Der Grund, zu kämpfen, hat einen Namen: Parmis. Es ist sein erstes Kind, eine Tochter. Sie kam am 14. Juli zur Welt, gegen neun Uhr morgens, vielleicht auch früher. So genau weiß Mehdi Bakhshajesh das nicht. Er war ja nicht dabei, als seine Frau Neda mit Wehen in die Klinik in Teheran kam. Er saß in einem Flüchtlingsheim in Berlin-Reinickendorf, 3500 Kilometer von ihr entfernt. Er war die ganze Nacht wach geblieben, um auf den Anruf zu warten.
Als das Handy klingelte, vergaß er für einen Augenblick alles. Die Reise zu seinem Cousin nach Hamburg. Den Schock, als er erfuhr, dass er nicht wieder in den Iran zurückkehren konnte, weil die Geheimpolizei schon nach ihm fahndete. Die Angst um seine schwangere Frau. Das Warten auf Asyl. Die Ungewissheit. Er hörte die Worte: „Du bist Papa geworden.“ Mehdi Bakhshajesh wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Parmis, so haben er und seine Frau die Tochter genannt. Ein Name wie eine Hoffnung, ein Versprechen. Parmis bedeutet Paradies. Er lächelt verliebt, wenn er sein Handy zückt, um ein Foto von ihr zu zeigen. Winzig klein ist sie. Ein Kopf mit dunklem Haarflaum, der unter einer weißen Decke hervorlugt.
Kein Ende des Flüchtlingsstroms
Bislang hat er die Kleine nur auf dem Bildtelefon gesehen, wenn er mit seiner Frau skypt. Er sagt, anfangs habe sie geschrien, wenn sie seine Stimme gehört habe, doch er habe sie jedes Mal beruhigt. Sie beschworen, ihrer Mutter keinen Kummer zu bereiten. Das Leben sei schon hart genug. Er lächelt. „Ein kluges Kind“, sagt er auf Englisch.
Mehdi Bakhshajesh ist einer von 2775 Flüchtlingen, die in der ersten Hälfte dieses Jahres Asyl in Berlin gesucht haben. Weitere 2700 werden bis Dezember erwartet. Im Vergleich zum Vorjahr steigt die Zahl damit um etwa 25 Prozent. Und ein Ende des Flüchtlingsstroms ist nicht in Sicht.
Weltweit sind 45 Millionen Menschen auf der Flucht – das ist der höchste Stand seit Mitte der 90er-Jahre, als die Kriege in Ex-Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda unzählige Menschen entwurzelten. Alle 4,1 Sekunden macht sich irgendwo auf der Welt ein neuer Flüchtling auf die Reise, haben Statistiker ausgerechnet.
Fünf Prozent aller Asylbewerber landen in Berlin
Das UN-Flüchtlingshilfswerk spricht von alarmierenden Zahlen. Allein der Bürgerkrieg in Syrien dürfte bis zum Ende dieses Jahres Millionen Menschen in die Flucht treiben. 5000 werden hierzulande erwartet. Deutschland steht auf Platz zwei der Länder, die die meisten Asylanträge bekommen, hinter dem Spitzenreiter USA, aber vor Südafrika.
Fünf Prozent aller Asylbewerber landen in Berlin. Einer von ihnen ist Mehdi Bakhshajesh, 34, Joggingschuhe an den Füßen, Melancholie im Blick. Seine Geschichte ist keine typische Flüchtlingsgeschichte, und doch ist sie geeignet, viele der Vorurteile auszuräumen, die auch in Berlin plötzlich überall dort auftauchen, wo neue Notunterkünfte eröffnet werden.
Sie erzählt von einem Sportlehrer, der auf Jura umsattelt, um sich den Traum von einer eigenen Rechtsanwaltskanzlei zu erfüllen. In einem Land, in dem sich die Gesetze mitunter schneller ändern als das Wetter, hat er genug Arbeit, um elf Angestellte zu beschäftigen. Sogar die Regierung gibt Gutachten bei ihm in Auftrag.
Gott brachte einen Fernseher
Doch dann heiratet er und konvertiert zum Christentum. Er spielt Orgel in der Kirche und predigt gegen einen Islam, der Menschen unterdrückt. Damit, so weiß er jetzt, hat er sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Er sagt: „Wen die Geheimpolizei einmal eingesperrt hat, der kommt nicht lebend zurück.“
Mehdi Bakhshajesh schenkt seinem Gast Apfelsaft ein, Weintrauben gibt es auch, darauf besteht er. Sein Zuhause ist ein Zweibettzimmer in einer Notunterkunft in Reinickendorf. Er teilt es sich mit Danal, 25, der vor den Taliban aus Afghanistan floh.
Sie haben es sich so gemütlich gemacht, wie es in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude eben geht. Das Mobiliar haben Nachbarn gespendet. Zwei Sofas, eine Schrankwand, ein Kühlschrank, ja, sogar einen Fernseher. Mehdi kann es immer noch nicht glauben. Er sagt: „Ich habe schon wochenlang nach einem alten Gerät gesucht, und dann hat Gott plötzlich eines vorbeigebracht.“
Unterkunft ist nur ein Provisorium
Den Iraner zu finden, ist gar nicht so leicht. Er wohnt in Haus 25 auf dem Gelände von „Bonnies Ranch“, wie die Berliner die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik nennen. Eine grüne Oase hinter einem meterhohen Zaun. Einen Wegweiser sucht man vergeblich. Man merkt: Diese Unterkunft ist nur ein Provisorium.
Wer duschen will, muss nach draußen, in die Duschcontainer auf dem Hof. Mehdi sagt, er dusche lieber bei McFit. 19 Euro kostet ihn das Abo im Fitness-Studio. Viel Geld für einen, der von 355 Euro im Monat leben muss. Mehdi ist es das wert. Er sagt, er müsse trainieren. So die Zeit und das Warten überbrücken.
Vor einem halben Jahr hat er seinen Asylantrag gestellt. Er wird sich noch gedulden müssen, die Ausländerbehörde erhält derzeit sehr viele Gesuche. Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge kämen als Erste an die Reihe, sagen Insider. Nur Roma und Sinti würden noch schneller bedient, allerdings aus einem ganz anderen Grund. Die nämlich wolle die Behörde abschrecken, indem sie sie schnell wieder abschiebe. Der Rest könne sich gute Chancen ausrechnen. „Faktisch bleiben 80 Prozent der Flüchtlinge, die hier einen Asylantrag gestellt haben“, sagt die Integrationsbeauftragte des Berliner Senats, Monika Lüke.
Flüchtlinge wollen sich irgendwie nützlich machen
Mehdi Bakhshajesh hat versucht, seiner Frau ein Touristenvisum zu besorgen, damit sie ihm mit dem Baby folgen kann. Aber das hat nicht funktioniert. Er sagt, sie werde immer depressiver. Er wolle jetzt stark sein, schon für sie und das Kind. Kraft tankt er beim Gottesdienst in einer evangelischen Kirche.
Aber nachts liegt er oft wach und fragt sich, warum ihn Gott auf diese harte Probe stellt. Er wird jetzt ein bisschen lauter. Er fragt: „Warum?“ Es ist seine erste deutsche Vokabel. Er hat sie sich selbst beigebracht mit einem Sprachprogramm auf seinem Handy.
So motiviert wie er sind andere Flüchtlinge in Haus 25 auch. Man sieht das in der Gemeinschaftsküche, die blank geputzt ist. „Die Bewohner wollen nicht den ganzen Tag herumsitzen. Einige schrubben freiwillig Toiletten, um sich irgendwie nützlich zu machen“, sagt Yvonne Lieske von der Prisod GmbH, die die Notunterkunft im Auftrag des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) betreibt.
Man würde diese Geschichte gerne jenen Menschen erzählen, die Berlin am 9. Juli in die Negativ-Schlagzeilen katapultierten. An jenem Abend hatte der Bezirk Hellersdorf die Anwohner zu einem Informationsabend eingeladen. Es ging um eine neue Notunterkunft für Flüchtlinge.
1992 brannte in Rostock ein Asylbewerberheim
Das LaGeSo hatte sie nach fieberhafter Suche in Hellersdorf gefunden. Es war die 30. Notunterkunft im Raum Berlin. Ein leer stehender Plattenbau mitten in einem sozialen Brennpunkt. Das ehemalige Max-Reinhardt-Gymnasium. Schon bald sollen dort 200 Flüchtlinge einziehen. Doch noch bevor die Behörde Trennwände einziehen konnte, um Klassen in Wohnzimmer zu zerteilen, hatten Rechtsradikale gegen die neuen Bewohner mobil gemacht.
Sie hatten Flugblätter mit der Parole „Nein zum Heim!“ verteilt. Sie hatten auf einer Facebook-Seite gegen die neuen Nachbarn gehetzt. Wer googelte, stellte fest, dass Inhalte 1:1 von anderen Flyern der rechtsradikalen NPD kopiert waren. Bei der Versammlung traten die Brandstifter als Mitglieder einer Bürgerinitiative auf. Sie wollten doch nur das Beste für die Nachbarn, beteuerten sie. Was sie genau damit meinten, ahnte man beim Blick auf das Datum, das einige demonstrativ auf ihren Hemden zur Schau trugen. August 1992.
In jenem Monat ging in Rostock-Lichtenhagen ein Asylbewerberheim in Flammen auf. Das Sonnenblumenhaus. Rechtsradikale hatten Molotowcocktails in die Fenster geschleudert, Anwohner schauten zu und applaudierten.
Keine Sternstunde der Demokratie
Als Rechtsradikale geoutet oder zur Rede gestellt wurden die Männer in Hellersdorf nicht. „Ich hätte gerne etwas gesagt, habe mich aber nicht getraut“, sagt einer, der dabei war. Man wisse doch, dass Sympathisanten der NDP nicht vor Gewalt zurückschreckten.
Keine Sternstunde der Demokratie. Das muss sogar der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bezirk einräumen. „Irgendwie ist denen der Brückenschlag zur Bevölkerung gelungen“, sagt Björn Tielebein. Erst nach der Veranstaltung firmierte sich ein Bündnis von demokratischen Parteien, Bezirksamt, Polizei und Anwohnern.
Ein Runder Tisch muss jetzt das Image des Bezirks wieder aufpolieren und den Flüchtlingen das Gefühl vermitteln, sie seien willkommen. Doch woher rühren die Ressentiments? Und warum stehen die Nachbarn des Flüchtlingsheims in der Soostraße im Westend Schlange, um zu helfen, während die Hellersdorfer erst einmal rassistische Schmierereien in ihrem Kiez entfernen müssen?
Flüchtlingsrat im Westend lud Anwohner ein
Vielleicht liegt es daran, dass ein kleiner, aber ungemein engagierter Verein hier Druck aus dem Kessel genommen hat, indem er die Anwohner eingeladen hat, sich zu engagieren. Der Flüchtlingsrat. Das Echo war so groß, dass das Heim jetzt einen eigenen Mitarbeiter brauchte, der die Ehrenamtlichen koordiniert.
Die Nachbarn spendeten säckeweise Kleidung. Sie begleiten Familien zu Ärzten und Behörden. Sie bringen Kindern die deutsche Sprache bei. Es gibt sogar einen Chor. Der Musiktherapeut Frank Becker bietet ihn an. Ein Nachbar hat ein Klavier zur Verfügung gestellt. „Singen befreit von Schmerz und trüben Gedanken“, sagt Becker.
Man muss an die singenden Kinder und die Schlange vor der Kleiderkammer im Westend denken, wenn man das Flüchtlingscamp am Oranienplatz in Kreuzberg besucht. Ein Plattenspieler, Mischpult und Lautsprecherboxen. Das ist das Herz des Camps. Ein Café im Zelt.
Im Camp verläuft ein Riss zwischen den Bewohnern
Es sieht aus wie eine abgerockte Party-Location. Seit Oktober hausen vier Dutzend Asylbewerber in Zelten. Sie fordern die Abschaffung der Residenzpflicht und der Gemeinschaftsunterkünfte. So steht es auf Plakaten. Doch wer schaut hin, wenn schon der Lärm abschreckt?
Dieses Camp ist ein Kosmos für sich. Ein Riss verläuft in der Mitte. Er trennt die Flüchtlinge, die ihren Asylantrag in Deutschland gestellt haben, von denen, die direkt aus der italienischen Hafenstadt Lampedusa gekommen sind, der Drehscheibe für Flüchtlinge aus Afrika. Die ersten haben Anspruch auf Unterhalt, die anderen nicht. Die Stimmung im Plenum ist gespannt. Die einen wollen das, die anderen dieses. Man schreit sich gegenseitig an.
„Warte mal einen Augenblick“, sagt Patrick, 35, aus Uganda, der zur ersten Fraktion gehört, und schnappt sich das Megafon. „Ich muss eben mal ein Machtwort sprechen.“ Patrick gefällt sich in der Rolle des Märtyrers. Er kam 2010 nach Deutschland, er sagt, er habe in seiner Heimat gegen Korruption gekämpft. Er murmelt was von einer christlichen Kirche, die ihn in einem Flugzeug nach Europa geschmuggelt hat. Er bleibt vage. Er wird wissen, warum.
Die Toleranz der Anwohner schwindet
Er sagt, er habe zwei Jahre lang in einer Sammelunterkunft im bayrischen Passau gelebt, sechs Männer in einem Zimmer. Dann habe er das nicht mehr ausgehalten. Den Streit. Den Lärmpegel. Den Stress. Weniger Stress dürfte er in diesem Camp nicht haben. Sie hausen zu zehnt in einem Mannschaftszelt. Patricks Bett, das ist ein schmales Sofa hinterm Eingang. Nachbarn haben es gespendet.
Patrick lächelt. Er sagt, in Bayern hat er erlebt, dass Einheimische demonstrativ aufstanden und die Bushaltestelle verließen, wenn er kam. In Kreuzberg sei ihm das noch nicht passiert. Hier versorgen ihn Nachbarn mit Obst und selbst gebackenem Kuchen. Doch die Toleranz der Anwohner schwindet in dem Maße, wie sich die Bewohner des Camps gegenseitig bekriegen. Es hat eine Messerstecherei gegeben, Tumulte und Polizeikontrollen. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Drogendealer hätten sich im Camp einquartiert.
„Langsam reicht’s“, sagt eine Kellnerin aus dem gegenüberliegenden Café. Nicht ahnend, dass sie damit jenen aus der Seele spricht, die in Hellersdorf Urängste wecken und Hass auf alle schüren, die zu einer langen Reise aufgebrochen sind. Berlin braucht einen langen Atem, damit sie hier irgendwann richtig ankommen. Doch Menschen wie Mehdi Bakhshajesh und Initiativen wie die im Westend zeigen: Wo ein Wille ist, ist vielleicht auch ein Weg.