet die Theorie, mit der sich Saraceno beschäftigt. Da gibt es regaleweise Literatur zu studieren. Er sieht sich ganz in der Tradition des US-Architekten, Designers und Philosophen Richard Buckminster Fuller, der neben Frei Otto und Santiago Calatrava zu den Protagonisten einer biomorphen Architektur gehört. Kurz: es geht um die Utopie von neuen Lebensräumen, Stadtplanung und Überbevölkerung. Udo Kittelmann formuliert es einfacher: „Es geht, um ein anderes Gefühl von Leben abseits der Bodenhaftung.“ Aber halt, kommen wir noch einmal auf die Gewächse zurück, die in den Blasen „wohnen“. Wir kennen die struppigen Tillandsien in Europa nicht, sie sehen aus wie bizarre ausrangierte Perücken. „Anpassungskünstler“ nennt man sie, denn sie überleben ohne Erde. Feuchtigkeit nehmen sie über ihre Schuppen aus der Luft auf.
Bekannt wurde Saraceno mit seiner Teilnahme 2009 bei der Biennale in Venedig. Derzeit startet er voll durch, nach der Berliner Großinstallation entwirft er für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen eine neue Rauminstallation. In zwanzig Meter Höhe wird er Anfang nächsten Jahres über der Piazza von K21 Ständehaus ein gewaltiges, begehbares Spinnennetz spannen. Die technischen Herausforderungen sind immens. Doch für Saraceno, der in Frankfurt/Main lebt, gibt es keine Grenzen – zumindest im Denken nicht. Die Luft ist für ihn natürlicher Experimentierraum. Scheitern inbegriffen.
Wer nicht mehr schweben mag in Saracenos „Cloud Cities“ begibt sich in die Rieck-Hallen. Dort ist in Ergänzung und als Kontrapunkt zur Haupthalle die Sammlungsschau „Architektonika“ zu sehen. Sie zeigt verschiedene künstlerische Positionen des 20. Jahrhunderts, die sich mit Architektur auseinandersetzen. Tomas Saraceno ist nicht der erste Künstler, der über der Realität schwebte.
Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, Di-Fr 10-18 Uhr. Sa 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr. Bis 15. Januar 2012. Katalog 29 Euro. Livespeaker sind während der Öffnungszeiten im Einsatz.