Gedenkstätte Hohenschönhausen

Gescheiterte Republikflucht - Die Liebe kostete sie die Freiheit

| Lesedauer: 15 Minuten
Annette Kuhn

Foto: Reto Klar

Vor 20 Jahren wurde die Gedenkstätte Hohenschönhausen eröffnet. Seitdem kamen 3,3 Millionen Besucher. Sie erfahren die Geschichte von Zeitzeugen wie Siggi Grünewald aus Spandau.

Mit einem Knall schloss sich die schwere Eisentür hinter ihr. Der Schlüssel schepperte im Schloss, dann war sie allein. Siggi Grünewald stand wie erstarrt im grellen Licht der Neonröhre. Zwischen Holzpritsche, Hocker und Waschbecken. Sie konnte nicht fassen, was ihr in den letzten Stunden widerfahren war. Sie, die West-Berlinerin aus Spandau im DDR-Gefängnis? Was hatte sie verbrochen? Mitten in der Nacht hatten sie sie hergebracht. Aber wohin eigentlich? Erst später wurde es ihr klar: in die Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Hohenschönhausen.

Wie viele von den insgesamt 200.000 bis 250.000 politischen Häftlingen, die bis 1989 in DDR-Gefängnissen saßen, West-Deutsche oder West-Berliner waren, ist unklar. Auch in der Gedenkstätte Hohenschönhausen wurde das bislang nicht ausgezählt. Der Historiker des Hauses, Peter Erler, schätzt aber, dass von den rund 10.000 Menschen, die das Gefängnis zwischen 1951 und 1989 durchliefen, mehrere hundert aus dem Westen kamen. Wie sie in die Fänge der Stasi gerieten, darüber weiß man wenig. Und wie es sich für einen Bundesbürger anfühlte, im Gefängnis des anderen, des feindlichen Deutschlands zu sitzen, darüber schweigen die meisten Betroffenen bis heute. Aber Siggi Grünewald will sprechen.

Die meisten West-Deutschen wurden verhaftet, weil sie anderen zur Flucht verholfen oder dies versucht haben. Staatsfeindlicher Menschenhandel lautete das Urteil, das auch über Siggi Grünewald gefällt wurde. Dabei wollte sie nur mit dem Mann zusammenleben, den sie liebte. Dietmar aus einem Dorf bei Kahla in Thüringen. Kennengelernt hatten sich die beiden in Kahla. Bei der Pflegefamilie, zu der Siggi Grünewalds Bruder während des Krieges verschickt worden war. Nach 1972, als West-Berliner wieder in die DDR reisen durften, fuhren sie oft dorthin.

Beim Rotkäppchen-Sekt gaben sie sich den ersten Kuss

Dietmar und Siggi wurden nicht gleich ein Paar. Ein paar Jahre waren sie einfach Freunde. Wie sollte das auch gehen – eine Beziehung zwischen Ost und West auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges? Erst an Silvester 1977 funkte es zwischen ihnen, zum süßen Rotkäppchen-Sekt gaben sie sich den ersten Kuss. Sooft es möglich war, fuhr Siggi Grünewald nun in die DDR. Viel von dem Geld, das sie als Sekretärin verdiente, floss in den Zwangsumtausch. Sie trafen sich bei Freunden, in Kahla, in Prerow, in Falkensee.

Aber die ständigen Verabschiedungen an der Grenze, die Ungewissheit, wie es weitergehen würde, konnten sie immer weniger aushalten. Sie verlobten sich, um eine Familienzusammenführung zu erreichen. Er stellte drei Ausreiseanträge, sie wurden abgelehnt und kosteten ihn seinen Studienplatz. Sie versuchte auf offiziellem Wege vom Westen aus, ihn aus der DDR zu holen. Sie müsse Geduld haben, wurde ihr gesagt, aber die war längst aufgebraucht.

Siggi Grünewald bekam zufällig Kontakt zu einer Schleusergruppe. Der Plan schien verlässlich, 15.000 DM sollte die Fluchthilfe kosten. Im September 1981 war es soweit. Sie hatten den Tag zuvor noch gemeinsam in Falkensee verbracht, dann fuhr sie Dietmar zum Kino Colosseum in Prenzlauer Berg, dem Treffpunkt mit den Schleusern. Sie umarmten sich voll banger Erwartung. Am Abend sollte ein neues gemeinsames Leben in West-Berlin beginnen.

Die nächsten Stunden wollten nicht vergehen. Immer wieder schaute sie auf die Uhr, auf das Telefon. Dietmar sollte anrufen, sobald er aus dem Kofferraum gestiegen war. Bis 22 Uhr hätte alles über die Bühne sein müssen. Es wurde 22 Uhr, 23 Uhr, 24 Uhr. Kein Anruf. „Es war die schrecklichste Nacht in meinem Leben“, sagt sie heute und korrigiert sich dann gleich: „Die erste Nacht in Hohenschönhausen, die war vielleicht noch schlimmer“.

Die Stasi war immer dabei

Es kam dann doch ein Anruf, vom Schleuser: Etwas sei mit dem Auto nicht in Ordnung, die Aktion musste abgeblasen werden. „Also hat ja niemand etwas mitbekommen“, dachte sich Siggi Grünewald, „dann müssen wir auch nichts befürchten“. Zwei Wochen nach der gescheiterten Flucht reiste sie wieder ein. Ein Wochenende verbrachte das Paar bei Freunden in Prerow an der Ostsee, dann eines in Berlin. Dass sie dabei von Stasi-Mitarbeitern beobachtet wurden, war nicht zu übersehen, aber das Paar ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Erst Jahre später, als Siggi Grünewald endlich den Mut aufbrachte, ihre Stasi-Unterlagen einzusehen, erfuhr sie, dass sie bereits Anfang 1978 bespitzelt wurden. Und es war eine bittere Erkenntnis, dass es Dietmars Schwager war, der sich von der Stasi einspannen ließ.

Das Treffen in Ost-Berlin war vorerst die letzte Begegnung der beiden. Am Sonntag, dem 15. November, hatte Dietmar seinen Geburtstag gefeiert, am Montag darauf brachte sie ihn nach Lichtenberg zum Zug nach Kahla. Abfahrt um 15.30 Uhr. Dann fuhr sie durch den kalten Novemberregen weiter zum Grenzübergang Bornholmer Straße. „Hier war immer viel los, aber an diesem Montagnachmittag wirkte der Kontrollpunkt wie leergefegt“, stellte sie fest. Es überkam sie ein schlechtes Gefühl, aber das verdrängte sie. Was konnte ihr schon passieren, sie war doch West-Berlinerin, in ihrer Handtasche hatte sie die Telefonnummer der Ständigen Vertretung, und ihre Geschwister wären sofort alarmiert, wenn sie sich nicht am Abend zurückmelden würde, wie sie es nach jeder Fahrt in die DDR machte.

Am Kontrollpunkt Bornholmer Straße musste Siggi Grünewald lange warten. Mit ihren Papieren stimme etwas nicht, hieß es, aber natürlich waren die in Ordnung. Angst stieg in ihr hoch. Dann betrat ein Offizier den Raum: „Im Namen des Volkes erkläre ich Sie für verhaftet.“ Siggi Grünewald wusste, wohin die Fahrt ging: Lichtenberg, Stasi-Zentrale. Erstaunt war sie aber doch, als sie auf dem Hof ihren Opel Kadett sah, bereits mit DDR-Kennzeichen versehen. Bis drei Uhr nachts ging das Verhör und schnell wurde ihr klar, dass die Mitarbeiter so ziemlich alles über sie und die geplatzte Flucht wussten. Und sie erfuhr auch, dass Dietmar ebenfalls verhaftet war. In Schönefeld hatten sie ihn aus dem Zug geholt.

In einen Lieferwagen ohne Fenster gepfercht

In der Nacht noch wurde sie dann in einen Lieferwagen ohne Fenster gepfercht. Auf den Wagen der Firma Barkas standen so freundliche Schriftzüge wie „Ostseefisch – frisch auf den Tisch“. Dass hier Gefangene nach Hohenschönhausen transportiert wurden, sollte niemand sehen. Sie wussten nicht einmal, wo das Stasi-Gefängnis lag. Auf dem Stadtplan war das Gebiet weiß, in den umliegenden Häusern und Plattenbauten wohnten ausschließlich Mitarbeiter der Stasi, Unwissende konnten sich dem Komplex nicht nähern.

In Hohenschönhausen musste sich Siggi Grünewald ausziehen, jede Körperfalte wurde abgetastet. Sie bekam einen FDJ-blauen Trainingsanzug und wurde zu ihrer Zelle gebracht. Da stand sie nun. Ihr Herz raste, ihre Gedanken waren bei Dietmar. An Schlaf war nicht zu denken. Irgendwann legte sie sich trotzdem hin und zog die Decke über den Kopf. Sofort wurde eine Klappe in der Tür zurückgeschoben und sie angeraunzt: Sie habe auf dem Rücken zu liegen, die Hände auf der Decke, das Gesicht zur Tür gewandt.

Seit dieser Nacht hat Siggi Grünewald Schlafstörungen. „Drei, vier Stunden am Stück ist schon viel für mich“, erzählt sie, „dabei habe ich früher wie ein Murmeltier geschlafen“. Aber dieses ständige Licht, bei Tag und bei Nacht, war eine Folter. Neonröhren sind ihr seitdem ein Graus. In ihrer Spandauer Wohnung gibt es nur diffuses Licht. Etwas anderes hält sie auch nach mehr als 32 Jahren nicht aus. Und wenn eine Tür zuschlägt, zuckt sie immer zusammen.

„Man wollte mich weichkochen“

Die ersten Tage passierte erst einmal – nichts. Niemand sagte ihr etwas, die Zeit verging nicht und duschen durfte sie auch nicht. Acht Tage später ging es endlich zur Vernehmung. Der Vernehmer war ein paar Jahre jünger als sie, dem Akzent nach ein Sachse, gut gekleidet, höflich. Sie saß ihm gegenüber, ungewaschen, mit fettigen Haaren: „ich habe mich elend und ausgeliefert gefühlt“. Im Rückblick weiß sie: „Das gehörte alles dazu: Man wollte mich weichkochen.“ Und vor allem wollte die Stasi Namen von Hintermännern der Fluchthilfe. Aber die hatte Siggi Grünewald nicht.

Fast vier Monate später kam es zur Verhandlung: Fünf Jahre, sechs Monate. Das Strafmaß ließ die Angeklagte erstarren. Ihr Verlobter wurde zu zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Erst später konnte sie sich den Unterschied erklären: „Ich war West-Berlinerin, eine hohe Haftstrafe bedeutete für die DDR eine höhere Freikaufsumme“. Zwischen 1963 und 1989 wurden insgesamt 33.755 Häftlinge gegen Devisen in Höhe von insgesamt 3.436.900.755 DM und zwölf Pfennigen freigelassen. Wie „teuer“ ein Häftling war, darüber wurde Stillschweigen gewahrt. Auch Siggi Grünewald erfuhr nie, was für sie gezahlt wurde.

Den Strafvollzug verbrachte sie im Stasi-Gefängnis Bautzen II als Küchenhilfe, später als Brigadier. Eine harte Arbeit, aber sie lenkte wenigstens ab. Aber das war es nicht allein, was Siggi Grünewald die Haftzeit überstehen ließ. Sie sagt von sich, sie sei eine Kämpfernatur und so hatte sie sich schon in der ersten Nacht in Hohenschönhausen vorgenommen: „Die bekommen mich nicht klein.“ Sie machte auch mal ihren Mund auf, wenn sie schikaniert wurde. Von ihren Eltern hat sie gelernt, mutig zu sein. Der Vater saß fünf Jahre während der Nazi-Herrschaft im Gefängnis, weil er sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen hatte. Und die Mutter hatte sich nach dem Krieg vom Vater getrennt und allein die fünf Kinder großgezogen, da durfte sie sich nichts gefallen lassen.

Ein Buch über die Haft

Und noch etwas hat ihr geholfen, die Haftzeit zu bewältigen: die Idee, ein Buch über die Haft zu schreiben. Im Kopf speicherte sie Satz für Satz, aufschreiben durfte sie natürlich nichts. Vielleicht deshalb wirkt das Buch, das sie mehr als 30 Jahre später tatsächlich geschrieben hat, so authentisch, als wäre alles gerade erst passiert. Es heißt: „Komm’se – Gehn’se“, es waren die Worte, die sie immer von den Schließern zu hören bekam.

Die Nachricht ihrer Entlassung kam für Siggi Grünewald überraschend. Es war ein Montag wie bei ihrer Verhaftung. Sie musste Tomatensuppe vorbereiten und sie ärgerte sich, dass die Tomaten sich nicht durch den Fleischwolf drehen ließen, als eine Offizierin rief: „Strafgefangene Grünewald kommen Sie mit, packen Sie Ihre Sachen.“ Weil sie West-Berlinerin war, musste sie auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen war. Noch einmal musste sie nach Hohenschönhausen, für fünf Nächte. Dann noch einmal in den Barkas quetschen und zur Stasi-Zentrale. Dort warteten schon Mitarbeiter von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, die sie in die Kanzlei brachten. Sie durfte sich in den goldenen Mercedes von Helga Vogel setzen. Am Grenzübergang Invalidenstraße gab es keine Kontrollen, die Ampeln schalteten auf Grün und Frau Vogel drehte sich lächelnd zu ihrer Klientin um: „So fährt man über die Grenze.“

Am nächsten Tag konnte sie Dietmar vom Flughafen abholen und war bei dieser ersten Umarmung nach zehn Monaten so glücklich, dass es fast wehtat. Aber es war nicht leicht wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Auch wenn sie noch ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz hatte: „Einfach so anknüpfen an vorher, das ging nicht.“ Und es gab auch viel zu tun. Jeden Tag fuhren sie nach Marienfelde ins Notaufnahmelager und erledigten die notwendigen Formalitäten, um als politische Häftlinge anerkannt zu werden. Wieder mussten sie sich Verhören unterziehen, diesmal von den Alliierten, die sichergehen wollten, dass die Stasi sie nicht angeworben hatte. Es war schwer zu ertragen, immer weiter in den Wunden zu bohren.

Nach einem Jahr heirateten sie, Dietmar konnte seine Tochter aus erster Ehe zu sich holen, wirtschaftlich ging es ihnen gut. Aber die Spuren aus zehn Monaten Haft blieben. Im Januar 1991 besuchte das Paar erstmals wieder das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. „Der Besuch brachte mich ziemlich durcheinander“, erzählt sie, aber das Bedürfnis wuchs in ihr, mehr zu erfahren. Dietmar aber wollte nicht weiter einsteigen. Erst nachdem sich das Paar 1997 scheiden ließ, beantragte sie daher Einblick in ihre Akte. „Noch immer bin ich nicht durch“, sagt sie und weist auf einen Zettelstoß unter ihrem Wohnzimmertisch.

Sie möchte ihren Vernehmer noch einmal treffen

Und noch ein Wunsch ist in ihr gewachsen: Sie möchte ihren Vernehmer noch einmal treffen. „Ich will ihm keine Vorwürfe machen, aber ich will wissen, was er damals gedacht hat und wie er heute darüber denkt.“ Seinen Namen kennt sie inzwischen, auch seine Adresse. Sie hat ihm schon geschrieben, er hat nicht geantwortet. Vielleicht wird sie ihn einfach mal besuchen. Aber so ganz reicht ihr Mut dafür noch nicht.

Seit 2012 arbeitet Siggi Grünewald als Zeitzeugin in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Auch das ist ein Stück Vergangenheitsbewältigung für sie. Aber deshalb allein würde sie nicht so oft die 27 Kilometer-Strecke durch die Stadt, von West nach Ost und wieder zurück, auf sich nehmen. Es ist ihr auch ein Bedürfnis, den Menschen zu erklären, was sich hinter den Mauern an der Genslerstraße abgespielt hat. „Das darf nie vergessen werden, damit so etwas nie wieder passiert.“

Siggi Grünewald: „Komm’se – Gehen’se“, Eigenverlag, 14,95 Euro, erhältlich in der Buchhandlung 89 in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Genslerstraße 66, Versand ist möglich (2 Euro Gebühren, ab 20 Euro versandkostenfrei), Tel: 986 08 25 07, buchhandlung89.de.

Gedenkstätte: Aus Anlass des Jubiläums ist der Besuch an diesem Sonntag für Einzelbesucher kostenlos. Auch Siggi Grünewald wird dann durch das Gefängnis führen. Mehr Infos unter stiftung-hsh.de