Vor sechs Jahren hat der Senat das Einschulungsalter um ein halbes Jahr vorgezogen. Seitdem werden viele Kinder bereits mit fünf Jahren eingeschult, alle anderen mit sechs. Offenbar zu früh: Amtsärzte müssen immer mehr Kinder zurückstellen.

Marie spricht nicht viel. Im Spiel mit anderen Kindern verhält sie sich oft passiv oder versteckt sich nach kurzer Zeit. Sie ist häufig müde und braucht noch immer ihren Mittagsschlaf. Marie ist dieses Jahr nicht eingeschult worden, dabei hat sie vor Kurzem ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Sie ist eine von mehr als 2000 Rückstellungen, die in diesem Jahr von der Schulaufsicht in Berlin bewilligt wurden. Rückstellung, das bedeutet, dass Marie ein Jahr länger Kita-Kind sein darf, denn für sie wird die Schulpflicht für ein Jahr ausgesetzt. Die Einschulungsuntersuchung beim Amtsarzt und die Kita-Beurteilung haben ergeben, dass sie noch nicht reif für die Schule ist.

Marie wird nicht allein warten müssen. Seit der Lockerung der Rückstellungspraxis 2010 steigt der Anteil der Kinder, die wegen Entwicklungsverzögerungen später eingeschult werden, deutlich an. Man nennt sie auch Herbstkinder, denn ihr sechster Geburtstag würde in vielen Fällen erst nach der geplanten Einschulung im August liegen.

Diese Regelung geht auf eine Reform zurück, die 2005 verabschiedet wurde. Damals hatte der Senat das Einschulungsalter um ein halbes Jahr vorgezogen. Seitdem werden Kinder, die in diesem Zeitfenster geboren wurden, bereits mit fünf Jahren eingeschult. Alle anderen kommen mit sechs in die Schule. Außerdem waren Rückstellungen seit der Reform fast ausgeschlossen. Lediglich bei anerkannten Behinderungen durfte die Schulpflicht nach hinten verschoben werden. Der jeweilige Entwicklungsstand des Kindes spielte hingegen bei der Einschulungsuntersuchung nur noch eine untergeordnete Rolle.

Viele Lehrer waren allerdings in der Schuleingangsphase überfordert mit den sehr jungen Kindern. Auch eine Elterninitiative forderte die Möglichkeit, die Schulpflicht aufzuschieben. Jedes fünfte Kind musste die zweite Klasse wiederholen und so ein Jahr länger in der Schuleingangsphase verweilen. Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) hatte die Rückstellungspraxis deshalb zum vergangenen Schuljahr wieder gelockert.

„Sie ist doch so schüchtern“, sagt Maries Mutter, die ihren Namen nicht nennen will. Sie ist vor allen Dingen besorgt um ihre Tochter. „Ich hatte große Angst, dass sie sich gegen die anderen Kinder in der Schule nicht durchsetzen könnte und den Anforderungen nicht gewachsen ist.“ Denn sie hat bereits Erfahrung gemacht mit dem Berliner Einschulungsgesetz. Maries ältere Schwester wurde ebenfalls früh eingeschult, eine Rückstellung war damals nicht möglich. Jetzt musste sie ein Jahr wiederholen. „Das möchte ich meiner Kleinen nicht auch zumuten. Deshalb habe ich bei Marie einen Antrag auf Rückstellung gestellt.“

Trend zur späten Einschulung

Zwei Jahre nach der Lockerung der Regelung zum Einschulungsalter stieg die Zahl der Rückstellungen von etwa fünf Prozent in 2009 und acht Prozent im Jahr 2010 auf neun Prozent in diesem Jahr. Besonders deutlich ist die Tendenz in Lichtenberg sichtbar: Hier stieg die Zahl der zurückgestellten Kinder von knapp 50 Kindern im Jahr 2009 auf 265 Kinder im Jahr 2011. Dies entspricht mehr als 13 Prozent aller Einschulungspflichtigen. In Spandau wurden 2009 nur 68 Kinder zurückgestellt, 2010 waren es schon 152. Im aktuellen Schuljahr lag die Zahl der Rückstellungen bei 179. Für den Bezirk Mitte stieg die Zahl von 2010 und 2011 von 130 auf 200. Seit dem vergangenen Schuljahr sind Rückstellungen wieder möglich, wenn Kinder körperlich, geistig oder in ihrem sozialen Verhalten nicht genügend entwickelt sind, um am Unterricht teilzunehmen. Das Einschulungsalter blieb jedoch von der Gesetzesänderung unberührt.

Berlin ist damit das einzige Land, das an einem so jungen Einschulungsalter festhält. In Bayern war eine Reform zur schrittweisen Herabsetzung des Einschulungsalters im vergangenen Jahr aufgehoben worden. Hier entschied man sich stattdessen für eine flexiblere Gesetzgebung bei vorzeitigen Einschulungen. Überlegungen zu einer Erhöhung des Einschulungsalters gibt es nun auch in Brandenburg. Dort hatte die Landesregierung den Stichtag für die Schulanfänger um einen Monat vorgezogen. In den Folgejahren hatte sich die Zahl der Rückstellungen fast verdoppelt. Im Jahr 2004 lag die die Quote noch bei 6,8 Prozent, im Jahr 2010 waren es schon 10,5 Prozent. „Wir überlegen deshalb das Einschulungsalter wieder nach hinten zu verlegen“, sagt Stephan Breiding, Sprecher des Bildungsministeriums in Brandenburg.

Viele Schulen in Berlin klagen über die sehr jungen Schulanfänger. Rita Schlegel von der Hermann-Sander-Grundschule in Neukölln meint, eigentlich müssten 25 Prozent der Erstklässler zurückgestellt werden. So hoch war der Anteil an ihrer Schule vor der Abschaffung der Rückstellung 2005. Vor allem im jahrgangsübergreifenden lernen seien die Lehrer überfordert mit der großen Spannbreite der Entwicklungen.

Noch nicht lernfähig

Die Meinung zum Thema Rückstellung ist auch in der Bevölkerung nach wie vor gespalten. Eltern würden zunehmend eine Verschiebung der Einschulung wünschen, obwohl die Kita den Schulbeginn ausdrücklich für das Kind empfiehlt, sagt Martin Hoyer, Kita-Referent des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. „es gibt aber auch Eltern, denen es nach wie vor schwer fällt, eine Rückstellung ihres Kindes zu akzeptieren. Sie empfinden eine entsprechende Empfehlung des Amtsarztes als Pathologisierung. Dabei profitieren viele Kinder von der Rückstellung,“ so Hoyer.

Dies bestätigt auch Amtsärztin Claudia Wein. Sie befürworte die Rückstellung vor allem, wenn sie sieht, dass der Kita-Besuch bereits erste Erfolge gebracht hat. Oft würden aber dennoch wichtige Fähigkeiten für die Schulen fehlen.

„Die Kinder haben beispielsweise Schwierigkeiten, einen einfachen Tannebaum nachzuzeichnen oder sinnvoll zu ergänzen“, sagt die Ärztin. Viele hätten Schwierigkeiten Phantasiewörter nachzusprechen oder Bildpaare zu finden.

Besonders deutlich spüren derzeit die Kitas die steigende Zahl der Rückstellungen in Berlin. Plätze, die eigentlich frei werden sollten, müssen nun für die besondere Förderung der Vorschüler vorgehalten werden. Die Kita „Putzmunter“ betreut zurzeit fünf Kinder, die von der Schulpflicht befreit und ein Jahr zurückgestellt wurden. Für 13 Kinder hatten die Eltern Anträge gestellt, von insgesamt 45 Vorschulkindern.

Marie macht in der Kita Fortschritte

„Unvorhergesehene Rücksteller bedeuten einen logistischen Aufwand“, berichtet die Leiterin der Kindertagesstätte, Konstanze Ladach. „In diesem Jahr zogen sich die endgültigen Entscheidungen von Mai bis Juni hin. Da war die Planung für das kommende Kita-Jahr schon fertig. So müssen wir jetzt immer Plätze einplanen, um zurückgestellte Kinder auffangen zu können. Das ist bei der großen Nachfrage an Kitaplätzen oftmals problematisch.“

Trotzdem zeigt sie sich erfreut über die Wiedereinführung der Rückstellung. „Maries Sprache hat sich in den letzten zwei Monaten deutlich verbessert. Sie spricht lauter, deutlicher und ist insgesamt weniger kontaktscheu“, sagt die Leiterin. Marie erhält einmal die Woche Ergo- und Logopädie-Stunden. Außerdem kümmert sich eine Erzieherin um sie, übt unter anderem mit ihr Zählen, Malen und Ausschneiden mit dem Ziel, Feinmotorik sowie Sprach- und Lernfähigkeit nachhaltig zu verbessern. In der Kita gibt es zudem ein in den Tagesablauf integriertes Vorschulangebot, an dem Marie teilnimmt.

Eine spezifische Förderung von zurückgestellten Kindern fordert auch Katrin Schultze-Berndt, Bildungsstadträtin von Reinickendorf (CDU). Für sie müssen die Maßnahmen jedoch noch weiter gehen. „Wir brauchen für zurückgestellte Kinder eine verbindliche und schulähnliche Förderung analog der abgeschafften Vorklasse,“ so die Bezirksstadträtin. Oft seien Kindertagesstätten mit den besonderen Bedürfnissen von Rückstellern räumlich und personell überfordert. Das Jahr, das Kinder durch die Rückstellung gewinnen, müsse intensiv genutzt werden, um sie in einer separaten Gruppe speziell auf die Schulzeit vorzubereiten. Vorbild sollte der verbindliche Lehrplan der ehemaligen Vorklassen sein.

Konstanze Ladach. Leiterin der Kita „Putzmunter“ wünscht sich hingegen eine noch bessere Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Amtsärzten und den Kindertagesstätten.

„Ich würde es befürworten, wenn die Kooperation mit den Gesundheitsämtern noch enger werden würde. Gerade wenn das Ergebnis der Einschulungsuntersuchung deutlich von der Einschätzung der Kita abweicht, wäre eine Rücksprache zwischen Gesundheitsamt, Schulamt und zuständiger Kita wünschenswert“, sagt die Kita-Leiterin. So könnten sowohl unnötige Rückstellungen als auch verfrühte Einschulungen vermieden werden. „Es ist leider immer noch so, dass Rückstellungen von vielen als Stigma verstanden wird. Das ist meiner Ansicht nach falsch. Es ist es doch etwas Schönes, dass die Entwicklung eines Kindes ein flexibler Prozess ist und jedes Kind seine eigene Zeit braucht. Viele haben das noch nicht begriffen“, sagt Konstanze Ladach.