Jugendgewalt

Ins Koma geprügelt - wegen eines Handys

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Michael Behrendt und Hans Nibbrig

Der Lichtenberger Fall offenbart eine Tendenz bei der Jugendgewalt. Die Gangs schlagen seltener zu - dafür umso brutaler. Ein Richter warnt: Es kann jeden jederzeit und an jedem Ort treffen.

Ein Handy war es, und ein paar persönliche Dinge. Keine Kostbarkeiten, aber wegen ihnen wurde ein 30 Jahre alter Handwerker auf dem U-Bahnhof Lichtenberg beinahe zu Tode geprügelt. Er hatte mit einem Kollegen nach der Arbeit zwei, drei Bier getrunken, die Männer waren auf dem Heimweg. Jetzt liegt der Maler auf der Intensivstation eines Krankenhauses im Koma. Ob er überleben wird, ist nach Auskunft der behandelnden Ärzte noch völlig ungewiss. Das Opfer hat schwere Kopf- und Hirnverletzungen erlitten.

Ähnliche Fälle haben in den vergangenen Jahren für Entsetzen und politische Diskussionen gesorgt. Im Dezember 2007 schlugen zwei junge Männer in München einen Rentner zusammen und verletzten ihn lebensgefährlich, weil er sie bat, in der U-Bahn nicht zu rauchen. Im September 2009 starb der Geschäftsmann Dominik Brunner nach einer Schlägerei mit zwei Jugendlichen an einem S-Bahnsteig in München. Auch in Hamburg und Köln gab es 2010 ähnliche Gewalttaten.

Während Ermittlungen und Vernehmungen laufen, zeigen sich die Polizeibeamten zunehmend entsetzt – schließlich sind die Täter sind zwischen 14 und 17 Jahre alt. Der Fall vom U-Bahnhof Lichtenberg wird aber auch die Debatte über die abschreckende Wirkung von Überwachungsanlagen auf öffentlichen Plätzen beeinflussen. „Die Kameras haben jetzt dafür gesorgt, dass die Polizei die Täter schnell stellen und von ihnen kein weiterer Schaden ausgehen konnte. Aber die Tat verhindert haben die Kameras nicht, der Mann schwebt in Lebensgefahr“, so ein Kriminalbeamter. „Den bewaffneten Schutzmann auf dem Bahnhof kann man nicht durch Linsen und ein paar Drähte ersetzen.“

Hemmungsloser Gewaltausbruch

Die von unfassbarer Gewaltbereitschaft geprägte Tat ist beispielhaft für die Entwicklung, die seit Jahren im Bereich der Gewaltkriminalität von Jugendlichen in Berlin erkennbar ist. Zwar sinkt die Zahl der erfassten Delikte kontinuierlich. Doch die Brutalität, mit der die Taten verübt werden, steigt. Das gilt insbesondere bei Delikten, die von Gruppen begangen werden. „Da wird oft ein völlig hemmungsloser, nicht mehr kontrollierbarer Ausbruch der Gewalt deutlich, es ist fast ein Wunder, dass dabei nicht häufiger Tote zu beklagten sind“, sagte ein Kriminalbeamter, der vornehmlich mit Jugendkriminalität befasst ist. Dass die bereits wehrlos und verletzt am Boden liegenden Opfer noch mit gezielten Fußtritten gegen den Kopf traktiert würden, sei ebenso trauriger Alltag wie der rücksichtlose Einsatz von Waffen, erklärte der Beamte.

Wie viele seiner Kollegen wünscht auch er sich ein noch deutlicheres Zeichen der Justiz gegen solche Gewalttaten. Die Staatsanwaltschaft ist inzwischen längst dazu übergegangen, die Täter bei derartigen Delikten nicht mehr nur wegen gefährlicher Körperverletzung, sondern wegen versuchten Totschlags oder gar Mordversuchs anzuklagen. Eine unbedingte Tötungsabsicht muss dafür gar nicht vorliegen, es reiche aus, wenn die Täter den Tod ihres Opfers „billigend in Kauf nehmen“, wie es in der Sprache der Juristen heißt. Und bei massiven Fußtritten gegen den Kopf eines Menschen könne davon ausgegangen werden, dass der Tod dieses Menschen in Kauf genommen wird. „Auch wenn sich bei der Justiz in den vergangenen Jahren einiges getan hat, Anklagen und Verurteilung wegen versuchter vorsätzlicher Tötungsdelikte könnte es vor allem aus Gründen der Abschreckung ruhig noch öfter geben“, sagte der in einer Polizeidirektion tätige Ermittler.

Der Übergriff in Lichtenberg offenbart auch noch eine weitere Entwicklung. Gewaltdelikte von Jugendlichen, die in Gruppen auftreten, konzentrieren sich längst nicht mehr auf die am stärksten kriminalitätsbelasteten Stadtteile. Die Täter kommen zwar vielfach aus diesen Stadtteilen, agieren allerdings stadtweit. „Es kann jeden jederzeit und an jedem Ort treffen“, lautet denn auch das Fazit eines Jugendrichters am Amtsgericht Tiergarten.