Vor vier Jahren wurde die Türkin Hatun Sürücü von ihrer eigenen Familie erschossen, weil sie frei sein wollte. Im April 2006 wurde ihr Bruder Ayhan wegen Mordes zu einer Jugendhaftstrafe von neun Jahren verurteilt.

"Wir wissen, wo du bist. Und wenn Du nicht nach Hause kommst ... Du weißt, was passiert." So lautet eine SMS, die Semirah (Name geändert) von ihrem Bruder bekommen hat. Er drohte mit Gewalt, er drohte mit Mord. Da war Semirah schon eine Weile weg von Zuhause, geflüchtet zu Verwandten und untergetaucht beim Mädchennotdienst von Wildwasser. Die 15-Jährige sollte in den Herbstferien 2008 einen Mann aus der Heimat ihrer Eltern heiraten, aus Tunesien. Semirah hatte ihn noch nie gesehen. Und Semirah war längst in einen anderen verliebt.

"Als meine Eltern das mitbekommen haben, durfte ich nicht mehr ohne meine Mutter auf die Straße", erzählt die Jugendliche. Sie lebt heute in Berlin. Anonym in einer Wohngemeinschaft von Wildwasser. Mit Geheimadresse. Sie besucht ein Gymnasium. Sie will Abitur machen. Und sie möchte später den Mann heiraten, den sie sich selbst ausgesucht hat. Den sie liebt.

Aber sie vermisst ihre Familie, ihre Freunde, ihre Bekannten - wie die anderen sieben Bewohnerinnen der Wildwasser-Schutz-WG. "Wenn sie Kummer haben oder Krankheiten, spätestens dann ist ein Leben in der Anonymität nur schwer zu ertragen", sagt Irina Leichsenring, Bereichsleiterin von Wildwasser. Der Verein hat 1989 seine erste Zufluchtswohnung in Berlin eingerichtet und betreut jährlich bis zu 120 Mädchen.

Zehn Prozent sind von Zwangsheirat bedroht. Im Jahr 2007 sind in Berlin 378 Fälle von Zwangsverheiratung bekannt geworden. 86 Mal kam es zur Eheschließung, in 77 Prozent der Fälle wurde sie angedroht. "Sowohl bei Mädchen als auch Jungen war die Altersgruppe der 16- bis 18-Jährigen am stärksten betroffen, gefolgt von der Gruppe der 19- bis 21-Jährigen", sagt Bürgermeister Franz Schulz (Grüne) aus Friedrichshain-Kreuzberg.

Es ist die Klientel, um die sich bei Wildwasser zehn Sozialpädagoginnen, Psychologinnen und Erzieherinnen kümmern. Sie stammen zur Hälfte aus dem Iran, der Türkei, aus Kasachstan, Polen und Syrien. Sie helfen, aber Familie und alte Freunde können sie nicht ersetzen. "Jedes Mädchen muss seinen Weg selbst gehen", sagt Semirahs Betreuerin Nasi Alimardani.

Hatuns Freunde ahnten die Gefahr nicht

Eine andere Frau ist von diesem Weg abgedrängt worden in den Tod: Heute vor vier Jahren wurde die 23-jährige Hatun Sürücü von ihrem 18 Jahre alten Bruder Ayhan auf offener Straße erschossen. Hatun war zwangsverheiratet worden, hatte sich aus der Verbindung gelöst und ihren Sohn Can mit Hilfe des Jugendamtes allein aufziehen wollen. Auch sie suchte die Nähe zu ihrer Familie. Doch die lehnte den westlichen Lebensstil der jungen Frau ab. Mit tödlicher Konsequenz.

"Alle Freunde sind nach Hatuns Tod in ein tiefes Loch gefallen", sagt Andreas Becker. Er war einer davon. Nichts habe man geahnt von der Gefahr, in der sich die junge Frau damals befand. "Ich habe sie ungefähr eine Woche vor ihrem Tod getroffen. Sie war ausgelassen, hat gelacht", erzählt der 39-Jährige.

Warum konnten wir ihren Tod nicht verhindern? Diese Frage ließ Hatuns Freunde nicht mehr los. Deshalb entschieden sich sieben von ihnen im Juni 2006, den Verein "Hatun und Can" zu gründen. Am zweiten Todestag nahm dieser seine Arbeit auf. Und konnte bislang rund 2000 Menschen sofort helfen. "Es geht um Frauen, die vor einer Zwangsverheiratung fliehen, genauso wie um solche, die eine Scheidung wollen oder einen Partner haben, der der Familie nicht genehm ist", erklärt der Vereinsvorsitzende Becker.

Täglich drei bis vier Anfragen

Ursprünglich arbeitete er als Bürovorsteher einer Anwaltskanzlei. "Die Arbeit für den Verein hat schnell so einen großen Umfang angenommen, dass ich schon nach zwei oder drei Monaten meinem Beruf nicht mehr nachgehen konnte." Täglich drei bis vier Anfragen erreichen das rund um die Uhr erreichbare Team von Andreas Becker."Die Nachrichten kommen längst nicht mehr nur aus Berlin, tatsächlich sind das relativ wenige", so Becker. Aus Ländern wie Afghanistan, Frankreich, Schweiz, Jemen oder der Türkei kommen die Hilferufe von denjenigen, für die der Verein "der letzte Rettungsanker" ist.

Sogar als einmal einer 18-Jährigen in der Türkei in beide Beine geschossen worden war, kontaktierte eine Rettungsfluggesellschaft Beckers Verein. Gute Zusammenarbeit ist wichtig. Auch dann, wenn ein Mädchen zur Zwangsverheiratung in die Türkei geflogen werden soll zum Beispiel. Dann kooperiert der Verein mit der Polizei, um die Mädchen noch in Deutschland abzufangen. "Anschließend wird der Jugendnotdienst kontaktiert, das Mädchen in ein anderes Bundesland gebracht." Gerade im Sommer sei viel zu tun. Dann werde das Problem der "Ferienbräute" aktuell, die ahnen, dass ihre Eltern sie im Urlaub verheiraten wollen.

Die Vereinsmitglieder mussten ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Eine ist die, dass es ein Fehler sein kann, die Betroffenen in einem stadtbekannten Frauenhaus unterzubringen - weil die Familie schnell die Adresse herausfinden kann.

Der Verein, der sich durch Spenden finanziert, ist selbst nur per Mail zu erreichen. In Fernsehinterviews gibt sich Becker grundsätzlich nicht zu erkennen.

Berliner Politiker sind um Aufklärung bemüht. Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (SPD), zu der auch Andreas Becker Kontakt aufnehmen will, kündigt an, dass 'Gewalt in der Familie' zum Thema in Fortbildungen für Berliner Imame wird. Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) verschickt Rundschreiben und Broschüren, lässt Plakate mit Notrufnummern und Hinweisen zur Online-Beratung verteilen und Lehrer fortbilden. Dennoch sagt Becker: "Das Problem an sich lässt sich nicht lösen. Nicht 2009, und auch nicht 2010." Eltern erreiche man nicht mit Kampagnen. Und wenn man einen Sozialarbeiter schicke, gebe es später eventuell noch größere Probleme.

Die Mitarbeiter von Wildwasser versuchen, die "Krise als Chance" zu nutzen, wie Leichsenring sagt. "Die Familie ist bereit, ihre Hilflosigkeit einzugestehen und Hilfe anzunehmen." Beispiel Semirah. Ihre Betreuerin Alimardani steht in engem Kontakt mit dem Jugendamt in Semirahs Heimatstadt. Es kam zum ersten geschützten Kontakt zwischen Semirah und ihren Eltern. Das Gespräch sei schwierig gewesen, sagt Nasi Alimardani. "Die Tochter hat Angst und fühlt sich ungeliebt. Die Eltern wollten aus ihrer Sicht nur das Beste - einen reichen Mann für ihr Kind - und sehen ihre Autorität untergraben. Alle waren verletzt." Nun ist die Stimmung so "gut", dass Semirah in ihre Heimatstadt zurückkehren wird. Sie wohnt dort anonym in einer betreuten WG, kann alte Kontakte neu knüpfen. Und Vertrauen zu ihrer Familie aufbauen. Trotz der SMS.