Berliner Bühnen

Behinderter Akrobat rockt das Wintergarten Varieté

| Lesedauer: 6 Minuten
Ulrike Borowczyk

Foto: Andreas Brückelmair

International gefragter Akrobat trotz Körperbehinderung: Mit seiner furiosen Tanz-Show auf Krücken begeistert der an Kinderlähmung erkrankte Künstler Dergin Tokmak das Publikum im Berliner Varieté Wintergarten.

Die langen, schwarzen Locken mit dem roten Bandana und der durchtrainierte Oberkörper strahlen puren Rock’n’Roll aus. Mit seinem ansteckenden Lachen besitzt Dergin Tokmak zudem noch das gewisse Etwas. Ein cooler, witziger Typ. Kein Wunder, dass man schon nach wenigen Momenten weder auf die Krücken noch auf den Rollstuhl achtet. Höchstens, um sich ein wenig verwundert die Augen zu reiben, denn dem Gefährt fehlt die Rückenlehne. Unbequem? I wo! Der Tänzer und Akrobat schätzt nicht nur das zusätzliche Rückentraining durch die gerade Haltung, er weiß auch: „Es ist einfach stylisher und schaut besser aus. Außerdem mag ich mich da nicht reinfläzen wie eine Couchpotato im Fernsehsessel.“

Auch seine Krücken hat er mit rotem und weißem Klebeband mächtig aufgehübscht. Kein Vergleich allerdings zu seinen Geh-, besser gesagt: Tanzhilfen auf der Bühne, mit denen er in der „Culti Multi Show“ das Wintergarten Varieté rockt. Die leuchten auch im Dunkeln!

Polio-Infektion mit acht Jahren

Wie ein ganz normales Sportgerät schwingt der 39-Jährige die Krücken und wirbelt darauf mit solch einer Virtuosität und Geschwindigkeit über die Spielfläche, dass niemand auf die Idee kommen würde, er sei körperbehindert. Und doch war der gebürtige Augsburger, Sohn türkischer Eltern, mit acht Monaten an einer Polio-Infektion erkrankt, die seine Beine so schwach und dünn gemacht hat, dass sie ihn ohne Krücken nicht tragen.

Seine ersten zehn Lebensjahre waren geprägt von unzähligen Krankenhausaufenthalten: „Meine Eltern haben alles getan, in der Hoffnung, dass ich vielleicht doch irgendwann einmal laufen könnte. Doch nach vielen Versprechungen waren die Enttäuschungen dementsprechend groß. Eines Tages habe ich nicht mehr daran geglaubt“, erinnert sich Dergin Tokmak.

Keine Grenzen mit Krücken

Heute trägt er links einen Gehapparat und gleicht die asymmetrisch verteilte Stärke in seinem Körper durch eine perfekte Technik aus. Dafür trainiert er hart. Pausen gönnt er sich dabei kaum. So hat er seinen Nachteil beruflich in einen Vorteil verwandelt: „Ich bin ein Unikat und habe meinen eigenen Stil gefunden“, weiß er.

Künstlerisch ist er einzigartig. Lange schon kommt er auf und abseits der Bühne allein bestens zurecht. Sein Motto lautet schließlich: „No Limits With Crutches – Keine Grenzen mit Krücken“. Es steht auf seiner Website und auf seinem T-Shirt. Sein körperliches Handicap nimmt er nicht mehr wahr: „Nach außen hin schaut alles dramatischer aus, als es für mich ist. Ich bin so aufgewachsen. Das ist für mich normal.“

Beginn in der Breakdance-Szene

Der Weg zu dieser durchweg positiven Lebenseinstellung war zuweilen steinig. „Ich war allerdings schon als Kind sehr lebhaft. Das bin ich auch heute noch. Dieser Lebensdrang hat mir dazu verholfen, Künstler zu werden. Ich habe gemerkt, dass ich ein Außenseiter bin, wusste aber, dass ich mich öffentlich präsentieren kann.“

Die Initialzündung kam von seinem älteren Cousin Feyzo. Der brachte eines Tages den Film „Breakin’“ mit. Ein Video, in dem ein behinderter Tänzer auf Krücken herumwirbelt. Für den zwölfjährigen Dergin, der sportlich schon alles ausprobiert hatte von Rollstuhlbasketball bis Bogenschießen, eine Offenbarung. Er wird Teil der Breakdance-Szene, macht auf seinen Krücken Furore. Die Krücken werden sein Markenzeichen, bescheren ihm den Künstlernamen „Stix“.

Auftritt als „hinkender Engel“

In seiner Schule für Menschen mit körperlicher Behinderung wurde er gefördert, wo es nur ging. Das änderte sich, als er im Berufsbildungswerk eine Ausbildung zum Technischen Zeichner machte. Für ihn eine Art Knast. Einmal nahm er sich zwei Wochen Auszeit und ging als Support-Act mit der US-Hip-Hop-Band Run DMC auf Tournee. Zuvor schon hatte Dergin Tokmak mit Freunden die Breakdance-Gruppe DA F.U.N.K. gegründet., eine Multikulti-Hip-Hop-Boyband.

Doch seine Karriere startete erst solo richtig durch mit einem Anruf 2003 vom weltberühmten Cirque du Soleil. Als erster deutscher Künstler war er dort Artist, tanzte sechs Jahre den „hinkenden Engel“ überall auf der Welt.

Teilnahme bei „Das Supertalent“

Zurück in Deutschland, nahm er 2011 an der Fernsehshow „Das Supertalent“ teil. Zum einen, um Menschen mit Behinderung zu inspirieren, zum anderen, um sich hierzulande wieder in Erinnerung zu bringen. Mit Erfolg. Neben vielen Engagements hat der Bayrische Rundfunk die Dokumentation „Der hinkende Engel“ über ihn gedreht. Außerdem erschienen im vergangenen Jahr seine Autobiografie „Stix: Mein Weg zum Tänzer auf Krücken“ (Irisiana Verlag, 19,99 Euro) und bereits 2011 die DVD „The Rising Sun“, ein Film über Straßenkünstler: „Wir haben die Piazza Navona in Rom zu unserem Arbeitsplatz gemacht und von dem gelebt, was wir eingenommen haben“, schwärmt Tokmak heute noch von diesem ungewöhnlichen Trip.

Vorbild für Menschen mit Handicap

Begeistert ist er übrigens auch von Berlin und der „Culti Multi Show“, in die er, wie nicht nur er findet, bestens hineinpasst: „Auch das Thema Inklusion bringt schließlich unterschiedlichste Menschen zusammen.“ Wie immer will er auch anderen Mut machen, die Herausforderungen ihres Handicaps anzunehmen. Denn selbst wenn es ein langsamer Prozess war, ist es Dergin Tokmak letztlich gelungen, ein international gefragter Künstler zu werden.

Er hat seinen Traum wahr gemacht. Eine Erfahrung, die der Künstler weitergeben will: „Natürlich gab es auch viele Schwierigkeiten, mit denen ich kämpfen musste. Doch man muss eben auch mal in den sauren Apfel beißen, um zu wissen, wie süß das Leben ist.“