Gisela Differt ist verwundert. Die Sträucher sind geschnitten, die Glasscherben auf den Gehwegen weggefegt, die Mülleimer geleert. „Seit 50 Jahren wohne ich hier am Leopoldplatz. So sauber war er zuletzt, als ich eingezogen bin“, sagt die Seniorin mit den hellblonden Haaren. „Dann muss ich wohl jeden Tag wiederkommen“, antwortet der Mann, für den so kräftig geputzt wurde. Berlins Regierender Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) ist auf Bezirkstour. Im Kampf gegen sinkende Umfragewerte will sich der Senatschef nun als Kümmerer präsentieren. Der Imagewandel soll im Bezirk Mitte beginnen, nicht dort, wo Mitte glitzert – rund um das Brandenburger Tor und die Hackeschen Höfe. Wowereit geht auf die Straße, in den Kiez nach Moabit und Wedding.
Die Inszenierung für den Arbeitstag an der Basis sieht einen Schulbesuch, eine U-Bahnfahrt und einen Rundgang um den Leopoldplatz vor. Erste Station: die Hedwig-Dohm-Oberschule. In der Stephanstraße 27 in Moabit wird umgesetzt, was die rot-rote Koalition beschlossen hat. Hier fusionieren eine Real- und eine Haupt- zu einer Sekundarschule mit 430 Schülern, die im Sommer ihren Betrieb aufnehmen soll. Ein großes Plakat am alten Klinkergebäude verweist auf Geld vom Konjunkturpaket II, von dem jetzt neue Klassenräume, eine neue Heizung und eine Mensa bezahlt werden. Besseres, individuelleres Lernen bis hin zum Abitur und mehr Chancen auf einen Ausbildungsplatz soll die neue Schulform ermöglichen. So die Vorgaben der Politik.
Polizisten am Tisch
Auf die Wirklichkeit trifft Wowereit an diesem Tag in der Aula. Schulleiter Josef Widerski hat Schüler und Lehrer, aber auch Polizisten vom Abschnitt 33, Elternlotsen, einen engagierten Unternehmer und Sozialarbeiter zum Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister gebeten. „So eine Runde hätte es vor 20 Jahren bei der Präsentation einer Schule nicht gegeben“, sagt Wowereit. Nicht nur Wissensvermittlung, sondern soziales Lernen stehe im Mittelpunkt, sagt der Regierende Bürgermeister.
Die Ganztagsschule muss die Defizite vieler Familien ausgleichen. Wie schwierig das ist, berichtet Lutz Löbner. Er ist Personalleiter von Atotech, einem Galvanisierungsbetrieb, der sich intensiv um die Schüler der Hedwig-Dohm-Oberschule kümmert. Er sage den Schülern immer in den Vorstellungsgesprächen, die man in der Schule übe, wie wichtig neben den Deutschkenntnissen und den Grundrechenarten auch Tugenden wie Pünktlichkeit sind. Er versuche, den Jugendlichen Mut zu machen. „Alles, was man erreichen will, muss man sich im Leben hart erarbeiten“, so der Personalchef. Wowereit nickt. Aufstiegsmentalität, nennt das der Regierende Bürgermeister.
Etwas ändern wollen, zum Besseren. Diesen Aufstiegswillen will Wowereit wieder wecken. Aber Personalleiter Löbner warnt vor zuviel Zuversicht: „Meine Erfahrungen sind durchwachsen.“ Trotz einer intensiven Betreuung auch durch Sozialarbeiter, die von Klasse acht bis zehn insgesamt 160 Stunden Berufsvorbereitung unterrichten, erhalten nur zehn von 70 Abgängern einen Ausbildungsplatz.
Viele bewerben sich erst gar nicht. „Es gibt etwa drei bis vier pro Klasse, die sich um einen Job bemühen“, erzählt die 17-jährige Vanesa. Für viele Mitschüler endet der Weg nach der Oberschule im beruflichen Nichts. Doch diese triste Zukunft ist für die Siebt- bis Zehntklässler am Mittag für einen Augenblick verschwunden. Als Klaus Wowereit den Schulhof betritt, wird er wie ein Popstar empfangen, mit Jubel, mit Autogramm- und Fotowünschen.
Wowereit weiß um die Macht der Bilder. Auch kurze Zeit später. Als er bewusst mit der U-Bahn zum Leopoldplatz weiterfährt. Die Fahrkarte steckt ihm sein Referent zu. Bloß keinen Fehler machen. So wie der Konkurrent, CDU-Chef Frank Henkel, der sich kürzlich mit einer übertragbaren Karte seiner Eltern herausreden musste.
„Rück mal einen Zwanni raus“
Das Empfangskomitee am Leopoldplatz ist aggressiv. „Rück doch mal einen Zwanni raus“, begrüßt ein Obdachloser den Regierenden Bürgermeister, als er aus dem U-Bahnhof tritt. Wowereit geht auf die Gruppe zu, redet mit ihr. Trinker, Drogenabhängige mit ihren Hunden bevölkern den Platz und machen Anwohnern das Leben schwer. „Ich wohne hier seit 27 Jahren“, sagt Christel Tylinski. „Früher habe ich am Platz nach der Arbeit gesessen. Jetzt sind hier nur noch Drogen“, sagt die ehemalige Einzelhandelskauffrau.
Sie hat Unterschriften gesammelt. 70. Gegen die Verwahrlosung. „Man kann doch nicht nur was für die sozial Schwachen tun. Wann passiert endlich etwas für uns?“ Ein Druckraum für die Fixer müsse her, damit die wegkommen vom Leopoldplatz. Unterstützung erhält die 68-Jährige von Martina Sarzio, die sich seit 25 Jahre für die evangelische Nazareth-Kirchengemeinde engagiert. „Unsere Erzieherinnen in der Kita werden vom Arbeitsschutz vor Spritzen auf dem Spielplatz der Kita gewarnt. Helfen Sie uns, Herr Wowereit“, sagt die Frau, die aus Protest den Vorplatz der Kirche, der der Gemeinde gehört, mit rotem Flatterband abgesperrt hat.
Auf die vielen Probleme – das weiß Wowereit – gibt es keine einfache Antwort. Er verweist auf das Quartiermanagement, das sich mit Sozialarbeitern und Ehrenamtlichen kümmert. „Eine Patentlösung gibt es nicht“, sagt Wowereit. Der CDU-Fraktionsvorsitzende in Mitte, Thorsten Reschke, kommentiert den Besuch: „Willkommen in der Wirklichkeit, Herr Wowereit.“