Architektur

Chipperfield fordert neue Ideen für City West

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Ulf Poschardt

Foto: © David Chipperfield Architects

David Chipperfield ist einer der berühmtesten Baumeister der Welt. Mit dem Kudamm-Karree baut er nun zum ersten Mal ein Großprojekt im Westen der Stadt. Ein echtes Abenteuer. Morgenpost Online sprach mit ihm über den Streit um das Projekt und den Kudamm.

Morgenpost Online: Herr Chipperfield, wann waren Sie das erste Mal in West-Berlin?

David Chipperfield: 1981. Damals habe ich den Schinkelpreis erhalten und wohnte in einem kleinen Hotel an der Knesebeckstraße. In totaler Unkenntnis der Stadt stellte ich mir Ost- und West-Berlin als symmetrisch zueinander vor. Ich lief durch die Stadt und war verwirrt, denn eine derart asymmetrische und fragmentierte Stadtstruktur hatte ich noch nie erlebt.

Morgenpost Online: Erschien Ihnen dies als aufregend postmodern oder nur deprimierend?

David Chipperfield: Weder noch. Vieles war Produkt der Katastrophen des 20.Jahrhunderts. Zudem war das eher arme Berlin eine Stadt, in der Dinge aus der Vergangenheit weiterleben durften, die in anderen Städten längst vom florierenden Geschäft vertrieben waren. In Charlottenburg gibt es einen Billardsalon mit fast antikem Neonlicht, der aussieht, als hätte ihn Hollywood für einen Film über die 60er-Jahre rekonstruiert. Und das Beste daran: Es steht derselbe Mann hinter dem Tresen, der schon bei der Eröffnung 1964 dabei war. Derartige Enklaven der Vergangenheit finden sich auch am Kudamm.

Morgenpost Online: Wie Warhols „Time Capsules“?

David Chipperfield: Ja, deshalb sollten Nostalgiker auch in den rührenden alten Geschäften einkaufen, um diese überall sonst untergegangenen Läden am Leben zu halten. In London, wo ich lebe, sind Zeit und Geld derart knapp, dass sie bis auf das Äußerste genutzt werden. Da gibt es weder Freiräume noch Lücken, während Berlin fast unendlich Raum und Zeit anbietet.

Morgenpost Online: Macht das die Stadt so langsam und lethargisch?

David Chipperfield: Ich finde, dass es die Stadt eher liebenswert macht, weil die Menschen die Chance haben, Dingen, auch absurden, nachzugehen, ohne ständig gestresst zu sein. Hier essen Leute im Restaurant, beenden ihre Mahlzeit in Ruhe und fangen dann an, ein Buch zu lesen. Das wäre in London undenkbar. Dafür wäre ein Tisch viel zu teuer.

Morgenpost Online: Wie haben Sie den Kudamm in Erinnerung?

David Chipperfield: Der wirkte Anfang der 80er-Jahre auf eigenwillige Art dicht bevölkert. Das Prominieren geschah unentspannter als in Paris. Die Menschen liefen rauf und runter wie Löwen in einem Käfig. Sie liefen gegen die Beengung West-Berlins an.

Morgenpost Online: Waren Sie geschockt von der Hässlichkeit der Nachkriegsarchitektur?

David Chipperfield: Nein, schlimmer als die Oxford Street in London sah der Kudamm auch nicht aus.

Morgenpost Online: Würden Sie den Kudamm mit der Oxford Street vergleichen? Ist er nicht – bitte verzeihen Sie die Emotionen – schöner und weiter?

David Chipperfield: Er ist großzügiger angelegt, aber die gleiche Art von Einkaufsstraße ist es schon.

Morgenpost Online: Wie sehen Sie die Zukunft des Kudamms, schließlich planen Sie gerade das größte Projekt an diesem Prachtboulevard?

David Chipperfield: Wir müssen über zwei Dinge sprechen: die Hardware und die Software. Die Hardware kommt von den Architekten, aber zum Leben kommt der Kudamm nur durch seine kommerzielle Überlebensfähigkeit und durch Menschen, die dem Kudamm verlorenen Glanz zurückgeben. Die Chancen stehen gut, hatten doch Experten und Makler nach dem Fall der Mauer gedacht, dass schon bald nur mehr im Osten, am Alexanderplatz und in der Friedrichstraße, eingekauft wird und dass der Kudamm langsam dahinsiechen werde. Nun bewahrheitet sich das Gegenteil. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Kudamm munter entwickelt, insbesondere im Luxusbereich.

Morgenpost Online: Das aktuelle Kudamm-Karree ist ein bizarrer Ort. Geht man hinein, wirkt es wie der Besuch einer Geisterbahn …

David Chipperfield: … es ist etwas gespenstisch. Und dann dieses kuriose Hochhaus, versteckt in der Mitte eines Häuserblocks. Wer hat so etwas genehmigt?

Morgenpost Online: Wie geht das eigentlich, heutzutage eine ebenso elegante wie gut funktionierende Einkaufswelt zu bauen?

David Chipperfield: In diesem speziellen Fall heißt das, den Zugang in das Innere des Gebäudeblocks zu erleichtern. Zudem wollen wir den Weg zum Hochhaus freilegen, um dieses dann auch für Mieter wieder interessant zu machen. Am Ende der Passage muss der verlockendste Ankermieter die Passanten von der Straße in das Innere des Blocks ziehen.

Morgenpost Online: Wie eine Mausefalle?

David Chipperfield: So funktioniert das, und die Investoren wissen das. Die Berliner Genehmigungsbehörden hat das nicht sonderlich interessiert. Das finde ich charmant. Im angelsächsischen Raum wäre ein derartiger Umgang mit Investoren unvorstellbar. Die Drohung, das Investment zurückzuziehen, würde Alarmglocken zum Schrillen bringen, nicht so in Berlin. Hier bleiben die Entscheider gelassen: Na dann halt nicht. Dieser Art von Widerstand gegen den kapitalistischen Zeitgeist kann ich einiges abgewinnen, selbstverständlich nur, wenn diese Widerborstigkeit klug artikuliert ist und sich nicht als populistische Blockade-Sause erweist.

Morgenpost Online: Wie findet das der irische Investor, mit dem Sie zusammenarbeiten?

David Chipperfield: Der Investor musste sich da auch umstellen. Am Anfang sind die Meinungen der Stadtplanung und des Investors aufeinander gekracht, dann wurden wir hinzugezogen und haben die Rolle des Mediators eingenommen, auch um dem Bauherrn deutlich zu machen, dass mit einer Architektur, die Städtebauliches ernst nimmt, die Widerstände bei den Westberliner Politikern aufgelöst werden können. Und dann gibt es da noch das Problem der Kudamm-Bühnen. Deren drohender Abriss hat einige Berliner Politiker in Opposition zu dem Projekt gebracht. Deshalb haben wir auch dafür versucht, eine Lösung zu finden.

Morgenpost Online: Sie wollen West-Berlin auch einen neuen Platz schenken, indem Sie ein absurd anmutendes Parkhaus in einer ehemaligen Charlottenburger Prachtstraße abreißen.

David Chipperfield: Das stimmt. Wir wollten ans Ende unserer Passage einen schönen Ort bauen, der Passanten animiert, auch bis ans Ende zu schlendern. Da bot sich die Uhlandstraße an. Je einladender und schöner der Platz gerät, umso lieber kommen die Leute dahin zurück. Aber je länger sich die Verhandlungen und Genehmigungsprozesse hinziehen, umso mehr Geld geht dem Bauen verloren. Mit jedem Monat Verzögerung wird an anderer Stelle, zum Beispiel an der Fassade, gespart werden.

Morgenpost Online: Wie wichtig ist Emotion und Ästhetik für eine Vision dessen, was man heute City West nennt, das einstige Herz von West-Berlin?

David Chipperfield: Eine entscheidende Frage. Was formt eine Stadt – und wie geht das abseits der Renditevorstellungen von Investoren? Früher waren die Gestaltungsmöglichkeiten begrenzter, heute geht tendenziell fast alles, deshalb muss ernsthaft über Gestaltungsleitlinien nachgedacht werden. In England findet dies kaum statt, es gibt dort keinen Stadtbaumeister mehr. Als Jurymitglied für das Berliner Stadtschloss und als Architekt auf der Museumsinsel kann ich nur sagen, dass ich die Deutschen für ihren Eifer, über Architektur nachzudenken, bewundere. Dieses Nachdenken darf vor der City West nicht haltmachen. Dieser Teil der Hauptstadt, zuletzt intellektuell stark vernachlässigt, braucht neue Ideen.

Morgenpost Online: Gerade in Zeiten, in denen Internetshopping das Einkaufen auf Boulevards nur durch das Erlebnis und die Distinktion zum Genuss macht.

David Chipperfield: Richtig. Deshalb mögen Menschen überschaubare Strukturen, Orte und Plätze. Sie wollen die Idee ihres urbanen Kontextes verstehen. Die City of London war einst wundervoll und ist heute ein Albtraum. Gleichzeitig findet an vielen anderen Plätzen eine „Verdörflichung“ statt.

Morgenpost Online: So wie in Berlins schicker Mitte?

David Chipperfield: Genau. Nach der Gentrifizierung einst verschlafener Altstadtquartiere findet deren „Boutiquisierung“ statt. Je niedlicher, umso besser. Menschen lieben es, in kleinen Straßen spazieren zu gehen, Kaffee zu trinken und schöne Dinge wie Parfum einzukaufen. Die Flaneure dort fühlen sich in den sanierten Altbaukiezen wohl und spüren gar nicht mehr, wie künstlich diese Welten sind. Deshalb muss zeitgenössische Architektur dieses Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Nähe bedienen. Am Kudamm-Karree ist dies besonders wichtig, weil es in nächster Nachbarschaft so wunderbar lebendige Kieze gibt, in denen die Menschen gerne Zeit verbringen. Gebaute Stadt muss leben. In meinem Londoner Stadtviertel Marylebone begann man vor 20 Jahren, die traditionellen Gemüse-, Fisch- und Fahrradläden zu vertreiben und durch schicke Modeläden zu ersetzen. Der Witz ist, dass es nicht funktioniert hat. Jetzt sterben die Modeläden ab, und die alten Gemüsehändler kommen zurück.

Morgenpost Online: Kaufhausarchitektur war noch im 19.Jahrhundert eine Königsdisziplin der Architektur. Diese Zeit ist nun vorbei. Warum?

David Chipperfield: Früher waren Kaufhäuser inhabergeführt, und die Inhaber setzten sich mit repräsentativen, mutigen Häusern Denkmäler. Heute stehen dahinter abstrakte Immobilienfonds oder -holdings. Zudem ist viel von der aktuellen Architektur ziemlich rhetorisch und eitel, während die Bauten des 19. Jahrhunderts ehrlich und ohne Bluff auskamen.

Morgenpost Online: Sie haben das modernistische Credo „form follows function“ abgewandelt in „form follows purpose“. Warum?

David Chipperfield: Das habe ich gesagt, weil einem die Funktion wenig vorgibt, wenn man ehrlich ist. Was ist die Funktion eines Wohnzimmers. Es können so viele Dinge sein. Auch bei einem Bad ist das so. Früher durften Fenster im Bad deshalb nur klein sein. Was für ein Unsinn. Die Funktion definiert längst nicht mehr den gestalterischen Gestus anspruchsvoller Architektur.

Morgenpost Online: Heißt das für den Kudamm, Eleganz wäre Zweck eines funktionierenden Boulevards?

David Chipperfield: Bestimmt, auch eine glamouröse Anmutung. Gute Architektur transformiert sich an einem gewissen Punkt weg von seiner puren Physis in eine emotionale Charakterlichkeit. Etwas, was sich selbst definiert.

Morgenpost Online: Wie hart ist es, mit Charlottenburger Politikern zu verhandeln?

David Chipperfield: Die Debatte ist wichtig und der Mut zur Meinung erfrischend. Aber am Ende sollten auch die kritischen Stimmen verstehen, dass es ein großes Geschenk ist, einen Investor gefunden zu haben, der einem nicht profitablen Theaterbetrieb ein neues, spektakuläres Theater baut. Zudem ist das alte Theater dort nur ein Fake. Ich verstehe nicht, warum über diese Theater derart leidenschaftlich debattiert wird, während nur einen Steinwurf weit entfernt authentische Design- und Baukultur zerstört wird. Gegenüber meiner Berliner Wohnung war bis vor Kurzem die Scharoun-Bar, von dem großen Architekten faszinierend gestaltet. Alles war original, intakt, bis vor gut sechs Monaten, da hat man dieses meisterliche Interieur herausgerissen und eingelagert, wie man mir auf Nachfrage sagte.

Morgenpost Online: Das war Udo Walz, der Friseur und Kopf der Berliner Gesellschaft.

David Chipperfield: Ich bedaure das sehr. Was ich damit sagen will, auch in mir arbeitet Nostalgie, aber ich versuche, sie kritisch zu hinterfragen.

Morgenpost Online: Wann öffnet das Kudamm-Karree?

David Chipperfield: Die geplante Fertigstellung ist 2016 – wenn alles gut geht und es nicht weitere Volksabstimmungen gibt. (und lacht)