Die Reform von Hartz IV sieht vor, dass Eltern von chronischen Schulschwänzern die Regelsätze um bis zu 30 Prozent gekürzt werden dürfen. Praktiker haben festgestellt, dass die Drohung mit Sanktionen durchaus helfen kann im Umgang mit schwierigen Familien.
Die Mutter flüchtet vor ihrem Sohn zum Nachbarn. Sie blutet aus mehreren Schnittwunden. Der Zwölfjährige hat die Frau mit einem Küchenmesser angefallen. Sie hatten sich wieder mal über die wiederholte Schulschwänzerei des Kindes gestritten.
Nicht immer werden die Konflikte um den Schulbesuch in deutschen Familien so blutig ausgetragen wie am Montag in Hannover. Aber die Frage, wie Eltern und Behörden Kinder und Jugendliche dazu bringen, das staatliche Bildungsangebot auch wahrzunehmen, drängt nicht erst seit Thilo Sarrazins Thesen zu notorischen Bildungs- und Integrationsverweigerern in den Blick. Jetzt streben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen im Zuge der Neuregelung der Hartz-IV-Gesetze einen neuen Vorstoß an. Den Eltern von Kindern und Jugendlichen, bei denen Schwänzen zur Gewohnheit geworden ist, sollen die Hartz-IV-Regelsätze um bis zu 30 Prozent gekürzt werden dürfen. Wegen Verletzung der Fürsorgepflicht.
Die Idee erinnert stark an die seit Jahren vom sozialdemokratischen Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky erhobene Forderung: „Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht aufs Konto.“ Tatsächlich ist eine ehemalige Bezirksamtskollegin des bekanntesten Integrationspraktikers der Republik im Regierungslager einer der Motoren für den Plan: Die frühere Neuköllner Bezirksstadträtin Stefanie Vogelsang, inzwischen für die CDU im Bundestag und dort im Gesundheitsausschuss tätig, hat das Thema vor knapp neun Monaten mit einem Brief an Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf die Agenda gesetzt. Inzwischen werden finanzielle Sanktionsmöglichkeiten gegen die Erziehungsberechtigten hartnäckiger Schulschwänzer auch von Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) und unter den Parlamentariern des Koalitionspartners FDP begrüßt. Schriftliches ist aber bisher noch nicht zu bekommen, weil am genauen Text in von der Leyens Gesetzentwurf noch gefeilt wird. Aber in den nächsten Tagen sollen die Formulierungen vorliegen.
Sanktionen bei den Erwachsenen
Im Unterschied zu Buschkowsky, der das Kindergeld kürzen möchte, hat Stefanie Vogelsang ein Auge auf die Hartz-IV-Sätze geworfen. Das sei verfassungsrechtlich einfacher. Denn das Kindergeld sei eben dazu da, die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Daher solle die Sanktion direkt im Budget des Erwachsenen ansetzen. Bei einer Kürzung von 30 Prozent müsste ein säumiger Haushaltsvorstand mit einer Strafe von derzeit knapp 120 Euro monatlich rechnen.
Praktiker wie Sylvia Radau haben festgestellt, dass die Drohung mit Sanktionen durchaus helfen kann im Umgang mit schwierigen Familien. Die Sozialarbeiterin bearbeitet die „Schulversäumnisanzeigen“ im Schulamt Friedrichshain-Kreuzberg. Die Schulen müssen melden, wenn Kinder mehr als zehn Tage am Stück dem Unterricht unentschuldigt fernbleiben. 119 solcher Anzeigen sind im vergangenen Schuljahr im Schulamt eingegangen.
Druck auf die Eltern auszuüben ist aber auch ohne die Hartz-IV-Reform bereits möglich. Schon seit einigen Jahren dürfen die Behörden Bußgelder gegen die Eltern von Schulverweigerern verhängen.
99 Prozent der Eltern kooperieren
„Es ist wichtig, dieses Bußgeld als Drohmittel zu haben“, sagt Radau. Denn seit sie in ihren Anschreiben darauf verweisen kann, erscheinen die Eltern auch meistens zum Gespräch im Schulamt, viele bekämen sogar einen Schreck, seien unter dem Druck zu „vielem bereit“. Wer nicht kommt, zu dem macht sich die Sozialarbeiterin persönlich auf, oft begleitet von Kollegen vom Jugendamt. Denn vor der finanziellen Strafe stehen viele Ansätze der Sozialarbeit. „Schulverweigerung hat hundert Ursachen“, sagt die Expertin. Schulangst der Kinder, Unwissenheit, Verweigerung der Kinder trotz allen Bemühens der Eltern oder Drogenkonsum. „99 Prozent der Eltern sind grundsätzlich überzeugt, dass Kinder in die Schule gehen und funktionieren sollen“, berichtet die Sozialarbeiterin von ihren Erfahrungen aus dem Problembezirk. Im vergangenen Jahr habe sie vier Verwarnungen ausgesprochen, die Vorstufe zum Bußgeld. Letzteres gab es gar nicht. Einmal wurde das Verwarnungsgeld gezahlt, drei Mal nicht. „Die Leute haben kein Geld“, sagt Sylvia Radau. Gerichtsverfahren um Bußgelder dauern in der Regel Monate bis Jahre. Insofern wäre eine schnellere Sanktionsmöglichkeit über Hartz IV hilfreich. Aber den Effekt hält die Frau aus dem Schulamt für begrenzt: In den zwei Jahren ihrer Tätigkeit seien ihr vielleicht zwei Fälle begegnet, denen Hartz IV gekürzt hätte werden können. „Bei allen anderen gab es schwerwiegende Probleme im Hintergrund.“ Radaus Chefin, Friedrichshain-Kreuzbergs Schulstadträtin Monika Herrmann (Grüne), sieht das ähnlich: Das Problem der „Schuldistanzierten“ auf Verweigerung der Eltern zu reduzieren, die mit Sanktionen bekämpft werden könne, sei ihr „zu pauschal“.
Was gegen Schulverweigerung hilft und welche Dimension das Problem in Berlin tatsächlich hat, kann zumindest die Senatsverwaltung für Bildung nicht mit letzter Sicherheit sagen. Zuständig sind die Bezirke. Experten wissen, dass die Schulen sehr unterschiedlich mit dem Phänomen umgehen. Nicht jeder Lehrer hat den Ehrgeiz, störende, lustlose Schüler unbedingt in seinen Unterricht zurückzuholen. Erst seit 2008 gibt es verbindliche Handreichungen, so sind Hilfekonferenzen mit Lehrern, Jugendamt, Sozialamt und gegebenenfalls Polizei vorgesehen, wenn Schüler ungerührt schwänzen.
Die Bildungsverwaltung kennt nur die Fehlzeiten, die die Schulen melden. Demnach liegt die Quote der unentschuldigt verpassten Unterrichtstage schon seit Jahren bei 1,4 Prozent. Das klingt wenig. Dennoch darf man davon ausgehen, dass etwa 1400 Kinder und Jugendliche länger als einen Monat der Schule fernbleiben. 921 verpassten im vergangenen Schuljahr mehr als 20 Schultage. 478 fehlten sogar mehr als 40 Tage. Für die Grundschüler wird keine Statistik geführt.
Mehr als 19.000 der gut 100.000 Berliner Schüler wiesen in der Vergangenheit unentschuldigte Fehlzeiten auf. Jeder zweite Hauptschüler hatte 2008 unentschuldigte Fehltage auf seinem Konto, jeder sechste Realschüler, jeder fünfte Gesamtschüler und jeder zehnte Gymnasiast. Die Zahl und auch das relative Gewicht der Hardcore-Schulverweigerer sind immerhin gesunken. Vor drei Jahren fehlten noch fast 700 Schüler länger als zwei Monate. Die Bildungsverwaltung von Senator Jürgen Zöllner (SPD) verweist auf zahlreiche Projekte und Anstrengungen, um das Schulschwänzer-Problem anzugehen. 20 Lehrerstellen sind jeweils für Haupt- und für Gesamtschulen eingesetzt, um Schüler, die auch wegen Schwänzens den Anschluss verloren haben, doch noch zum Abschluss zu bringen. Das Förderprogramm Soziale Stadt oder der Europäische Sozialfonds finanzieren in den Bezirken Projekte wie „Move“, für schulmüde Schüler in Mitte. Das Bundesfamilienministerium hat im ganzen Land das Projekt „2.Chance“ aufgezogen, mit Standorten und Kooperationsschulen in den Bezirken Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln.
In Lichtenberg betreut Eva Gottwalles seit anderthalb Jahren für den Träger Caritas Verband die Schulen. Auch sie setzt gegenüber Schulverweigerern und ihren Eltern eher auf Anreize, versucht, die Erziehungskompetenz der Familien zu steigern. Die in Berlin bestehende Möglichkeit, Bußgelder zu verhängen, habe letztlich nicht gefruchtet, sagt die Expertin. Es könne sein, dass die Eltern unter der Drohung von weniger Hartz IV aktiver würden. Aber meist sei die familiäre Situation äußerst prekär. Aber es gebe auch Schulverweigerer, die mit allen Hilfsangeboten nicht erreichbar seien. Deren Anteil schätzt Eva Gottwalles auf 15 bis 20 Prozent. Das heiße aber nicht, dass die Familien das gutheißen. Oft seien die Eltern selbst „verzweifelt und hilflos“.