Morgenpost-Serie

So viel Verbrechen steckte in den Zwanzigerjahren in Berlin

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Utta Raifer
Frühbesprechung bei der Mordkommission, Ernst Gennat beugt sich über den Tisch und begutachtet mit seinen Kollegen eine Waffe

Frühbesprechung bei der Mordkommission, Ernst Gennat beugt sich über den Tisch und begutachtet mit seinen Kollegen eine Waffe

Foto: rolf kremming / picture alliance / rolf kremming

Sonntag startet die Großproduktion „Babylon Berlin“. Wir werfen einen Blick in die Zwanzigerjahre. Teil 1: Die Stadt und die Polizei.

Die Stadt war modern, jung und die drittgrößte der Welt nach New York und London. „Berlin war wirklich eine Kapitale, ein Zentrum, ein Umschlagplatz für Geistiges und Politisches“, schreibt der Autor von „Berlin Alexanderplatz“, Al­fred Döblin, „eine tosende Stadt“. Ein Jahrzehnt lang feierte die Stadt, so der Mythos, um den Ersten Weltkrieg zu vergessen. Man schöpfte die Freiheiten der jungen Republik voll aus. Man tanzte nach der neuesten Mode aus Amerika: kreisende Hüften, sich schüttelnde Körper, X-Beine und herausgestreckte Hintern. Der Rocksaum rutschte nach oben, der Ausschnitt nach unten, die Zigarette mit einem Spitz verlängert – und der Lippenstift war blutrot. In Friedrichshagen baute der jüdische Unternehmer Julius Fromm eine gigantische Kondomfabrik. Babylon Berlin eben.

Mit Sperrstunden und Gesetzen nahm man es nicht so genau. Selbst Berlins oberster Stadtherr, Bürgermeister Gustav Böß, hob nur leicht die Augenbraue, als seine Frau einen kostbaren Pelzmantel zu exorbitant günstigen, aber nicht ganz sauberen Konditionen erwarb. Wie sollte das alles enden? Nicht gut, wie wir heute wissen. Adolf Hitler war gerade dabei, seine Partei neu zu formieren und stellte sie deutschlandweit auf. Er sammelte fleißig Unterschriften für Petitionen „gegen die Versklavung des deutschen Volkes“, in die seiner Meinung nach die hohen Reparationszahlungen an die Sieger des Ersten Weltkriegs münden würde. Seine Freunde verprügelten Kommunisten und Juden und zogen unbehelligt wieder ab.

War denn kein gradliniger Polizeipräsident oder ein tapferer Polizeikommissar in Sicht, der Hitlers Schlägern Einhalt gebieten konnte? Doch, es gab sie, aber sie agierten denkbar unglücklich. Innenminister Albert Grzesinski, Polizeipräsident Karl Zörgiebel und Vizepräsident Bernhard Weiß bildeten eine geschlossene Front. Sie veranlassten 1927 sogar ein Verbot der NSDAP in Berlin und Brandenburg. Was aber Goebbels und seine Freunde nicht davon abhielt, weiter zu agitieren, sodass man sich im März 1929 gezwungen sah, ein generelles Demonstrationsverbot zu erlassen, das nicht nur die NSDAP, sondern auch die KPD mit ihren traditionellen Mai-Demonstrationen betraf. Doch sowohl Kommunisten als auch Nazis scherten sich nicht um solche Verbote.

In den Tagen vor dem 1. Mai 1929 war die Polizei deshalb besonders nervös. Kriminalkommissar Gereon Rath, den man nach Neukölln ins 220. Revier zur Sitte strafversetzt hatte, spürte die Unruhe. Ihm war bewusst, dass es Wichtigeres gab, als den Urheber der pornografischen Fotografien zu finden, die gerade auf seinem Schreibtisch lagen. Aber es ist nicht die politische Abteilung der Polizei, zu der es ihn zieht. Es ist die Mordinspektion, „Gennats Truppe, die Lieblinge der Presse“. Ernst Gennat, deren Leiter, ist eine Koryphäe, ein Star, bekannt weit über die Grenzen Berlins hinaus, bis hin nach Hollywood und Scotland Yard.

Gennat war süchtig nach Kuchen und Schlagsahne

Gereon Rath ist die Erfindung des Kölner Bestsellerautors Volker Kutscher, aber der historische Ernst Gennat (1880–1939) leitete seit 1926 wirklich die „Zentrale Mordinspektion“ in der Abteilung A der Kriminalpolizei und residierte an der Dircksenstraße mit Blick auf den Alexanderplatz. Von dort aus lässt Volker Kutscher seinen Ermittler Rath am 1. Mai auf eine „Nieder mit dem Demons­trationsverbot“ skandierende Menschenmenge schauen. Noch werden sie mit Wasserschläuchen bekämpft. Später werden Schüsse fallen. Aber das weiß Gereon Rath noch nicht. Er ist froh, kein Schutzpolizist auf dem Platz zu sein, sondern „nur mit Verbrechern“ zu tun zu haben. „Politiker, Verbrecher – wer sagt Ihnen, dass das nicht das Gleiche ist“, kommentiert das einer seiner Kollegen. „Alle lachten“, schreibt Kutscher.

Wir wissen nicht, wie Gennat zu diesem Thema stand, im Unterschied zu seinen Vorgesetzten, die später alle an den Nazis scheiterten. Besonders schlimm traf es den Vizepolizeipräsidenten und Chef der Kriminalpolizei, Bernhard Weiß. Er bot als linksliberaler Jude die ideale Zielscheibe für Goebbels, und musste 1933 ins Ausland fliehen.

Gennat blieb. Er war süchtig nach Kuchen und Schlagsahne, „Buddha“ oder „voller Ernst“ waren seine Spitznamen. In den letzten Jahren wird er aufgrund seiner Leibesfülle sein Büro kaum mehr verlassen. Deshalb arbeitete er vor allem mit seiner berühmten „Mörderkartei“. Und auch sonst hatte er die Polizeiarbeit revolutioniert. Der Begriff „Serientäter“ geht auf ihn zurück, erstmals verwendet für Peter Kürten, den „Vampir von Düsseldorf“, der 1929 mindestens neun Frauen mit Scheren und Dolchen getötet hatte. Dass heute jeder weiß, dass man an einem Tatort nichts anrühren darf, bevor die Spurensicherung da war, ist auch sein Verdienst. Dafür stattete er die Polizei mit einem mobilen Büro aus, für das Daimler-Benz eigens ein Auto baute. Seine Aufklärungsquote: 95 Prozent, 298 Mordfälle konnte er in den 33 Jahren seiner Tätigkeit erfolgreich abschließen. Gewaltanwendungen bei Verhören lehnte er ab, er behandelte auch Mörder als Menschen und beobachtete sie genau, konzentrierte sich nicht nur auf Gesicht und Augen, sondern auch auf die Hände.

So viel kann verraten werden: Volker Kutscher erfüllt seinem Helden Gereon Rath den Wunsch, er wird Teil von Gennats „berühmter Truppe“ Volker Bruch verkörpert ihn in der schon jetzt legendären Serie „Babylon Berlin“. Ernst Gennat wird von Udo Samel gespielt.


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