Sterne leuchten über den Eingangstüren der Einfamilienhäuser, in den Vorgärten sind Tannenbäume mit Lichterketten geschmückt. Aus einem Fenster dringt Kinderlachen, aus einem anderen ein Weihnachtslied. Waldesruh heißt dieser Ortsteil von Hoppegarten. Es ist ein Ort, in dem sich junge Familien eine kleine Idylle geschaffen haben. So wie Gesine und Axel. Die 33-jährige Kosmetikerin und der 34 Jahre alte Computerspezialist sind vor einigen Jahren in das Haus seiner Großmutter gezogen. Als sich das erste Kind, Ida, ankündigte, haben sie den Flachbau um eine Etage erweitert. Sie haben an die Zukunft gedacht.
Heute denken Gesine und Axel nicht gern an die Zukunft. Sie leben im Hier und Jetzt. Ihr Familienglück steht seit zwei Jahren auf wackeligen Beinen. Gesine streicht ihrer jüngeren Tochter Ella über die blonden Haare. Das zarte Mädchen schlingt die Arme um den Hals der Mutter. Sie lassen einander nicht gern los. Zu oft mussten sie es schon. Die zweijährige Ella trägt das Herz eines anderen Kindes in ihrer Brust. Als sie fünf Wochen alt war, versagte ihr eigenes.
Nur 35 Grad Körpertemperatur
Es war die Nacht zu Ostern 2011. Gesine hatte ihre Kleine nach dem Stillen ins Bett gelegt. Doch in der Nacht wachte sie auf, spuckt. Klar, Babys spucken schon mal, kein Grund zur Sorge, dachte die Mutter. Und sorgte sich doch. Irgendetwas stimmte nicht. Am nächsten Morgen wirkte Ella apathisch. Gesine fuhr zur Kinderärztin. Irgendetwas stimme nicht, befand auch sie. Vielleicht eine Darmverschlingung. Sie überwies die Tochter ins Krankenhaus Rüdersdorf. Ella bekam auf einmal schwer Luft, brach im Arm ihrer Mutter zusammen, ihre Körpertemperatur lag nur noch bei 35 Grad. Mit dem Krankenwagen ging es von Rüdersdorf ins Klinikum Buch. Dort wurde Ellas Herz geröntgt. Es war viel zu groß für den kleinen Körper. „Sie muss ins Herzzentrum“, lautete der Beschluss der Ärzte, und zwar sofort. Noch in der Nacht kamen sie dort an, Ella wurde sofort auf die Intensivstation gebracht.
24 Stunden vorher hatte Ella noch gestrahlt und gestrampelt, nun lag sie schwer atmend und blass im Krankenbett, verkabelt und angeschlossen an Überwachungsgeräte. Auf einmal ging es um Leben und Tod.
Wenn Gesine über diesen Tag spricht, klingt es so, als würde sie von einem Film erzählen. Sie versucht, diesen Tag auf Distanz zu halten. Dann lässt es sich leichter mit ihm leben. Aber Ellas Geschichte ist kein Film. Und sie brach ohne Vorwarnung über die Familie herein. Es gab nie Herzprobleme in der Familie, auch keine Anzeichen während der Schwangerschaft. „Klar war ich bei der Feindiagnostik“, erzählt Gesine, aber nicht weil sie besorgt war, nein, sie hat sich, wie so viele werdende Eltern, aufs „Babykino“ gefreut. Auch die ersten Untersuchungen nach der Geburt waren in Ordnung. Der Arzt hörte zwar einen doppelten Herzton, aber das kommt vor bei Neugeborenen und sollte bei der nächsten Untersuchung überprüft werden. Aber da lag Ella schon in der Klinik.
Im Herzzentrum konnten Gesine und Axel nicht bei Ella bleiben. „Wir wurden nach Hause geschickt, sollten schlafen“, erzählt die Mutter. „Kein Wort haben wir auf der Autofahrt gesprochen, wir waren wie erstarrt.“ Am nächsten Morgen hatten sie gehofft, dass alles nur ein schlechter Traum war. Aber dann fiel ihr Blick auf Ellas leeres Bett.
Am schlimmsten ist das Ausgeliefertsein
Die nächsten Wochen waren für das Paar schlimm. „Vor allem dieses Warten, dieses Nicht-Bescheid-Wissen, dieses Selbst-nichts-tun-Können waren kaum auszuhalten“, sagt Axel. Dann kam die Diagnose: dilatative Kardiomyopathie, eine krankhafte Erweiterung des Herzmuskels, die die Pumpfähigkeit des Herzens reduzierte. Aber was bedeutete das? An guten Tagen sagte sich Gesine: Dann bekommt sie eben jeden Tag eine Tablette. An schlechteren Tagen ahnte sie: Ella muss vielleicht operiert werden. An eine Transplantation hat sie nie gedacht. Ende Mai ruft ein Arzt Gesine und Axel zu sich und spricht es aus: Herztransplantation. „Es war, als würde sich der Boden unter mir öffnen“, sagt Gesine, „nichts habe ich gespürt, nicht einmal weinen konnte ich.“ Technische Fragen hat sie stattdessen gestellt: Was passiert nun? Der Arzt hoffte, dass sie noch ein Jahr warten könnten. Aber so viel Zeit hatte Ella nicht. Ihr Zustand verschlechterte sich. Am 10. Juni wurde Ella für eine Transplantation gelistet, zwei Tage später schon kam der Anruf, mitten in der Nacht: Das Herz ist da, es wird operiert. Als Gesine ihre Tochter am nächsten Morgen in den Operationssaal schob, fühlte es sich wie ein Abschied von ihrer heilen Welt.
Die Eltern sind froh, dass sie nur wenig Zeit hatten, nachzudenken. Und dass sie nicht wissen, woher das Herz kam. So ist es im Transplantationsgesetz geregelt. Sie sind nur dankbar dafür, dass für Ella so schnell ein Spenderherz gefunden wurde. Sie kennen die Geschichten von Menschen, die Monate, sogar Jahre warten. Die Spendenbereitschaft ist nach dem Organspende-Skandal zurückgegangen. Wurden 2010 noch 379 Herzen transplantiert, waren es 2012 nur 327. Am Herzzentrum Berlin gab es bislang insgesamt 1800 Herztransplantationen, 160 bei Kindern. Selten sind sie so jung wie Ella.
Die Angst ist immer da
Mehr als fünf Stunden dauerte die Operation. Stunden, die den Eltern unendlich erschienen. Um 14 Uhr kam endlich die Erlösung: Ella hatte es geschafft.
Nach der Operation traute sich die Mutter kaum, ihre Tochter in den Arm zu nehmen. „Sie war noch unter Narkose, lag in einer Glasbox, 16 Schläuche hingen aus ihr heraus, Sie war aufgequollen und kaum wiederzuerkennen.“ Noch Wochen musste die Kleine in der Klinik und in der Reha verbringen. Das ganze erste Lebensjahr war Ella mehr im Krankenhaus als zu Hause. Erst Ende September durften die Eltern sie nach Hause holen. Das Familienleben zu viert begann noch einmal ganz von vorn.
Wenn Menschen ihr heute sagen: „Ach, das wird schon wieder“, dann weiß Gesine, es ist gut gemeint. Aber sie weiß auch: Es wird nicht schon wieder. Ellas Lebenserwartung ist ungewiss, das fremde Herz altert schneller als ein eigenes, gesundes Herz und kann jederzeit vom Körper abgestoßen werden. Daher bekommt Ella nachts eine Spule aufgelegt, mit der das EKG aufgezeichnet und am Morgen ans Herzzentrum übertragen wird. Gibt es eine Unregelmäßigkeit, muss Ella kommen. Manchmal sofort. Fast wäre so vor zwei Jahren die Hochzeit von Gesine und Axel geplatzt. Gesine ließ sich gerade die Haare richten, als der Anruf aus der Klinik kam. Irgendetwas sei nicht in Ordnung. Der Hauch von Unbeschwertheit, den die Braut gerade gefühlt hatte, war verflogen. Auch wenn an diesem Tag wieder alles ins Lot kam und die Trauung stattfinden konnte, „es ratterte in mir die ganze Zeit“.
Der Umgang mit den Medikamenten ist inzwischen Routine
Alle paar Wochen muss Ella in die Klinik. Manchmal dauern die Untersuchungen nur einen Tag, oft länger. „Als ich aus der Klinik kam, habe ich anfangs eine Stunde gebraucht, bis ich die Acht-Uhr-Medikamente zusammenhatte“, erinnert sich die Mutter, die Angst, etwas falsch zu machen, war groß. Heute, zweieinhalb Jahre nach dem Eingriff, ist die Medikamentengabe Routine geworden. Auch die Besuche im Herzzentrum. Aber die Angst ist geblieben. Dennoch versucht die Familie, im Alltag so normal wie möglich zu leben. „Man schiebt das weg“, sagt der Vater. Ella geht in die Kita wie ihre große Schwester. Aber wenn ein Kind erkältet ist, muss sie zu Hause bleiben. Jede Infektion kann für Ella tödlich sein. Es ist wie so vieles in ihrem Leben eine Gratwanderung.
Ella sieht man ihren schweren Weg nicht an. Es fällt nur auf, wie leicht sie ist. Es scheint, als würde sie durch ihr schweres Leben schweben. Mit ihren fast drei Jahren wiegt sie acht Kilo – so viel wie ihre große Schwester mit neun Monaten. „Aber sie ist eine Kämpferin“, sagt ihre Mutter. Sie drückt ihrer Tochter sanft einen Kuss auf die Stirn. Dann werden ihre Augen feucht, und sie fügt leise an: „Sonst hätte sie das doch alles nicht geschafft.“