Immer öfter greift Urologe Eid Faragallah zum Telefon und ruft die Polizei. Kürzlich war wieder so ein Vormittag, alle Plätze seines Wartezimmers waren besetzt. Ein Ehepaar klopfte an die Tür seiner Neuköllner Praxis. Der Mann hatte offenbar ein recht dringendes Problem, aber keinen Termin, er verlangte nach einer sofortigen Behandlung. Als Faragallah ihn vertrösten wollte, wurde der Kranke handgreiflich. Faragallah musste die Polizei holen. Erst dann kehrte im Vorzimmer seiner Praxis wieder Ruhe ein.
Lange Zeit hieß es, in Berlin gebe es ausreichend Mediziner. Doch in vielen Bezirken fehlen Fachärzte. Am deutlichsten zeigt sich der Mangel in Neukölln. 320000 Menschen leben in dem Berliner Bezirk, ihnen stehen gerade mal acht Urologen zur Verfügung. Einer von ihnen ist Eid Faragallah, er führt die einzige Praxis nahe Rathaus Neukölln. Im Umkreis von fünf Kilometern sei kein Kollege verfügbar, sagt er. Und: Den Ansturm an Patienten könne er kaum mehr bewältigen. „Ich brauche dringend Unterstützung.“ Derzeit sei jedoch nicht mal Nachwuchs in Sicht. 184 Urologen gibt es in Berlin, laut der aktuellen Bedarfsplanung reicht das aus, neue Kassenzulassungen werden nicht vergeben. Faragallah erlebt den Notstand täglich. Er sagt, dass die Urologen „ungerecht“ über die Stadt verteilt seien. Neukölln brauche doppelt so viele von ihnen wie zurzeit vorhanden, also 16.
Nur acht Urologen in Neukölln
Faragallahs Schilderung klingt dramatisch, überlastete Fachärzte sind in Berlin aber keine Seltenheit mehr. Neue Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) zeigen, dass in den meisten Berliner Bezirken Fachärzte fehlen. KV-Chef Uwe Kraffel kritisierte vor wenigen Wochen, dass die derzeitige Bedarfsplanung für Berlin auf Daten von 1992 basiert, dass viele Faktoren vernachlässigt würden. Da sei die älter werdende Bevölkerung, die einen steigenden Bedarf an medizinischer Versorgung und spezialisierten Ärzten bedingt. Da seien die zahlreichen Pendler aus Brandenburg, die in Berlin arbeiten und in Mitte oder Charlottenburg den Arzt aufsuchen. Inzwischen bezahlen Kassen auch Leistungen wie Akupunktur oder Darmspiegelung, die nur Facharztpraxen anbieten.
Die neuen Zahlen der KV sind besorgniserregend. Danach sind acht von zwölf Bezirken facharztmäßig unterversorgt. Es fehlen vor allem Urologen, Kinder-, Augen- oder Frauenärzte. Niedergelassene Ärzte spüren die Versorgungsengpässe schon seit Jahren. Brunhilde Hackel etwa ist die einzige Frauenärztin in Köpenick, die überhaupt noch Patientinnen annimmt. Kollegen, sagt sie, können die steigende Nachfrage kaum bewältigen. Besonders schlimm sei es in Hellersdorf. Wie Neukölln ist der Ortsteil im Osten Berlins kein allzu beliebter Wohnbezirk. Hackel kritisiert, dass Ärzte dort Praxen übernommen hätten, dann aber doch in wohlhabendere Gegenden umgesiedelt seien.
Andernorts zu viele Psychologen
Ähnlich erging es dem Urologen Eid Faragallah. Viele Urologen, die früher in seiner Nachbarschaft praktizierten, führten nun Praxen in Zehlendorf. Dort, wo gut verdienende Privatpatienten und Selbstzahler leben. Wo keine Polizisten für Ordnung sorgen müssen, weil der Andrang zu groß ist. Künftig dürfte sich die Situation sogar noch verschlimmern. Das Neuköllner Vivantes-Klinikum will jetzt aus Kostengründen seine Urologie ans Kreuzberger Urbankrankenhaus verlegen. Gesundheitsstadtrat Falko Liecke kritisiert dies als „herben Rückschlag“. Er rechnet mit fatalen Folgen für den Südwesten und Südosten Berlins.
Es gibt aber auch Bezirke in der Hauptstadt, die von der Unterausstattung mit Fachärzten kaum betroffen sind. In Steglitz, Zehlendorf oder Mitte zum Beispiel gibt es unzählige niedergelassene Ärzte: Gynäkologen, Hautärzte, Kinderärzte (siehe Tabelle). In Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es eine absurd hohe Dichte an Psychologen. Die Ausstattung liegt bei 343 Prozent, dreieinhalb mal so viel, wie nötig wäre. Auch bei Urologen ist der Bezirk überversorgt.
Eid Faragallah sitzt an seinem Schreibtisch in Neukölln. Die meisten seiner Arbeitstage dauern 14 Stunden, am Wochenende beantwortet er Briefe oder rechnet ab. Faragallah will trotzdem nicht aus Neukölln weg. „Das ist meine Heimat“, sagt er. In Palästina wurde er geboren, Faragallah studierte in Bonn Medizin, arbeitete zunächst im Rheinland. Als er in Neukölln die Chance erhielt, sich als Urologe niederzulassen, war er glücklich darüber. Über die Hälfte seiner Patienten sind arabisch- oder türkischsprachig. Faragallah spricht ihre Sprache, nimmt Rücksicht auf ihre kulturellen Besonderheiten. Viele Menschen mit Migrationshintergrund kommen nicht zu Vorsorgeuntersuchungen. Faragallah will, dass sich das ändert. Er berät bei Potenz- oder Gewichtsproblemen, er behandelt Blasen- oder Prostatakrebspatienten. Oft vermittelt er an Psychologen, denn viele, die kommen, leiden unter Depressionen. „Die meisten Patienten laufen mit ihren Problemen in die Krankenhäuser“, sagt er. Ein Grund, weshalb Rettungsstellen überlastet seien. Viele wüssten einfach nicht, welcher niedergelassene Arzt sich um welche Krankheiten kümmert. Politikerin Stefanie Vogelsang kennt die Probleme. Bevor die CDU-Abgeordnete aus Neukölln in den Bundestag gewählt wurde, arbeitete sie viele Jahre als Gesundheitsdezernentin in dem Bezirk. „Neukölln ist ein Brennglas, ein Seismograf“, sagt sie. Probleme, die Deutschland langfristig lösen muss, seien hier offenkundig.
In die Diskussion um das neue Versorgungsgesetz hat Vogelsang ihre Erfahrungen aus Neukölln mit eingebracht. Im Januar 2012 soll das neue Gesetz gelten. Neue Regelungen in dem Gesetz sollen Ärztemangel bekämpfen, vor allem in strukturschwachen Regionen, in der brandenburgischen Lausitz beispielsweise. Dort, wo Menschen immer älter werden und Jugendliche fortziehen. Wo im Umkreis von 100 Kilometern kein Arzt verfügbar ist.
Vogelsang brachte das Problem der Ballungsbezirke in die Diskussion ein. Berlin, kritisiert sie, werde immer als Einheit betrachtet. Die Besonderheiten der Bezirke bei der Ärzteausstattung würden jedoch vernachlässigt. Hier müsse die Politik flexibler agieren, Kleinräumiger planen.
Das größte Problem der Neuköllner Urologen ist die steigende Arbeitsbelastung. Der Mehraufwand führt aber nicht zu Mehreinnahmen. „Ich behandele hier im Akkord“, sagt Faragallah. 1200 Patienten, so schreibt es die KV vor, sind normal. In Faragallahs Praxis sind es mehrere Hundert mehr pro Quartal. Rechnen tut sich das nicht, denn die Mehrbehandlungen werden mit geringeren Sätzen vergütet. Kürzlich hat er an die Eingangstür ein großes Schild mit vielen Ausrufezeichen angebracht. Wegen des großen Andrangs könnten nur Patienten mit Termin angenommen werden, heißt es. Darunter eine Übersetzung auf Arabisch und auf Türkisch. Die Polizei wird er trotzdem wieder rufen müssen, da ist er sich sicher.