Das Prinzip Goldrausch elektrisierte einst die Welt. Irgendwo auf dem amerikanischen Kontinent fand jemand einen glänzenden Klumpen, Sam Brannan am Sacramento River in Kalifornien oder Jack McQuesten am Yukon in Alaska. Während Hungerleider oder Glücksritter noch unterwegs waren, um gleichfalls Nuggets zu finden, waren die Claims längst verteilt. Wenige wurden reich, unzählige hatten sich auf die Reise gemacht. Es war nicht das Gold, sondern die Hoffnung, die die Menschen trieb.
Eine Story vom großen Fund genügte, um eine globale Lawine loszutreten. Und mit jeder Erzählung wurden die Klumpen größer. Das Verrückte daran: Der Mythos schuf seine eigene Realität und damit konkrete neue Werte, in der Reise-Branche etwa oder im Schaufel- und Saloon-Gewerbe. Fortschritt und Wohlstand beginnen immer mit Fantasie.
Die moderne Version vom Goldrausch heißt Start-up und begann im Silicon Valley. Dort schufen einige Schlaufüchse aus einer Idee milliardenschwere Weltmarktführer wie Apple, Microsoft oder Amazon. Wie zu Jack Londons Zeiten treibt die Hoffnung heute unzählige Abenteurer, den Erfolg der digitalen Digger Jeff Bezos, Sergej Brin und Mark Zuckerberg zu wiederholen.
Ihre Werkzeuge sind nicht Schippen und Pfannen, sondern Tastaturen. Goldadern finden sich überall auf der Welt. Kein legaler Wirtschaftszweig bietet so viele Chancen, mit etwas Ausdauer, Glück und Gerissenheit den ewigen Menschheitstraum vom großen Erfolg zu verwirklichen. Das Gründen und Großmachen einer Internetbude – Treibstoff für Millionen.
Geschichten von großen Nuggets
Berlin ist neben dem Silicon Valley derzeit der zweite große Hoffnungsort. Ob amerikanische Investoren oder kühle britische Magazine, ob osteuropäische Programmierer oder ostwestfälische Glücksritter, ob Leichtlohn-Milchaufschäumer oder städtische Würdenträger – alle erzählen sich ebenso begeistert wie ausdauernd von den großen Nuggets, die in Berlin zu finden seien. Und weil so viele daran glauben, ist das Gründen in dieser Stadt zum Wirtschaftszweig geworden, der zehn Milliarden Euro Umsatz im Jahr schafft, Zukunftsjobs und all die kollateralen Geschäfte, vom Klub bis zum Späti.
Berlin hat Tradition beim Gründen. Ein gewisser Johann Georg Halske zum Beispiel war von 1825 bis 1828 Schüler am Grauen Kloster. Er ging beim Maschinenbauer Schneggenburger in die Lehre, in der Ritterstraße. Der junge Halske lernte bei verschiedenen Feinmechanikern, um 1843 in der Karlstraße seine eigene Werkstatt für chemische und mechanische Apparate zu gründen. Die Mechanik war damals das, was heute die digitale Technik ist. Johann Georg Halske war ein klassischer Gründer, der sich mit einem Start-up selbstständig machte.
Halske hat sich bewusst für Berlin entschieden, weil es hier den richtigen Spirit gab, schon damals dieses Urvertrauen, dass es Platz gab, sich zu entwickeln, die Freiheit, sich auszuprobieren, das Mit- und Gegeneinander in einer naturwissenschaftlichen Community, in der sich auch Helmholtz oder Virchow bewegten.
Weniger Nuggets, eher Blattgold
Ob diese Herren früher großes Ansehen genossen? Ahnte irgendjemand, dass aus diesem kleinen Kreis eine wissenschaftliche und wirtschaftliche Innovationskraft hervorgehen würde, die die Welt verändert? Nein, diese jungen Männer wurden wohl eher als Spinner abgetan. Aber die Berliner in ihrer herb-toleranten Art ließen diese Tüftler immerhin in Ruhe tüfteln.
Und das taten sie. Am 12. Oktober 1847 gründeten Halske und ein gewisser Werner Siemens die „Telegraphie-Bauanstalt“. Beide hatten die geradezu ungeheuerliche Vision, dass Menschen über weite Strecken hinweg kommunizieren sollten, ohne Papier und Brieftaube. Halske und Siemens, diese beiden Start-upper, haben Telekom und Vodafone und Apple möglich gemacht.
Zugegeben, gemessen an Google oder Facebook wachsen derzeit in Berlin weniger Nuggets, sondern eher Blattgold. Über die meisten Start-ups würde in Kalifornien niemand einen Chai Latte lang reden. Aber die narrative Lawine rollt unaufhörlich: Die Welt ist sich einig, dass in der deutschen Hauptstadt eines Tages das nächste heiße Ding auftauchen könnte. Kollektive Hoffnung liegt über der Stadt, die Kreative und Fantasiebegabte aus aller Welt magisch anzieht. Und wenn schon nicht das nächste Facebook aus Berlin kommt, dann eben ganz viele kleine und mittlere Start-ups, die einen hübschen Wettbewerb untereinander entfachen.
Rundum-Vollkasko gibt es nicht
Schön, dass die Stadt der Meckerer und Kampf-Chiller auch andere Perspektiven bietet als die nächste Molle. Was aber ist dran am Traum vom schnellen Geld? Wie funktioniert das Start-up-Business in dieser Stadt, die nichts nötiger hat als sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze? Gibt es sie wirklich, die heißen Gründer-Stories, die sich seit einigen Jahren durch Berlin ranken? Oder bleiben die Fantasien doch bunter als die Realität?
Wer selbst einmal versucht hat, ein Geschäft im digitalen Kosmos zu gründen, der kann über die Mythen von der schnellen Million nur lachen, weiß aber auch: Es gibt ein vielfältiges Potenzial, wunderbar ungeordnet, noch weitgehend unbehelligt vom deutschen Verbandsunwesen, ungeregelt, undressiert und ungemein findig. Ausgerechnet das unberechenbar Anarchische, das den wohlgeordneten Rest der Republik so nervt, scheint sich als Standortvorteil zu erweisen.
Was aber, bei aller Begeisterung, auch zur Realität gehört, sind die zahlreichen Namenlosen, die scheitern. Wer sich ins Start-up-Abenteuer wagt, muss wissen: Rundum-Vollkasko gibt es nicht. Wenn das Erbe futsch ist, muss man wieder richtig arbeiten oder eine bessere Idee noch konsequenter umsetzen, sofern sich ein Kapitalgeber findet.
Anfängern geschieht oft das Missgeschick, an die falschen Programmierer zu geraten. Die Softwarebastler sind die wahren Herrscher Berlins. Die Guten sind teuer, die meisten sprechen absichtsvoll unverständlich. Ihre Arbeit entscheidet über den Erfolg des Projekts. Wer, wie viele Gründer, anfangs gar nicht ganz genau weiß, was er eigentlich programmieren lassen will, verpulvert seine knappen Gründer-Euro in wenigen Wochen.
Das gelieferte System entspricht zwar irgendwie den verabredeten Anforderungen, ist aber in einer derart exotischen Weise geschrieben, dass sich kein anderer Programmierer korrigierend da rantraut. Was tun? Die Guten haben ohnehin keine Zeit. Leider viel zu spät gemerkt, dass man mit seinem knappen Startgeld zweifelhafte Existenzen mit multiplen psychischen Problemen alimentiert hat, die ihren letzten Kompetenzzuwachs auf dem C64 gesammelt haben.
Schnell geht gar nichts außer Geldverbrennen
Also alles neu. Besser, als mit den alten Nerds weitermachen, mit denen man nur noch per Anwalt kommuniziert. Vielleicht mal ein Besuch bei der Investitionsbank Berlin, die mit großzügigen Gründerkrediten wirbt. Man will läppische 50.000 Euro, Rückzahlung gestreckt bis zum Jüngsten Tag. Aber die netten Herren sagen: „Nehmen Se doch gleich ’ne halbe Million, dann können Se richtig durchstarten.“
Nun ja, das mit dem Durchstarten klingt gut, würde man noch an diesen ganzen Rollout-, Kickass-, Vollelotte-Schnickschnack glauben. Respekt für die Herrschaften von amen.de. Sie haben das Geschäft wirklich begriffen und viele Millionen Startgeld eingesammelt, sogar von Ashton Kutcher. Gute Story, gutes Design, gute Stimmung helfen beim Verschmerzen satter Verluste.
Der erste Lernerfolg des Neugründers: Schnell geht gar nichts außer Geldverbrennen. Ideen gibt es viele, aber nur wenige Macher, die sie in Geschäftsmodelle umsetzen, verbessern, dranbleiben. Start-up ist wie Marathon, nur schlimmer. Am Start pulst das Adrenalin, breites Grinsen, Vorfreude auf die Millionen. Nach einem Viertel denkt man sich: Na ja, doch nicht so leicht. Nach der Hälfte: Au weia, wie weit ist’s denn noch? Und fünf Kilometer vorm Ziel: Bitte keinen Schritt weiter.
Der Unterschied: Beim Marathon ist das Ziel bekannt. Beim Start-up zieht sich der Lauf bisweilen über Jahre. Vor allem in jener Phase, da das Investorengeld verpulvert ist, aber die Einnahmen nicht richtig fließen wollen. Die berühmte Erfolgsgrafik vom Hockeyschläger, die Fall und Wiederaufstieg symbolisiert, lügt an jener entscheidenden Stelle, wo die Kurve den Boden berührt. Was wie ein baldiger Schwung nach oben aussieht, ist in vielen Fällen eine lange, ermüdende Gerade. Hier ist Durchhaltewillen gefragt, der bedingungslose Hunger nach Erfolg.
Womit wir bei einem Berliner Mentalitätsproblem wären. Ideen ausbrüten, Flausen aufbauschen und mit Alexander-Dobrindt-Brille im „St.Oberholz“ mit dem von Vati finanzierten Klapprechner die besten Szenen aus „The Social Network“ nachstellen – es sieht so aus, als könne die Szene das gut. Der eher harte Teil des Gründens kommt dagegen oft zu kurz. Die jungen Hoffnungsträger sind leider viel zu selten geld- und machtgeil.
Zwischen Lethargie und Hysterie
Bill Gates oder Steve Jobs oder Mark Zuckerberg quoll aus jeder Pore, dass es ihnen um nichts Geringeres als die Weltherrschaft ging. Geld und Macht, diese Motive aber sind im piratig-romantischen Kuschel-Berlin diskreditiert. Wer Geld hat, wird als Schwabe verdächtigt oder als einer der Samwer-Brüder, die sich mit zahlreichen geschickten Investitionen in die erste Garde der Internet-Millionäre gezockt haben. Wer Erfolg hat, gehört nicht mehr zum Clan. Wer Macht will, ist ein Nazi oder hat zumindest seine früheren Partner rausgeboxt. Start-up-Millionäre tun gut daran, in durchgelatschten Turnschuhen durch Mitte zu streifen.
Relative oder zumindest gespielte Armut ist seit jeher Basis für Berliner Street Credibility, eigentlich die einzige. Größenwahn und Gier aber sind zentrale Voraussetzungen beim Start-uppen, beim Goldsuchen übrigens auch. Nur wer irre genug ist, alles zu wollen, ist auch bereit, alles zu geben. Weniger darf es nicht sein. Emotional wenig belastbare Sprösslinge aus Süddeutschland aber, die außer ein paar artigen Auslandsvierteljahren in Langweiler-Agenturen und einigen Semestern Gender-Design nichts erlebt haben, werden niemals groß in Denken oder Handeln. Ihnen fehlt der Hunger und die Wut und der Trieb, kurz: das Killer-Gemüt eines über Monate mit Tofu und Mate-Tee gefolterten Kampfhundes.
Berliner Gründer ziehen eher Tomaten auf dem Balkon und verschenken selbst gehäkelte Topflappen. Immerhin: Auch daraus lässt sich ein Start-up machen. Dawanda verhökert erfolgreich Bastelarbeiten. Und so zeichnen sich viele der neuen Firmen, von denen jeden Tag zwei bis drei gegründet werden, durch eine gewisse Unauffälligkeit aus. Sie liegen nicht in Mitte, sondern in Adlershof, sind eher mittelgroß, unterdurchschnittlich glamourös, aber überaus erfolgreich, oft in urdeutschen Branchen wie Technik und Industrie. Hier liegt womöglich mehr Potenzial als beim x-ten sozialen Netzwerk mit Bestellbutton.
Zwischen Lethargie und Hysterie
Ist Berlin nun das zweite Silicon Valley? Natürlich nicht. In Berlin gibt es viel mehr Kneipen als in Palo Alto, dafür keine Uni wie Stanford, wo fast alle Mitbegründer der digitalen Ära einst herumdokterten und sich gegenseitig anheizten. Berlin hat viele Ideen, aber zu wenige Verwirklicher, die an der Schnittstelle von Kreativität, Konto und Kunden Impulse liefern.
Immerhin: Berlin bietet noch immer Schutzräume genug, wo sich unbehelligt austoben lässt, eine gewisse Überlebenskompetenz, vor allem eine Geduldskultur, die zwischen Lethargie und Hysterie oszilliert. Das ist gut so. Erfolg braucht Zufall. Und Zufall braucht Zeit. Das Silicon Valley hat schon 80 Jahre Start-up-Erfahrung hinter sich. Und die Nuggets wurden auch nicht alle in den ersten Wochen des Goldrauschs gefunden.
Unser Autor Hajo Schumacher war Mitgründer der Berliner Start-ups achim-achilles und spredder, das inzwischen mit dem Contentportal dieredaktion.de fusionierte. Demnächst wird Schumacher sich auf dem E-Book-Markt umtun.
>> Alle Teile der Serie "Gründerzeit" finden Sie HIER
>> Das Blog zur Gründerzeit von Jürgen Stüber finden Sie HIER