Schleuse zur Freiheit: Zu DDR-Zeiten verließen mitunter 30.000 Besucher pro Tag den Osten Berlins durch den “Tränenpalast“. Jetzt ist der Bau ein Museum und erinnert an das absurde DDR-Grenzregiment.
Der Kontrast schüchtert ein, auch heute noch. So licht und luftig der Pavillon von außen wirkt, so bedrängend sind die kaum 80 Zentimeter schmalen Durchlässe an der Schmalseite des trapezförmigen Bauwerks. Auf eine transparente Glas-Stahl-Konstruktion folgt eine Wand aus braunem Sprelakat, den holzähnlichen Hartplastikplatten aus DDR-Produktion. Durch diese engen Schläuche musste sich jeder drängen, der den „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ in Richtung Freiheit verlassen wollte. Hier fand bis 1989 die kalkuliert schikanöse Kontrolle statt. Der DDR-Grenzer saß erhöht hinter Glas und schaute buchstäblich auf den Ausreisewilligen herab. Ein Spiegel zwischen Wand und Decke erlaubte die Kontrolle des „toten Winkels“ hinter dem Rücken des Reisenden. Eintreten durfte man nur einzeln, lediglich Familien mit Kindern wurden gemeinsam kontrolliert. Die Schleuse zur Freiheit war eng. Dennoch passierten mitunter mehr als 30.000 Menschen pro Tag das knappe Dutzend enger Durchlässe.
Am Mittwoch hat Angela Merkel (CDU) in der als „Tränenpalast“ bekannten Grenzkontrollstelle am Berliner S-Bahnhof Friedrichstraße die zentrale Ausstellung zu Grenzregime und deutscher Teilung eröffnet. „Grenzerfahrungen“ heißt die Schau. Die Bundeskanzlerin hat ihre eigenen Erfahrungen mit dem historischen Ort: „Ich persönlich war hier sehr oft mit meinen Eltern, und wir haben meine Großmutter Jahr für Jahr verabschiedet.“ Später kam sie fast täglich am Bahnhof Friedrichstraße an: „So machte man also schon morgens auf dem Weg zur Arbeit die Erfahrung mit der innerdeutschen Grenze und der unmenschlichen Teilung in Deutschland.“
Gebäude verfehlte Wirkung
Das beeindruckendste Exponat ist das Gebäude selbst. Horst Lüderitz vom Planungsbüro der Deutschen Reichsbahn hatte es 1961 entworfen, ursprünglich als Empfangsgebäude für Gäste, die über den Kreuzungsbahnhof in Mitte in die DDR einreisten. Entsprechend plante der sonst unbekannte Architekt: Aus dem engen Übergang aus Richtung Bahnhof, also dem kapitalistischen Westen, sollte sich der Bau geradezu Effekt heischend in Richtung Sozialismus öffnen. Die Verheißung der SED sollte Architektur werden.
Allerdings hat diese zwar schlichte, aber gewiss wirkungsvolle Idee nie funktioniert. Denn Lüderitz' Entwurf wurde zwar vier Wochen nach der Sperrung der Grenze mitten durch Berlin am 13. August 1961 genehmigt und in den folgenden zehn Monaten errichtet. Doch von der Inbetriebnahme Anfang Juli 1962 an diente er genau dem Gegenteil des vorgesehenen Zwecks: als Eingang in die Kontrollstelle zurück Richtung West-Berlin. Aus der Empfangshalle wurde ein Ort der Trennung, vor dem unzählige DDR-Bürger Abschied nehmen mussten. Denn Menschen ohne gültige Ausreisepapiere durften nicht einmal in die Nähe der Kontrollstelle. Sie mussten sich deshalb bei Wind und Wetter im Freien von ihren Besuchern und Verwandten verabschieden. Daher der Name „Tränenpalast“.
1,3 Millionen Euro investiert
Eine Dreiviertelmillion DDR-Mark hatte die SED seinerzeit aufgewendet, um mit Lüderitz' Pavillon den hässlichen, völlig provisorischen Zugang zur Ausreisekontrolle aufzuhübschen. Knapp doppelt so viel Euro, genau 1,3 Millionen, investierte das Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik (HdG) in Ausstattung und Ausstellung selbst. Die Sanierung bezahlte der Eigentümer, der Immobilieninvestor Harm Müller-Spreer; im Gegenzug mietete die Bundesrepublik den Bau für 20 Jahre.
Obwohl das weitgehend denkmalgerecht wiederhergestellte Gebäude sowie der 1990 gerettete Original-Abfertigungsschlauch die eigentlich interessanten Teile der Ausstellung sind, beeindrucken auch manche anderen Exponate. Etwa das eigens angefertigte Modell der „Grenzübergangsstelle Friedrichstraße“, wie der Bahnhof im SED-Deutsch hieß. Trotz der Dokumentationswut von DDR-Bürokratie und Stasi sind bis heute keine genauen Baupläne aufgetaucht. Deshalb mussten sich die Modellbauer auf Fotos, Zeitzeugenberichte und eine Zeichnung von Werner Kruse stützen. Der Illustrator, besser bekannt unter seinem Künstlernamen „Robinson“, hatte Anfang der 80er-Jahre mit „Röntgenblick“ einen Einblick in den verschachtelten Bahnhof geworfen und als Zeichnung festgehalten.
Zeitzeugen berichten
Die allgemeinen Teile der Ausstellung zur Teilung richten sich eher an Laufpublikum und internationale Touristen. Für jeden Besucher interessant dagegen sind die zehn Schilderungen von Zeitzeugen über ihre Erlebnisse im und am „Tränenpalast“. Natürlich können sie nur einen kleinen Ausschnitt bieten, denn die Abschiede hier zählten buchstäblich nach Dutzend Millionen. Doch es gab auch Menschen, für die der „Tränenpalast“ keine Schleuse in die Freiheit war, sondern das Tor zurück in eine gefährliche, weil geheimdienstliche Tätigkeit. Rund ein Dutzend Mal reiste der Stasi-Spitzel Karl-Heinz Kurras hier aus, nach Lektionen im chiffrierten Funk und anderen Spionagefertigkeiten, die er im Osten absolvierte.
In einer knappen Stunde kann man künftig in Mitte einen bislang vernachlässigten Aspekt des absurden DDR-Grenzregiments kennenlernen. Die Kuratoren um HdG-Chef Hans Walter Hütter und seinen Ausstellungsdirektor Jürgen Reiche haben die 550 Quadratmeter Ausstellungsfläche bewusst nicht überfrachtet. Der „Tränenpalast“ dürfte schon bald zu den zentralen Erinnerungsorten an die deutsche Teilung zählen.
Am Bahnhof Friedrichstraße. Tgl. außer montags 9–19, am Wochenende 10–18 Uhr. Der Eintritt ist frei