Forschung

Berlin ist die "Hauptstadt der Tierversuche"

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Tanja Laninger

Foto: Christian Kielmann

Nirgendwo sonst in Deutschland experimentieren Forscher so intensiv an Tieren wie in der Hauptstadt. 367.438 Mäuse, Ratten, Hamster, Vögel und Fische wurden nach Angaben der Berliner Behörden im Jahr 2008 zu Versuchszwecken eingesetzt, 5,2 Prozent mehr als 2007. Das sind viel zu viele, sagen Tierschützer.

Geduldig nimmt der Mann die Maus in die Hand und misst ihren Blutdruck. Er trägt Handschuhe. Sie ist dick. Nicht ohne Grund: Das Deutsche Institut für Ernährungsforschung beschäftigt sich mit Fettleibigkeit sowie Diabetes und hat 2008 eine natürliche Mutation im Tbc1d1-Gen identifiziert, die Mäuse trotz fettreicher Kost schlank bleiben lässt und vor Diabetes schützt. Das könnte eine Basis sein für die Entwicklung neuer Therapien und zur Prävention.

Das Institut bei Potsdam war die einzige Einrichtung, die ihr Versuchstierhaus in den vergangenen Wochen für Morgenpost Online zugänglich gemacht hat. Wir mussten uns anmelden, in einer Schleuse mit unseren Schuhen über eine desinfizierende Lösung laufen, sterile Plastikstulpen überziehen und gereinigte Kittel. Fremde Keime können tödlich sein für die Zuchttiere. Mitarbeiter tragen Handschuhe und Mundschutz.

Im Quarantäneraum füllen Plastikkäfige eine ganze Wand. Spielzeug gibt es nicht, besonders aktive oder immens träge Tiere könnten Messergebnisse verfälschen. In der Regel ist nachts das Licht an, tagsüber aus – Mäuse sind nachtaktiv. Die Tiere erhalten verschiedene Kombinationen von Nahrungsbestandteilen. Wöchentlich wird jede Maus gewogen, in einem Kernspin ihre Körperzusammensetzung gemessen. Nach acht Monaten kommt der Tod, und die Forschung geht weiter: Die Organe werden auf Veränderungen hin untersucht. Im Bestand leben 12.000 Tiere, täglich werden rund 1000 Tiere untersucht.

Deutschlandweit gab es 2007 rund 2,6 Millionen Versuchstiere

Mäuse stellen den Großteil der Labortiere. Die Zahlen steigen Jahr für Jahr. 304.141 Mäuse wurden im Jahr 2008 in Berlin zu Versuchszwecken eingesetzt, im Jahr zuvor waren es 283.000. Dazu kamen Ratten und Hamster, Vögel und Fische. Nicht mehr auf der Liste der Versuchstiere 2008 stehen Reptilien, Neuweltaffen und Wachteln. „Insgesamt“, sagte Franz Allert, der Präsident des Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), „wurden in Berlin im vergangenen Jahr 367.438 Tiere zu Versuchszwecken eingesetzt.“ Das sind 5,2 Prozent mehr als 2007. Deutschlandweit gab es 2007 rund 2,6 Millionen Versuchstiere. In Berlin prüft die Tierversuchskommission beim Lageso alle Anträge zu Tierversuchen auf Haltungsbedingungen und Schmerztherapien. Rund 40 Prozent sind genehmigungspflichtig und werden am genauesten untersucht.

Über die Entwicklung zeigt sich Wolfgang Apel, der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, erschüttert. „Die Zahlen sind ein Skandal. Schon wieder ist Berlin Hauptstadt der Tierversuche.“ Der Verweis auf Mäuse mache die Sache nicht besser. „Das sind auch Tiere, die Schmerzen empfinden und Gefühle haben.“ Alle Beteuerungen der Politik, die Zahlen zu senken, seien ohne Konsequenz geblieben. „Was wir jetzt brauchen, sind Taten statt Worte“, sagte Wolfgang Apel.

„Teilweise sind Tierversuche aber gar nicht zu ersetzen“, hält Professor Stefan Mundlos (50) dagegen. Er leitet das Institut für medizinische Genetik an der Charité und beschäftigt sich mit den genetischen Ursachen von Erkrankungen wie Herzfehlern, Nierenerkrankungen und Skelettfehlbildungen.

Tierschutzbeauftragte überwachen die Einhaltung von Vorschriften

Nach Angaben des Lageso liefen 2008 rund 1300 Tierversuchsprojekte. Die Charité mit ihren zahlreichen Instituten ist der Hauptantragsteller. Den größten Anteil an Versuchstieren haben auch dort die gentechnisch veränderten Mäuse. „Diese Tiere werden nach EU-weit harmonisierten Bedingungen vor Ort gezüchtet und gehalten“, sagt Charité-Sprecherin Kerstin Enderle. Neun Tierschutzbeauftragte überwachen dort die Einhaltung von Vorschriften des Tierschutzes, beraten die Experimentatoren, beziehen Stellung zu Anträgen und wirken auf die Einführung von alternativen Methoden hin.

Der Vorsitzende der Berliner Tierversuchskommission, Olaf Loge, nennt ihre Funktion weltweit einmalig. „Ich wäre froh, wenn Japaner und andere bei uns ihre Forschung an Tieren betreiben würden. Denn das deutsche Tierschutzgesetz gehört zu den schärfsten weltweit – hier haben es die Tiere im Vergleich noch am besten, was Genehmigungspflichten und Fachkenntnis der Forscher betrifft.“

Auch Mundlos und seine Mitarbeiter arbeiten an Mäusen. Denn aufgrund neuerer genetischer Techniken kann man Mäuse so verändern, dass ihre Krankheit der eines Menschen entspricht – das sind die sogenannten transgenen Tiere. „Da viele Gene in Mensch und Maus gleich funktionieren, können wir in der Maus Modelle für menschliche Erkrankungen konstruieren“, sagt Mundlos.

Er will herausfinden, warum bestimmte Teile des Extremitätenskeletts nicht richtig angelegt oder verdoppelt sind oder warum das Wachstum nicht richtig funktioniert. „Für die Diagnostik brauchen wir ein Modellsystem, wie Fehlbildungen entstehen.“ Bei diesen Krankheitsentwicklungen handele es sich um vierdimensionale, entwicklungsbiologische Prozesse: in den drei Dimensionen des Raumes und über die Zeit. Diese Komplexität lasse sich nicht in tierversuchsfreien Zellkulturen abbilden, sagt Mundlos. „Krankheitsprozesse beziehen den ganzen Organismus mit ein. Deshalb denke ich, wir werden sie nie komplett ohne Tierversuche untersuchen können.“

Ausbau tierversuchsfreier Forschung gefordert

Tierversuchsgegner fordern dagegen, im Zweifelsfall auf Erkenntnisse zu verzichten. Bei einem Symposium, das das Lageso im vergangenen Oktober ausgerichtet hat, schlugen sie vor, eine Datenbank einzurichten. Inhalt: bereits durchgeführte Tierversuche und ihre Ergebnisse, die negativen inklusive. Damit wäre eine unnötige Mehrfachforschung zu einer Idee oder Hypothese zu verhindern.

Den Ausbau tierversuchsfreier Forschung fordert auch Brigitte Jenner. Die 64-Jährige ist Vorsitzende der Tierversuchsgegner Berlin-Brandenburg. „Als wir 1981 anfingen, steckte die Erforschung von Alternativen zu Tierversuchen in den Kinderschuhen. Wir haben das durch permanenten Druck ins Rollen gebracht.“ Zum Beispiel bei der Aszitis-Maus. „Bis 1990 haben wir immer wieder zu hören bekommen, dass man monoklonale Antikörper nur in der Aszitis-Maus gewinnen kann – ein sehr schmerzhafter Prozess für die Tiere.“ Mediziner brauchen monoklonale Antikörper, um Krankheiten zu diagnostizieren und Therapien zu entwickeln. Inzwischen können Antikörper auch ohne Mäuse in speziellen Rotationskammern gewonnen werden.

Stiftungsprofessur zur Erforschung alternativer Methoden

Das Land Berlin will inzwischen eine Stiftungsprofessur zur Erforschung alternativer Methoden einrichten, Senatorin Katrin Lompscher (Linke) hat jüngst von „Fortschritten“ und „einer intensiven Diskussion mit der Freien Universität“ gesprochen. Deren Vizepräsidentin Monika Schäfer-Korting hat im März ein neues Projekt begonnen, das ihre Untersuchungen zur Resorption der Haut fortsetzt.

Ziel ist es, ohne Tierversuche zu erkennen, welche Substanzen Gifte in der Haut entstehen lassen, die zum Beispiel das Erbgut verändern oder zur Allergisierung führen. Sie habe noch nie einen Tierversuch beantragt, sagt die Professorin. Doch auch sie „muss anfügen, dass es Punkte in meiner Forschung gibt, wo das nötig wird“. Ein Beispiel ist die Entwicklung eines Arzneimittels gegen Hautkrebs, für das der Gesetzgeber ab einer bestimmten Stufe Tierversuche zwingend vorschreibt. „Ohne toxikologische Prüfung im Tierversuch darf in Deutschland kein Arzneimittel am Menschen untersucht werden. Wenn Sie an den Menschen wollen, müssen sie zuerst ans Tier“, sagt Schäfer-Korting. Nur so könne man die Verantwortung für die Versuchspersonen in klinischen Prüfungen übernehmen. Die Versuche mit dem Tumormittel führte ein Toxikologe aus Hamburg durch. An Mäusen.