Gereon Rath, der kölsche Junge und Kommissar aus „Babylon Berlin“, schlägt im Jahr 1929 in Berlin auf. Das Jahr ist nicht zufällig gewählt: 1929 – kann man rückblickend sagen – ist das Jahr, in dem das Ende der Weimarer Republik eingeläutet wird. Das Demokratie-Karussell dreht sich immer schneller, wie in einem expressionistischen Film, bis es aus der Bahn fliegt – und die Massen den Führer herbeiwählen. Allerdings nie mit absoluter Mehrheit; selbst bei der letzten Reichstagswahl im März 1933, also nach dem Reichstagsbrand – nachdem schon so viele Oppositionelle verhaftet, gefoltert und umgebracht worden waren – blieb die NSDAP bei 43,9 Prozent stehen.
Doch zurück zu 1929. Es ist das Jahr der Weltwirtschaftskrise, der Schwarze Freitag im Oktober 1929, der doch eigentlich ein Schwarzer Donnerstag ist, denn an diesem Tag bricht in den USA die Börse zusammen. Durch die Zeitverschiebung ist es in Berlin nach Mitternacht, der Freitag ist angebrochen. Fast über Nacht schnellt die Arbeitslosigkeit nach oben, von 1,5 Millionen im September auf 2,9 Millionen im Dezember. Stetig wächst die Arbeitslosenkurve, der Höhepunkt ist 1932 mit 6 Millionen erreicht. Das Stempelgeld reicht kaum zum Überleben. Prostitution sichert vielen Familien ein Einkommen. „Hastig und geschäftsmäßig das Ansprechen, das Nennen des Preises und dann ein förmlicher Eilmarsch ins Absteige-Quartier in der Langen Straße. Zeit ist Geld“, heißt es 1930 im Bericht „Stätten der Berliner Prostitution“. Die Syphilis grassiert.
Was hat das alles mit der Politik zu tun? Es zeigt sich mit der nächsten Reichstagswahl im September 1930: Es gewinnen die Parteien hinzu, die das Ende der Demokratie wollen – entweder von links oder von rechts. Die KPD kommt in dem Jahr auf 13,1 Prozent, die NSDAP auf 18,3 Prozent. 1928 kam Hitlers Partei noch auf kümmerliche 2,6 Prozent, man mag es kaum glauben. Der Sprung ist enorm, er wird noch größer. Die Regierung um Kanzler Heinrich Brüning regiert ab 1930 mit Notverordnungen am Reichstag vorbei, gestützt von Reichspräsident Paul von Hindenburg.
Längst findet die Politik auf der Straße statt – in der Serie „Babylon Berlin“ wirken die Bilder von Lastern mit johlenden SA-Leuten und Kohorten junger Männer mit roter Fahne wie ein ständiges Hintergrundrauschen. Straßenschlachten sind an der Tagesordnung, schon lange vor dem heutigen Flashmob gab es die Blitzdemonstrationen. Rotfrontkämpfer, Braunhemden, sie prügeln aufeinander ein.
33 KPD-Demonstranten erschossen
Auch die Polizei ist nicht zimperlich. Allein am „Blutmai“ im Jahr 1929 werden 33 KPD-Demonstranten von der Polizei erschossen, viele verletzt. Der damalige Polizeipräsident Zörgiebel spricht bedauernd davon, dass nichts schwerer sei als „Feuerdisziplin“. Aus einem Hintergrundgespräch wenige Wochen später heißt es, er habe gesagt: „Schieße einer, so entstehe eine Spannung, in der die anderen auch schießen müssen, um sich gewissermaßen zu entladen.“ Deshalb wolle man jetzt bei der Polizei Straßenkampf in Häuserkulissen üben.
Wer allerdings in den Tagebüchern von Ernst Feder liest, der damals die rechte Hand des Chefredakteurs Theodor Wolff beim „Berliner Tageblatt“ war, der kriegt von dieser politischen Gewalt auf der Straße kaum etwas mit. Seine täglichen Notizen sind Dokumente einer in sich verkapselten politischen Welt, die nur von Theater- und Konzertaufführungen durchbrochen wird. Hier kommen ausschließlich die gemäßigten, liberalen Parteien und ihre Parteiführer vor: SPD, DDP, Zentrum. Parlamentarischer Abend bei Reichstagspräsident Paul Löbe im Dezember 1929: „Ziemlich trübe Stimmung, Konfliktstimmung ...“.
Dazu haben die beiden Journalisten Wolff und Feder zunehmend mit Antisemitismus zu kämpfen, genauso mit gewaltigen Einsparungen im eigenen Blatt. Die NSDAP, sie kommt in den Tagebuch-Aufzeichnungen eher am Rande vor. Doch je größer ihre Wahlerfolge werden, desto weniger kann man sie übergehen. Nach der Wahl 1930 ziehen sie, trotz Uniformverbot, in SA-Uniformen im Reichstag ein – ein unübersehbarer brauner Block von 107 Abgeordneten. Bei der nächsten Sitzung tragen sie allerdings wieder Zivil. „Nachmittags kommt auch T.W. (Theodor Wolff) wieder, sieht ernüchtert auf die jetzt in Zivil dasitzenden Nationalsozialisten, die ihm gar nicht mehr einen so forschen Eindruck machen.“ Nur ein Spuk?
Es gibt wache Beobachter wie den Schriftsteller Kurt Tucholsky, die davor warnten, den hauptstädtischen Polit- und Kulturkosmos in seiner Bedeutung zu überschätzen. „Der Berliner Leitartikler täte gut, inkognito einmal auf ein großes schlesisches Gut zu gehen, auf ein ostpreußisches, in eine pommersche Landstadt – und er wird etwas erleben.“ Und er beschreibt danach die Ungleichzeitigkeit, die für die Weimarer Republik prägend ist. Denn während sich in Berlin die Welt immer schneller dreht, geht es draußen in der Provinz anders zu. Zu Beginn der jungen Demokratie hatte kaum Personalwechsel stattgefunden – es sind die erzkonservativen Eliten, die weiterhin wichtige Funktionen besetzen. Gerade im östlichen Teil des Deutschen Reichs, bei den großen Gutsbesitzern, ist die Welt noch wie „anno dunnemals“.
Es gab stabile Jahre der Weimarer Republik
Man vergisst schnell, es gab einige wenige ruhige, fast stabile Jahre der Weimarer Republik. Doch die Republik hat keine Fortune, die Weltwirtschaftskrise beendet diese stabile Seitenlage. Und nicht nur die Republik hat keine Fortune, auch ihre wichtigsten Köpfe nicht. Der respektierte Außenminister Walther Rathenau wird 1922 im Grunewald in seinem Auto erschossen. Der beliebte Reichspräsident Friedrich Ebert stirbt 1925 an Bauchfellentzündung, weil er eine Blinddarm-OP hinauszögerte. Auch Außenminister Gustav Stresemann arbeitet bis zum Tod. „Alle wussten, dass der in Decken gehüllte, schweißtriefende Stresemann ein Sterbender war.“ Nur einer überlebt alles: Reichspräsident Hindenburg. Aber der war kein Demokrat.
„Babylon Berlin“. ARD, 30.09., 20.15 Uhr.
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+++ Berlin-Podcast +++ Diese Woche bei „Molle und Korn“: Die TV-Serie „Babylon Berlin“ hat Free-TV-Premiere in der ARD – und die Erwartungen sind hoch. Im Nahverkehr: Die S-Bahn muss Strafe zahlen wegen Minderleistung. Und: Alt-Berliner Wohnungen mit Bediensteten-Klingel.
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