Gründerzeit

Wie Ideen für Berliner Start-ups geboren werden

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Sören Kittel

Foto: Reto Klar

Ein Start-up benötigt zunächst einmal eines: eine gute Idee. Manchen kommt sie einfach so, andere grübeln Jahre darüber.

Es ist eine schöne Geschichte, auch wenn es eigentlich nur ein Anfang ist. Die beiden Norweger Espen Systad und Tor Langballe sitzen im Frühjahr 2011 in einem Café in Saigon. In vier Stunden muss Systad seinen Flug von Vietnam nach Berlin bekommen, zurück in die Stadt, in der er ein Start-up gründen will. Dafür hat er seinen Job in Oslo gekündigt, deshalb war er für zehn Tage nach Saigon gekommen. Doch die Idee dazu haben sie schon am ersten Tag seines Besuchs begraben. Sie war zu kompliziert.

Am letzten Morgen also wird dem 42-Jährigen plötzlich klar, dass vor ihm das große Nichts liegt, wenn ihm nicht sofort eine wirklich gute Idee kommt. Sie hatten es vor sich hergeschoben, aber jetzt muss es sein. Aufschieben erzeugt Druck und unter Druck entstehen Diamanten. Es ist ihre letzte Chance. Also bestellen sie zwei Tassen Kaffee und machen eine Liste mit zwölf Ideen für ein Start-up. Am Ende kringeln sie eine davon mit einem Marker ein. Capsule ist geboren.

Die lange Version dieser Ideen-Geschichte beginnt noch ein paar Momente vorher und hat mit einem Bier in der Berliner Bar „Renate“ zu tun. Espen Systad dachte damals schon länger über Capsule nach. Aber wie bei den meisten Berliner Start-ups ist der Moment der Idee nicht so einfach zu fassen. Es gibt nicht den Moment, in dem über dem Kopf eine Glühbirne aufblinkt und jemand „Ich hab’s!“ ruft, die magische Geburt einer Idee, die später zum weltweiten „Nächsten Großen Ding“ werden kann, so wie Facebook, Twitter oder Amazon. Die Idee von Capsule ist, das Internet zum Sprechen zu bringen, von aktuellen Nachrichten bis zu Meldungen von Freunden in Sozialen Netzwerken kann alles vorgelesen werden. Bei einer Ausschreibung von ProSieben konnten die beiden mit ihrer Idee kürzlich eine Million Euro Werbe-Unterstützung gewinnen. In wenigen Monaten wollen sie online gehen.

Wände voll mit Klebezetteln

Wie bei den beiden sind häufig mehrere Menschen daran beteiligt, eine Idee zu entwickeln und andere zu verwerfen. Gemein haben dabei Start-up-Gründer, dass sie gern davon erzählen, dass sie Fotos von ihrer Anfangsphase aufbewahren, vielleicht auch, um irgendwie diesen Glühbirnen-Moment im Nachhinein zu erzeugen. Aber auf den Fotos aus dem Café in Vietnam sehen Espen und Tor müde aus, und irgendwie in sich gekehrt, als ob sie ahnen, dass es bald anstrengend werden könnte.

Alle Teile der Serie "Gründerzeit" finden Sie im Netz unter: www.morgenpost.de/start-up

Beim Berliner Start-up Noknok sind es nicht Bilder aus Saigon, sondern aus Hamburg, die sie ab und zu noch einmal anschauen. Darauf sind Klebezettel von einem Wochenende zu sehen, die ungefähr zu der Zeit aufgenommen wurden, als Capsule erfunden wurde. Es waren die beiden Tage, an denen Carsten Wagner und Natascha Wegelin sich in einer Wohnung einschlossen, um nur an ihrer Idee zu feilen: ein soziales Netzwerk für WG-Suchende. Auf gelben Zetteln stehen abstrakte Schlagwörter wie „Programmierung“, „Produktentwicklung“ und „Kundenservice“, auf roten Zetteln haben sie Details notiert, die von den Besuchern ihrer Webseite angegeben werden müssen, um die richtigen WG-Partner zu finden: „Hobbys“, „Beruf“, „Alter“. Und wer ganz genau hinschaut, sieht auch gekritzelte Geschlechts-Symbole auf einem Zettel.

Bei Noknok geht es darum, dass sich WG-Mitbewohner besser kennenlernen können, ohne sich gleich auf einen Kaffee treffen zu müssen. „Ich bin darauf gekommen“, sagt Natascha Wegelin, „weil ich selbst einen WG-Mitbewohner in Hamburg gesucht habe und von mehreren hundert Anfragen völlig überrannt wurde.“ Sie begann, einige Bewerber-Namen in Suchmaschinen einzugeben, aber sie dachte, dass es doch einfacher gehen müsse. Da Carsten und Natascha, die mittlerweile von einer Bürogemeinschaft am Ostbahnhof aus arbeiten, damals bei einer Dating-Internetseite arbeiteten, war der Weg nicht weit, sich selbst etwas auszudenken. An diesem für die beiden inzwischen fast legendären Wochenende also saßen sie bis spät in die Nacht bei Pizza, später bei Bier und Wein, und diskutierten über ein Projekt, dass kurz darauf zu ihrem Start-up wurde. Carsten sagt, dass sie nicht nur Brainstorming benutzt haben, also das kritiklose Aussprechen von Ideen. „Wir haben immer unsere Vorschläge sofort diskutiert“, sagt er. „Wir kannten uns schon eine Weile und mussten voreinander nicht mehr so viel Rücksicht nehmen.“

„Brainstorming“ wird überbewertet

Damit spricht der Junggründer etwas an, was inzwischen auch wissenschaftlich belegt ist. Psychologische Studien der Universität Berkeley haben ermittelt, dass „Brainstorming“ überbewertet wird. Das unkritische Einwerfen von Gedanken gilt schon längst nicht mehr als die beste Art der Ideenfindung. Vielmehr erreichen Gruppen, die offen und kritisch miteinander diskutierten, das bessere Ergebnis, weil sie aufeinander eingehen. Diese Studie ist bereits zehn Jahre alt. Inzwischen gibt es einen ganzen Wissenschaftszweig der Psychologie, der die besten Rahmenbedingungen für Kreativität und Ideenfindung finden will. Es wurde untersucht, wie gut Menschen einander kennen müssen, damit sie einander noch inspirieren können, wie Büros aufgebaut sein müssen, damit Mitarbeiter kreativer werden. Die Berliner Start-ups profitieren von diesen Studien, sie arbeiten in Gemeinschaftsbüros und Gründerzentren, in denen sich zwangsläufig ganz neue Vernetzungsmöglichkeiten ergeben.

Einer, der zwar Teil dieses Netzwerks ist, aber trotzdem auch von außen auf die Ideen-Finder schaut, ist Oliver Beste. Er hat das erfolgreiche Start-up myToys.de mitgegründet und berät mit seiner Firma FoundersLink andere Gründer in verschiedenen Phasen. Über seinen Tisch gehen im Jahr rund 200 Ideen. „Die meisten davon fallen leider durch“, sagt er. „Aber das liegt nicht unbedingt an der Idee an sich, sondern eher daran, wie sehr an der Umsetzung dieser Idee gearbeitet wurde.“ Gerade die Idealisten unter den Gründern brauchten häufig jemanden, der mit ihnen einen Businessplan vorbereitet. Dass aber auch Berater falsch liegen könnten, gibt Beste ebenfalls zu. „Selbst erfahrene Investoren haben große Ideen abgelehnt, die dann sehr erfolgreich wurden.“

Schnell das Patent anmelden

Hinzu kommt, dass in der Startup-Szene auch immer wieder ähnliche Ideen miteinander konkurrieren. In Berlin gibt es gerade jetzt einen Streit zwischen den beiden Start-ups Lieferando und Lieferheld, die beide verschiedene Lieferservices zusammenführen und das Bestellen von Essen im Internet revolutionieren wollen. Doch wer zuerst die Idee hatte und zuerst welche Daten vom anderen benutzt, wird gerade von Anwälten bestimmt. Sowohl Noknok als auch Capsule haben bisher keinen direkten Konkurrenten. Aber es kann schnell passieren, dass jemand nachzieht. Deshalb empfehlen Experten, sich seine Idee schnell sichern zu lassen. Auf einem der gelben Zettel der Noknok-Gründer stand deshalb auch: Patent. Das Ganze funktioniert aber auch anders herum: „Wer auf der Suche nach einer guten Idee ist, muss manchmal nur auf den Friedhof der gescheiterten Start-ups schauen“, sagt Oliver Beste. Dort seien mitunter sehr gute Ideen zu finden. „Manchmal muss eine Idee auch reifen.“

Jemand, der seine Idee zehn Jahren lang reifen ließ, bevor er das Start-up gründete, ist Wolfram Kosch. Damals war er 22 Jahre alt und studierte an der Humboldt-Universität Soziologie und Geographie. Er hatte viel Freizeit, wenig Geld und wollte seiner Freundin eine Freude machen. Also bastelte er ihr eine Erweiterung für das bekannte Brettspiel „Die Siedler“. „Wir spielten das damals sehr gern mit Freunden“, sagt Wolfram Kosch, „und ich wollte das Spiel für sie interessanter machen.“ Die Städte und Dörfer formte er selbst aus Gips, auf die Spielfelder malte der heute 33-Jährige Figuren, die nur seine Freundin kannte. „Das war zwar aufwendig, aber ich hatte Zeit.“

Langer Atem und ein gutes Netzwerk

Dass diese Idee zu einem funktionierenden Geschäft werden könnte, lernte er, als er im Jahr 2007 in London bei einer Unternehmensberatung arbeitete. Er forschte nach und sah, dass es keine Firmen gab, die das anboten. Noch könnte er der erste sein. Doch wie bei Natascha Wegelin von Noknok und Espen Systad von „Capsule“ holte er sich jemanden dazu. Saveen Krishnamurthy kannte er noch vom Studium und sie besprachen Marketing-Chancen, Zielgruppen, Vertriebskanäle, Lizenzfragen, all das, was zu einem Unternehmen dazugehört. Im vergangenen Oktober ging die Webseite luudoo.de online. Allein zu Weihnachten hatten sie 500 Bestellungen, Kartenspiele, Brettspiele, Puzzles. Dafür haben sie sich mit Spieleherstellern und Druckfirmen zusammengetan. „Es hat funktioniert“, sagt er. „Zwei Jahre habe ich einfach nur daran geglaubt und jetzt passiert es.“

Alle drei Unternehmen Luudoo, Noknok und Capsule müssen sich in den kommenden Monaten weiter bewähren. Sie werden sicher Rückschläge erfahren, manchmal Nächte durcharbeiten, werden ihre Idee immer wieder verfeinern – vielleicht noch einmal komplett ändern. Dafür muss man offen sein, sagt Berater Oliver Beste. Es brauche einen langen Atem und ein gutes Netzwerk, bis aus einer guten Idee etwas werde, das auch die Miete bezahlt. Espen Systad und Tor Langballe hätten im Zweifelsfall auch noch einen Plan B: ihre Liste aus dem Café in Saigon. Diese zu behalten, war sicher eine gute Idee.

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