Mehr als 5000 Kinder und Jugendliche verweigern in Berlin regelmäßig den Schulbesuch. Weil die Bundesregierung die Gelder kürzt, müssen viele Projekte für deren Betreuung um die Existenz fürchten - vor allem in Neukölln.

Seit anderthalb Jahren kümmert sich Andreas Keßler im Süden Tempelhofs um schwierige Schüler. Mit seiner Kollegin vom Verein Jakus sorgt der Psychologe dafür, dass notorische Schulschwänzer ihre Probleme überwinden und wieder regelmäßig am Unterricht teilnehmen. Kessler und eine Kollegin betreuen 22 Jugendliche der Theodor-Haubach-Oberschule und der Solling-Schule im Rahmen des bundesweit als wegweisend gepriesenen Projektes „Zweite Chance“, das vom Europäischen Sozialfonds (ESF) bezahlt wird.

Aber nun droht Keßler ebenso wie seinen Kollegen an zehn weiteren Standorten der Zweiten Chance in Berlin das Aus. Das Bundesfamilienministerium plant, die ESF-Mittel für das Programm vom nächsten Schuljahr an zu halbieren. „Dann werden mehr Schüler durch den Rost fallen und ohne Hilfe bleiben“, befürchtet der Psychologe.

144 Millionen Euro vom ESF hat das Ministerium von Familienministerin Kristina Schröder (CDU) für die vergangenen drei Jahre unter dem Motto „Jugend Stärken“ bereitgestellt. Von Mitte 2011 bis Ende 2013 sollen es nur noch 50 Millionen sein. Dieses Geld floss in die „Zweite Chance“ sowie die Programme „Kompetenzagenturen“ und „Stärken vor Ort“, die Jugendliche für den Berufseinstieg fit machen sollen. 400 Anlaufstellen wurden bundesweit aufgebaut, elf davon betreibt „Zweite Chance“ in Berlin, hinzu kommen in der Stadt neun „Kompetenzagenturen“ sowie elf Fördergebiete von „Stärken vor Ort“ mit vielen kleinen Projekten. In ganz Deutschland suchten vergangenes Jahr 6500 Schulverweigerer Rat, 33.000 bekamen Unterstützung der Kompetenzagenturen.

Die Träger wie der Berliner Verein Jakus sind dabei, sich für das abgespeckte Programm zu bewerben. „Wir wissen aber nicht, ob es künftig weniger Standorte geben wird oder ob jede Stelle mit weniger Personal besetzt wird“, sagt Andreas Keßler. Ohne die Helfer der „Zweiten Chance“ hätten die Schüler der beiden Schulen in Marienfelde und Lichtenrade ihre Ansprechpartner verloren.

Ob die Jugendämter oder andere Sozialarbeiter die Lücke schließen können, die die Kürzungen der Bundesebene in Berlin verursachen, ist sechs Monate vor dem Auslaufen der Förderung völlig ungeklärt. Besonders hart könnte es Neukölln treffen, wo „Zweite Chance“ bisher vier Anlaufstellen für Schulschwänzer unterhält. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) ist empört. Seit Jahren hat er sich auf die Fahnen geschrieben, den Schulbesuch von notorischen Schwänzern notfalls auch zu erzwingen. „Wie weit werden wir damit kommen, wenn wir nicht einmal die Hilfe durchhalten“, sagte der Sozialdemokrat. Ein Programm gegen Schulschwänzen zu kürzen, sei „so ziemlich das Irreste, was man machen kann“. Unglaubwürdiger könne Politik nicht sein. „Aber das ist typisch“, schimpfte Buschkowsky. Zu Bildung und Integration würden „Sonntagsreden“ gehalten, denen aber nichts folge.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Swen Schulz aus Spandau sieht in den Kürzungen ein weiteres Beispiel für die Politik der Bundesregierung, gerade die Städte mit ihren schwierigen sozialen Strukturen alleine zu lassen. „Sie streichen systematisch dort, wo die Menschen Unterstützung benötigen“, sagte Schulz, in der Arbeitsmarktpolitik, beim Programm Soziale Stadt und bei Jugendprojekten.

Ob der Senat eingreifen wird, ist völlig offen. Die Auswirkungen für Berlin ließen sich „noch nicht abschätzen“, sagte eine Sprecherin von Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD). Der Senator hatte sich gerade in der vergangenen Woche mit Überlegungen zu einem konsequenteren Einschreiten gegen Schulschwänzer zu Wort gemeldet. Künftig sollen Schulen die Eltern schon dann informieren, wenn ihr Kind einen Tag unentschuldigt fehlt. Bisher gilt diese Pflicht erst ab drei Tagen. Die Möglichkeit, durch Bußgelder auf Eltern Druck auszuüben, will Zöllner erweitern. Zudem soll es im Porträt einer Schule als Qualitätsmerkmal angegeben sein, wie hoch die Schwänzer-Quote ist. Es wird davon ausgegangen, dass etwa drei Prozent aller Berliner Schüler 20 oder mehr Tage im Halbjahr unentschuldigt versäumen.

Tatsächlich fehlt ein koordiniertes Vorgehen gegen Schulschwänzen in der Stadt. Bisher ist die Bildungsverwaltung keineswegs aktuell im Bilde darüber, wie sich die Lage in den einzelnen Bezirken und an den einzelnen Schulen entwickelt und welche Maßnahmen gegen „Schulabstinenz“ wirken, die alle Experten als eine der Grundlagen für kriminelle Karrieren und Versagen beim Schulabschluss sehen.

Als der CDU-Bildungsexperte Sascha Steuer vor einem Jahr den Senat nach den Zahlen der Schulschwänzer fragte, bekam er zur Antwort, diese müsse man erst bei den Bezirken abfragen und werde sie später nachreichen. „Ich habe die Antwort nie bekommen“, sagte Steuer. Er macht sich dafür stark, nach dem Vorbild Hamburgs eine Zentralstelle für Schulschwänzer einzurichten. „Der Senat hat doch keine Ahnung, was los ist.“