Lichtenberg hat einen schlechten Ruf, doch die Victoriastadt an der Grenze zu Friedrichshain zählt mittlerweile zu den neuen Trendkiezen für junge Familien und Kreative.

Karsten Hähnel lebt sehr gern in Lichtenberg. 2006 zog er mit Frau und Kindern aus Hellersdorf in den Bezirk, der zahlreiche junge Familien, Künstler und Studenten anzieht - seinem schlechten Ruf zum Trotz. Sie sind Pioniere der "Gentrifizierung", des Aufstiegs einer Wohngegend durch Zuzug und Sanierung. In Westen von Lichtenberg vollzieht sich derzeit genau dieser Prozess.

Ingenieur Hähnel steht auf dem Dach eines Berliner Altbaus knapp östlich des S-Bahnrings und erklärt seinen Kaskelkiez, auch Victoriastadt genannt. "Ein Geheimtipp", sagt der 36-Jährige. Gegenüber das gründerzeitliche Ensemble schmuck sanierter Altbauten mit Stuckfassaden, in Hähnels Rücken der Szenekiez Friedrichshain, in Blickrichtung am Horizont die Plattenbauten des Ostens. "Da hinten ist Lichtenberg, wie man es sich vorstellt", sagt Hähnel. Oft verteidigt er seinen Bezirk gegen Vorurteile. Wer an Lichtenberg denkt, der denkt meist an Neonazis und an die Stasi-Zentrale, an DDR-Tristesse und Plattenbau.

So stellten es sich auch die Banken vor, die Karsten Hähnel 2003 gemeinsam mit sieben Studienfreunden um einen Kredit bat, um im Kaskelkiez ein Haus zu kaufen. Sie bekamen keinen. "Die Sachbearbeiter hatten eine Karte, auf der Lichtenberg tiefrot eingezeichnet war." Keiner glaubte, dass die damals marode Bausubstanz hinterm Bahnhof Ostkreuz zur begehrten Adresse werden könnte. Als die Studenten schließlich doch einen Geldgeber fanden, kauften und sanierten sie das Haus, indem sie - inzwischen Familienväter und erfolgreich im Beruf - heute wohnen. In einem aufstrebenden Umfeld. Mehrere Cafés haben im Kiez eröffnet, im Sommer kam nebenan ein Hostel hinzu. "Wir haben auf diese Entwicklung gehofft", sagt Hähnel. "Dass es so schnell geht, haben wir nicht gedacht." Dabei locken niedrige Mieten und sanierte Wohnungen. 80 Millionen Euro flossen allein von staatlicher Seite in das "Sanierungsgebiet" Kaskelkiez, das eingezwängt zwischen drei S-Bahnlinien hinter dem Ostkreuz liegt. Seit 1996 ist die Zahl der Einwohner um 38 Prozent gestiegen. Jeder dritte Bewohner ist zwischen 25 und 35 Jahre alt. Nun werden die Wohnungen knapp. Das Gebäude der Studienfreunde hat sich im Wert verdoppelt.

Im Erdgeschoss haben die Ex-Studenten das Café "Je länger je lieber" eingerichtet, mit Wänden in warmen Erdtönen und gelben Rosen auf den Tischen. Sonntags schaut man den "Tatort" auf Leinwand. Prenzlauer Berg in Lichtenberg.

Vom Hausbesetzer zum Mieter

Es hätte auch anders kommen können: Die DDR wollte in ihren letzten Jahren alles abreißen und Plattenbauten errichten, die Wiedervereinigung und zahlreiche Hausbesetzer verhinderten das. Die Rettung für die Gründerzeit-Architektur, die heute unter Denkmalschutz steht. "Milljöh"-Zeichner Heinrich Zille lebte einige Jahre in der Pfarrstraße.

Jens Schlathölter war einer der Hausbesetzer. Nach der Maueröffnung ging er, damals Kunststudent aus Kreuzberg, zum ersten Mal hinüber in den Kaskelkiez. Und blieb. "Hier gab es diese Aufbruchstimmung", sagt er. Illegal bezog er mit ein paar Kumpels ein leerstehendes Abbruchhaus. Der 46-Jährige wohnt noch immer darin, inzwischen im sanierten Altbau, als regulärer Mieter. Als einer von 66 Künstlern arbeitet Schlathölter auf dem einstigen Bahngelände am S-Bahnhof Nöldnerplatz. In den "BLO-Ateliers", malt er Bilder auf Spannrahmen. Ende der 80er wurden im Lokschuppen nebenan die letzten Dampfloks der DDR abgewrackt. Heute nutzen Maler, Modedesigner, Installationskünstler das Gelände. "In Lichtenberg gibt es noch solche Brachflächen und somit Raum für Kreativität", sagt Daniel Rabe, der 2004 die Ateliers mitgründete.

Der Arbeitsraum in Mitte war ihm zu teuer geworden, also zog er in die frühere Starkstrommeisterei auf dem einstigen Reichsbahngelände. "Die Leute sind auf der Suche nach neuen Orten, nach Raum zur Entfaltung", sagt Rabe. "Weil die Mitte Berlins zu kommerziell wird, gewinnen die Randbezirke an Strahlkraft." Auch die BLO-Ateliers wurden wie die Sanierungen im Kaskelkiez nebenan mit EU-Geld gefördert.

Außerhalb des S-Bahnrings hat sich viel getan: In der Rummelsburger Bucht sind schicke Townhouses mit Spreeblick entstanden, nördlich locken die Altbauwohnungen und die Nähe zu Friedrichshain. Die Frankfurter Allee Nord ist bei Studenten beliebt. Sie soll zum Sanierungsgebiet werden. Eine Voruntersuchung der Gegend überraschte diesen Sommer selbst den Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Andreas Geisel (SPD). "Wir waren davon ausgegangen, dass die Gegend überaltert sei. In Wahrheit lag das Durchschnittsalter der Bewohner bei nur 35 Jahren", sagt Geisel. Der Zuzug aus Friedrichshain und Prenzlauer Berg sei in den vergangenen zwei Jahren besonders massiv gewesen. Geisel will verstärkt um Familien werben. Mindestens sechs neue Kindertagesstätten sollen im Bezirk entstehen. Das ist dringend nötig, denn der Wandel Lichtenbergs hat die Planungen längst überholt: Zwar wurden etwa in Karlshorst eigens 150 Kita-Plätze neu geschaffen, aber weil im selben Zeitraum 300 Kinder neu in den Ortsteil kamen, gibt es nun Wartelisten. Der Wohnungsleerstand in Lichtenberg insgesamt ist auf 3,5 Prozent gesunken.

Geisel ist selbst mit seiner Familie aus Prenzlauer Berg in den Bezirk gezogen. "Dort wurde es uns zu teuer. Hier kann man für weniger Geld ruhig wohnen und hat die Szenekieze trotzdem vor der Haustür." Im Berliner Bewusstsein sei das nur noch nicht angekommen. Der 44-Jährige wohnt in Karlshorst, wo aus russischen Kasernen attraktive Wohnanlagen wurden. Auch die Arrestgebäude des einstigen Gefängnisses Rummelsburg werden zu Luxuswohnungen und Lofts umgebaut. Die Nachfrage auf dem sogenannten "Berlin Campus" ist groß.

Intaktes Umfeld für Familien

Der Wohnungsbaugesellschaft Howoge gehört jede dritte Wohnung in Lichtenberg. Sie hat allein im vergangenen Jahr 970 000 Euro im Bezirk investiert und wirbt mit den niedrigsten Nebenkosten Berlins: knapp zwei Euro pro Quadratmeter. Gezielt fördert die Howoge in Lichtenberg auch Sportvereine, ein intaktes Umfeld stärkt den Wert der Immobilien.

Ex-Hausbesetzer Jens Schlathölter ist skeptisch. Der 46-Jährige hat miterlebt, wie schnell Friedrichshain nebenan sich gewandelt hat, damals nach der Wende. "Es ging damit los, dass Künstler in ihren Privatwohnungen oder Ateliers einfach mal den Plattenspieler angemacht und Bier verkauft haben. Daraus entstanden Bars und Kneipen, die Leute kamen auch aus anderen Kiezen. Das landete schließlich im Reiseführer. Mit der Laufkundschaft kamen Restaurants und Imbisse", sagt Schlathölter. Am Ende sieht man dann junge Briten auf Junggesellenabschied in Superman-Kostümen auf der Straße. "Eine Fressmeile ist das heute." So werde es im Kaskelkiez nicht kommen. Die Abgrenzung durch die S-Bahnlinien schützt vor Laufpublikum aus dem Szenekiez nebenan.

Am Tuchollaplatz mit seinen originalgetreu wieder aufgestellten grünen Laternen und Wasserpumpen betreibt Hans-Joachim Albrecht eine Eisenwarenhandlung. Vor zwei Jahren saß sein Geschäft im größeren Laden nebenan, aber das rechnete sich nicht mehr. Dort sitzt nun der Versand "Berliner Töchter" und verkauft Fotokunst. Wo Althergebrachtes weicht, rückt die Kreativwirtschaft nach. Dass junge Menschen herziehen, merkt der 60-Jährige. "Die kaufen bei mir Dübel und was man so braucht zum Umzug."

Die Metzgerei an der Spittastraße stand jahrelang leer. Thomas Kilpper ersteigerte sie, trug den Verkaufstresen heraus und eröffnete eine Galerie, die er "After the butcher" (Nach dem Metzger) nannte. Geradezu ein Sinnbild für Gentrifizierung.

Vor zehn Jahren schimpften die Leute im Quartier, weil Metzgerei, Zoohandlung und Bibliothek aufgaben. Nun siedeln sich Läden an, wie 2009 das "Madeleine und der Seemann", eine Videothek mit anspruchsvollen Filmen. Das könnte auch nach Prenzlauer Berg passen, aber die älteste Kundin sei 82, sagt Betreiberin Anne Petersdorf. "Wir wollen uns an alle wenden, nicht nur an Zugezogene."

Max Korn profitiert von jungen Leuten. In seiner Werkstatt am Tuchollaplatz wendet der Goldschmied einen Ring in einer blauen Flamme. "Eheringe werden verstärkt nachgefragt", sagt der 35-Jährige. "Dafür hat die Suppenküche zugemacht. Bedürftige gibt es wohl nicht mehr."

Baustadtrat Andreas Geisel fürchtet bereits, dass steigende Mieten die Familien und Künstler auch hier verdrängen könnten - in den nächsten Kiez.