Der fünfjährige Malik ist einsilbig. Konzentriert versucht er, aus kleinen Klinkersteinen einen schiefen Turm zu bauen, und lässt sich dabei nicht von den vielen Kameras, die auf ihn gerichtet sind, irritieren. Während er da zusammen mit anderen Vorschulkindern experimentiert, ahnt er nicht, dass er selbst Teil eines großen Experiments ist, das bundesweit mit Interesse verfolgt wird.
Es ist der Versuch, aus der Neuköllner Rütli-Schule, die vor acht Jahren mit einem Brandbrief für Schlagzeilen sorgte, das Vorzeigeprojekt Campus Rütli zu machen. Ein Quadratkilometer Bildung, auf dem alle Bildungsträger – von der Kita bis zur Berufsbildung – zusammenarbeiten, ist die große Vision. Am Freitag ist mit der Stadtteil-Lernwerkstatt in der AWO Kita Villa Kunterbunt ein weiterer Baustein auf diesem Quadratkilometer eröffnet worden.
Die Lernwerkstatt ist zunächst ein leerer Raum in einem Anbau an der Kita. Es gibt Waschbecken und einen Abfluss, Regale und durchsichtige Kisten sollen noch folgen. Das Übrige sollen die Kinder und Eltern selbst besorgen. Sie sollen Dinge mitbringen, mit denen sie gern experimentieren. Murmeln, Schnur, Nägel, getrocknete Blätter, Korken und Kerzen.
Abwärtsspirale umkehren
Anregungen erhalten sie durch Fragestellungen wie: „Kannst Du etwas zum Sinken bringen, was eigentlich schwimmt?“ oder „Wie ist es möglich, einen schiefen Turm zu bauen?“ Nicht nur Kitakinder, auch Grundschulkinder und Eltern sollen den neuen Raum nutzen. Mit Gesamtkosten von 320.000 Euro ist die Lernwerkstatt nur ein kleiner Bestandteil des Großprojektes Campus Rütli, in das insgesamt 35 Millionen Euro fließen.
Der Weg ist mühsam. In drei Jahren soll der Anbau für die Grundschüler fertig sein. Sie ziehen dann mit auf das Gelände der ehemaligen Hauptschule, die einst bundesweit zum Inbegriff einer gescheiterten Schulform wurde.
Im Jahr 2006 schrieben die Lehrer der Schule einen Hilferuf an die Schulverwaltung, in dem sie darum baten, die Schule zu schließen. Die Schüler seien respektlos und gewaltbereit, sie würden die Stühle aus den Fenstern werfen und die Lehrer würden sich nur noch mit einem eingeschalteten Handy in die Klasse trauen. Nicht ein einziger Schüler hatte damals eine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz nach der Schule, viele schafften nicht einmal den Schulabschluss.
Erste Gemeinschaftsschule Neukölln
Doch die Schule wurde nicht geschlossen. Stattdessen kamen zahlreiche Hilfsangebote von freien Trägern, Stiftungen und Betrieben. 2007 wurde das Projekt Campus Rütli ins Leben gerufen. Die Hauptschule verschmolz mit der benachbarten Realschule und der nahe liegenden Grundschule zur ersten Gemeinschaftsschule Neukölln. „In diesem Jahr legen die ersten Schüler, dort wo vor zehn Jahren noch Stühle aus den Fenstern flogen, ihre Abiturprüfung ab“, sagt Heinz Buschkowsky (SPD), Bezirksbürgermeister von Neukölln. Für Buschkowsky geht es beim Campus Rütli darum, den Beweis anzutreten, dass man eine scheinbar naturgesetzlich gegebene Abwärtsspirale in einem Gebiet, in dem vorrangig Menschen in prekären Lebenslagen wohnen, umkehren kann.
In seiner Amtszeit wird Buschkowsky den fertigen Campus Rütli wohl nicht mehr erleben. Der Anbau für die Grundstufe soll im kommenden Jahr erst beginnen. Das geplante Elternzentrum mit dem integrierten sozialpädagogischen Dienst vom Jugendamt steht noch aus, und auch das Berufslehrezentrum ist noch längst nicht gebaut. Doch es gib erste Erfolgsmeldungen. Vor zwei Jahren wurde die Quartiersporthalle eingeweiht, jetzt die Lernwerkstatt in der Kita.
Modell Rütli am Campus Efeuweg in der Gropiusstadt kopieren
Nicht nur die erste Abifeier, die für den 4. Juli geplant ist, macht Mut, sondern auch die Anmeldezahlen für die Franz-Schubert-Grundschule, die Teil der Gemeinschaftsschule ist. Erstmals gibt es dort für die ersten Klasse mehr Anmeldungen als Plätze. Und darunter seien auch Kinder mit deutscher Herkunftssprache, sagt Franziska Giffey, Bildungsstadträtin von Neukölln. Für die Stadträtin ist das ein Indiz, dass die Kehrtwende geschafft ist. „Bisher haben die Familien den Kiez verlassen, wenn ihre Kinder schulpflichtig wurden. Das ist jetzt nicht mehr so“, sagt sie. Für sie ist das Beweis genug, um das Modell Rütli am Campus Efeuweg in der Gropiusstadt zu kopieren. Ob das gelingt, wird davon abhängen, ob es möglich ist, noch einmal so viele Akteure mit der gleichen Vision zu vernetzen wie beim Campus Rütli.
Selbst Staatssekretär Mark Rackles musste einräumen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Bezirksverwaltung, Senatsverwaltung und freie Träger wie beim Campus Rütli, immer an einem Strang ziehen. Eine solche Vernetzung gelinge nur mit einer gemeinsamen Idee.