Statistik

Gewalt an Berliner Schulen nimmt zu

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Regina Köhler

Foto: dpa / DPA

Prügeleien unter Schülern, Bedrohungen, Mobbing, extremistische Provokationen oder sexuelle Nötigung – die Liste der gemeldeten Gewaltvorfälle an Berliner Schulen ist lang. Und sie wird immer länger. Denn noch nie wurden so viele Gewalttaten gemeldet wie im Schuljahr 2008/2009.

An Berlins Schulen sind im vergangenen Schuljahr mehr Gewalttaten gemeldet worden als je zuvor. Im Schuljahr 2008/09 stieg die Zahl der registrierten Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr von 1631 auf 1871 (plus 13 Prozent). Dabei haben die Schülerzahlen im gleichen Zeitraum um etwa zwei Prozent abgenommen. Das geht aus dem Gewaltbericht hervor, den Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) am Donnerstag vorlegte.

Unklar ist, ob es tatsächlich mehr Gewaltvorfälle gibt oder schlicht mehr Meldungen. Laut Bildungsverwaltung seien die Gewaltmeldungen nach dem Amoklauf in Winnenden vor einem Jahr sprunghaft angestiegen. Lehrkräfte hätten sich verunsichert gezeigt und ihre Sorge geäußert, gefährliche Entwicklungen nicht richtig einzuschätzen oder Eskalationen nicht verhindert zu haben. Deshalb hätten deutlich mehr Lehrer entsprechende Vorfälle gemeldet.

Jede zweite Schule meldet Vorfälle

Durchschnittlich meldete etwa jede zweite Berliner Schule Gewaltvorfälle. Der Bericht zeigt, dass aus den Grundschulen (rund 39 Prozent) die meisten Meldungen kamen, gefolgt von den Sonderschulen (rund 21 Prozent) und den Gesamtschulen (rund 13 Prozent). Opfer von Gewalthandlungen waren in 70 Prozent der Fälle Schüler, in 20 Prozent der Fälle Schulpersonal.

Wie bereits im vergangen Jahr haben die Bezirke Mitte mit 20 Prozent und Neukölln mit 17 Prozent die meisten Gewaltvorfälle zu verzeichnen. In diesen beiden Regionen ist der prozentuale Anteil der Schüler aus sozial schwachen Schichten als auch nichtdeutscher Herkunftssprache am höchsten. Aus Charlottenburg-Wilmersdorf kamen die wenigsten Gewaltmeldungen (unter vier Prozent), gefolgt von Tempelhof-Schöneberg und Spandau mit jeweils knapp fünf Prozent.

Körperverletzungen werden am häufigsten gemeldet

Bei den Delikten stehen Körperverletzung mit 65 Prozent der Meldungen und Bedrohung mit etwa 19 Prozent ganz oben auf der Liste. Insbesondere im zweiten Schulhalbjahr wurden deutlich mehr Fälle körperlicher Gewalt und Bedrohungen gemeldet als im ersten Schulhalbjahr und im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Die nächste Gewaltstatistik dürfte indes einen deutlichen Rückgang der Zahlen aufweisen. Wie jetzt bekannt wurde, müssen die Schulen seit diesem Schuljahr Vorfälle wie Schlägereien, Beleidigungen von Lehrern oder Sachbeschädigungen nicht mehr unbedingt melden. Die Bildungsverwaltung spricht von einer Entbürokratisierung des Verfahrens.

In den Bezirken jedoch wird die neue Meldepraxis kritisch gesehen. Die Offenlegung aller Probleme sei notwendig, um Abhilfe schaffen zu können, sagte etwa Wolfgang Schimmang (SPD), Bildungsstadtrat in Neukölln. Die neue Meldepflicht würde ein falsches Bild von Gewalt an Schulen geben.

Das zeige sich bereits in seinem Bezirk. Während dort im ersten Schulhalbjahr 2008/09 noch 123 Vorfälle registriert worden sind, waren es im gleichen Zeitraum 2009/10 nur noch 82. Dieser Rückgang ist laut Schimmang damit zu erklären, dass viele Schulen Gewaltprobleme gar nicht mehr gemeldet haben.

René Faccin vom Landeselternausschuss kritisierte vor dem Hintergrund, dass viele Schulen einfach wegsehen, bestimmte Vorfälle nicht melden oder nicht konsequent genug gegen Gewalt vorgehen. „Nach den Ursachen der Gewalt an Schulen wird nicht gesucht“, sagte der Elternvertreter. Die Schulen müssten viel früher eingreifen, bestimmte Dinge wie Mobbing gar nicht erst zulassen und auch das Verhalten der Lehrer auf den Prüfstand stellen. Deren Umgangston gegenüber den Schülern sei oft nicht angemessen, so Faccin.

Faccin bezeichnete es außerdem als taktischen Schachzug der Bildungsverwaltung, den Gewaltbericht am Jahrestag des Amoklaufs zu veröffentlichen. Man könne die Zunahme der Gewaltvorfälle nicht als Auswirkung des Amoklaufs abtun, sagte er. „Damit gibt die Bildungsverwaltung ihre Verantwortung ab.“ Die meisten Vorfälle gebe es an Grundschulen, „dort wussten die Schüler von dem Amoklauf kaum etwas.“ Faccin macht hingegen die Kultur der Verrohung, die an den Grundschulen beginnt, für die Zunahme der Gewalt verantwortlich. Er forderte, dass sämtliche Vorfälle der Polizei gemeldet werden müssen. „Dort sind die Profis, die angemessen mit den Vorkommnissen umgehen“, sagte er.

Gewaltprävention eine wichtige Rolle in den Schulprogrammen

Sascha Steuer, Bildungspolitiker der CDU, forderte den Senat angesichts der immer schwieriger werdenden Situation in den Schulen auf, sich mehr um die Probleme jeder einzelnen Schule zu kümmern und für optimale Rahmenbedingungen zu sorgen. Es sei ein Skandal, dass nur zehn Prozent der Lehrkräfte einer Schule eine Ausbildung als Ersthelfer machen müssen, um die Versorgung von Kindern im Ernstfall zu gewährleisten. „Das bedeutet, dass eine Lehrkraft etwa 100 Kinder versorgen muss. Das ist erschreckend.“

Steuer forderte den Senat auf, auch im kommenden Schuljahr bei der bisherigen Meldepraxis von Gewaltvorfällen zu bleiben. „Es darf keine Fälschung der Statistik geben“, sagte er.

Die Bildungsverwaltung betonte, dass Gewaltprävention eine wichtige Rolle in den Schulprogrammen spiele. Das solle auch in den künftigen Sekundarschulen so sein. Alle Schulen hätten die „Berlin-Brandenburger Anti-Gewalt-Fibel“ und die Kartei „Gute Schule“ bekommen, die viele Hinweise zur Schulkultur sowie zum Umgang mit Konflikten und zur Kooperation enthielten. An den Grundschulen sei in Kooperation mit der Suchtprävention und der Schulpsychologie das „Buddyprojekt“ weiter geführt worden. Die Präventionsbeauftragten der Polizei stehen allen Schulen auf Anfrage zur Verfügung.

Als unmittelbare Reaktion auf die Amoktat wurden in Berlin in enger Zusammenarbeit mit der Polizei die Notfallpläne der Berliner Schulen zu den Themen „Amokdrohung“ und „Amoklauf“ aktualisiert. Schulleiter sollen zum Thema Amokprävention fortgebildet werden.