Chaos und Anarchie

Berlins Radfahrer überfordern die Polizei

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Ina Brzoska

Foto: Christian Kielmann

Seit 2001 ist der Fahrradverkehr in Berlin um satte 31 Prozent gestiegen. An Regeln halten sich die Radler aber selten: Allein 2010 gab es 6200 Rad-Unfälle. Die Polizei ist oft hilflos.

Ihre Lippen beginnen zu zittern, wenn Christina Pfitzner sich an den Unfall im vorvergangenen Sommer erinnert. Die Polizistin ist auf Streife in Mitte, stoppt an einer großen Kreuzung. Plötzlich schießt eine Radfahrerin über die Kreuzung. Die Ampel zeigt Rot für sie. Der kreuzende Autofahrer schafft es nicht mehr abzubremsen. „Sie flog mehrere Meter durch die Luft“, sagt Pfitzner. Sie eilt zu der jungen Frau, reglos liegt sie auf dem Pflaster. Ihr Kopf blutet, ohne Helm war sie hart auf den Bordstein geschlagen. Der Rettungssanitäter vermut, dass nur noch das Kleinhirn funktioniert. Noch am Abend stirbt die Frau im Krankenhaus.

Es ist vermutlich einer der Gründe, warum Polizistin Christina Pfitzner (41) ein wenig resoluter im Umgang mit Verkehrssündern auftritt, wenn sie mit Kollege Denny Schewe (35) auf Fahrradstreife geht. „Hätte die Frau einfach auf ein Grün gewartet, wäre sie jetzt noch am Leben“, sagt sie. Aber: Es gibt in Deutschland – anders als etwa in Finnland – keine Helmpflicht. Und: Selbst mit bis zu 1,6 Promille darf man noch auf das Rad steigen. „Und an die wenigen Regeln und Verbote, die es gibt“, sagt Pfitzner, „hält sich kaum jemand.“ Sie ärgert sich über die Anarchie im Radverkehr, über pampige Antworten, die sie bekommt, wenn sie bei Verstößen belehrt. „Wir sind die Bösen, dabei machen wir nur unseren Job“, sagt Pfitzner. Am meisten Sorge macht ihr das fehlende Gefahrenbewusstsein der Radfahrer.

Sechs Tote, 471 Schwerverletzte

Rund 6200 Unfälle mit Radfahrern wurden im vergangenen Jahr registriert, den Großteil haben sie selbst verursacht. Unter den 44 Verkehrstoten im Jahr 2010 waren sechs Radfahrer, 471 wurden schwer verletzt. Das entspricht einem Viertel aller Schwerverletzten im Straßenverkehr.

In Hamburg, Münster oder Brandenburg sind längst speziell ausgebildete Fahrradstaffeln im Einsatz. In Berlin nicht. Hier steigen ganz normale Polizisten aufs Rad, schreiben vereinzelt Anzeigen. Dabei sehen sie sich einer immer größeren Anzahl von Verkehrssündern gegenüber. Seit 2001 werden in der Stadt an festgelegten Punkten Fahrradfahrer gezählt. Das Ergebnis: Ihre Zahl steigt außergewöhnlich stark. Gegenüber 2001 hat sich der Fahrradverkehr um satte 31 Prozent erhöht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Da ist die Dauerkrise bei der S-Bahn, da sind die steigenden Spritpreise, die fehlenden Pkw-Parkplätze, das gestiegene Umweltbewusstsein und das Geschäft mit Leihrädern für Touristen.

An diesem Dienstagmorgen sind Denny Schewe und Christina Pfitzner zur Streife aufgebrochen. Sie tragen blaue Uniformen und Funkgeräte. Die Ausstattung könnte besser sein. Anderswo haben Fahrradpolizisten Kameras an den Helmen, um Beweisfotos schießen zu können. „Beweisbilder würden helfen, viele Anzeigen enden nämlich vor Gericht“, sagt Pfitzner. Sie blickt etwas resigniert auf ihr Mountainbike. Ein schlichtes Modell, eines, das der Polizei überlassen wurde, weil kein Halter festzustellen war.

Schewe hat gleich sein eigenes mitgebracht, er fährt auch privat gern. „Wenn wir Falschfahrern hinterherradeln, finden sie das sportlicher, als wenn wir im Funkwagen ankommen“, sagt er. Die Akzeptanz sei eine ganz andere.

Mitte, das Revier von Schewe und Pfitzner, zählt zu den chaotischsten Verkehrszonen. Es staut sich auf schmalen Radwegen, alle paar Hundert Meter gibt es eine Baustelle. An diesem Morgen schnurren die Cityräder über Bürgersteige, ein Fahrradkurier ignoriert eine rote Ampel. Da ist die Touristengruppe, alle haben eine kleine Fahne am Gepäckträger, die Gruppe will eigentlich zusammen über die Kreuzung, aber die Grünphase ist zu kurz. Die Letzten stehen hilflos auf der Straße, Autos hupen. Links auf dem Gehweg: Schulkinder mit großen, runden Helmen. Sie fahren gegen den Fußgängerstrom, kollidieren fast mit einem alten Mann, der sich verängstigt an seinen Rollator klammert.

Schewe und Pfitzner ernten ein paar neugierige Blicke, vorsichtiger fährt aber angesichts der beiden Polizisten offensichtlich niemand.

Schewe schüttelt den Kopf. Er könnte hier jeden anhalten und Dutzende Anzeigen schreiben. Plötzlich sieht er diesen Fixie-Fahrer. Einer, den manche wohl als typischen „Kampfradler“ beschreiben würden, weil er mit umgebautem Bahnrad mit starrem Gang und ohne Leerlauf unterwegs ist. Per se verboten. Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase, im Ohr die iPod-Stöpsel. Beim Überqueren der vierspurigen Fahrbahn scheint das Handy zu klingen, der Fixie-Fahrer kramt in der Umhängetasche.

Schewe reicht es jetzt, er schneidet dem Hipster den Weg ab. „Würden Sie bitte absteigen“, sagt er. Eigentlich will er den Verkehrssünder jetzt belehren. Doch der Fixie-Fahrer grinst, blickt auf Schewes weißes Mountainbike. „Wollen wir um die Wette fahren?“, fragt er. Schewe will den Ausweis sehen.

35.000 Euro in zehn Tagen

Einmal im Jahr ziehen Berlins Beamte los und sind rigoros. „Eigentlich hilft es nur, wenn Anzeigen geschrieben werden“, sagt Schewe. So wie im April, vor Beginn der Radsaison. In zehn Tagen zogen sechs Beamte Radfahrer aus dem Verkehr. 350 Sünder wurden gefasst. Bei Rot waren sie über die Ampel gefahren. Bußgelder über 35.000 Euro wurden verhängt „Wenn wir so etwas öfter machen würden, könnten wir uns gut finanzieren“, sagt Schewe.

Anders als Ende der 90er-Jahre ist es inzwischen Pflicht, Radwege zu benutzen. Berlin kann inzwischen eine Strecke von 655 Kilometern vorweisen. Allerdings: Im vergangenen Jahr hat ein Gericht für einen nicht unwesentlichen Teil die Benutzungspflicht aufgehoben, weil Wege nicht den Anforderungen entsprechen. Insgesamt sind nach Angaben der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung nur noch circa 110 Kilometer Radwege benutzungspflichtig.

Ein paar Anzeigen haben Schewe und Pfitzner wieder aufgeschrieben, viel öfter aber ein Auge zugedrückt. „Ich kann nicht jedem hinterherfahren“, sagt Schewe.