Kerzengerade steht Lilja auf der Matte im großen Zirkuszelt. Konzentriert schaut sie auf Dennis. Der Trainer schaukelt kopfüber am Trapez. Lilja lässt ihn nicht aus den Augen. Dann nickt sie kurz mit dem Kopf. Dennis schwingt auf sie zu, greift sie am rechten Arm und gleichzeitig am rechten Bein und nimmt sie mit in die Luft. Mindestens drei Meter über dem Boden fliegen die beiden nun durch das Zelt. Liljas Haare wehen hin und her, jeder Muskel ihres Körpers ist angespannt. Wie eine Fledermaus hängt sie an Dennis’ Armen.
Im Zelt ist es mucksmäuschenstill. Dann klatschen die Kinder. Trainerin Julia ist begeistert: „Das machst du super gut“, ruft sie. Über Liljas Gesicht huscht ein Lächeln. Doch sie darf sich jetzt nicht ablenken lassen.
Als das zarte Mädchen mit den blonden Haaren später wieder am Boden ist, nimmt Julia sie in die Arme. „Auf dich können wir uns verlassen“, sagt sie. Lilja strahlt und geht zurück zu ihrer Gruppe. Dann ist Selim an der Reihe.
Regelmäßiges Training
Lilja und Selim besuchen die Herman-Nohl-Grundschule in Nord-Neukölln. Alle Schüler dieser Schule trainieren mindestens einmal im Jahr eine Woche lang im Circus Mondeo. Am Ende jeder Trainingseinheit gibt es eine große Show. Die Kinder zeigen, was sie gelernt haben. Mitschüler, Eltern und Lehrer sind eingeladen.
Dieses Mal ist alles etwas anders. Die Neuköllner Schüler haben sich Gäste eingeladen. Für ihre neue Show trainieren sie zusammen mit Kindern der jüdischen Grundschule Heinz Galinski und der nordirischen Schule Sankt Collumbskill in Carricksmore. Eine Woche lang haben sie sich jeden Tag im Zirkuszelt auf dem Platz an der Gutschmidtstraße getroffen, um gemeinsam das Programm einzustudieren. In zwei Tagen ist Premiere.
Die Schulleiterin der Herman-Nohl-Schule, Ilona Bernsdorf, ist begeistert von der Zusammenarbeit mit den Zirkusleuten. „Für unsere Schüler ist die Arbeit in der Manege von unschätzbarem Wert“, sagt sie. Viele könnten nicht auf einem Bein stehen oder rückwärts gehen, wenn sie in die Schule kommen. Im Zirkus würden sie das lernen und sogar noch viel mehr. „Plötzlich reiten die Kinder auf dem Kamel, turnen am Trapez oder hüpfen als Clown durch die Manege“, sagt Ilona Bernsdorf. Andere würden als Jongleure, Dompteure oder Fakire das Publikum verblüffen. „Oft wachsen die Kinder bei diesen Vorstellungen über sich hinaus, Lehrern und Eltern bleibt nicht selten vor Staunen der Mund offen stehen.“ Die Schulleiterin lacht. Sie ist stolz auf ihre Schüler. Doch am schönsten sei für alle die Erfahrung, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen.
Verantwortung und Vertrauen einüben
„Die Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen, sie erleben, wie wichtig es ist, sich aufeinander verlassen zu können“, sagt Ilona Bernsdorf. Würden dann auch noch Schüler mit unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Religionen miteinander trainieren wie gerade jetzt, sei es genau das, was die Lehrer sich wünschen. „Wir sprechen immer von Inklusion, dieses gemeinsame Training ist nichts anderes.“ Ilona Bernsdorf ist sicher, dass es kaum eine bessere Möglichkeit für die Kinder gibt, sich kennen zu lernen und Vorurteile, die sie oft von zu Hause mitbringen, zu überwinden. Und sie hat ein Bild dafür: „Wenn muslimische, jüdische und katholische Kinder zusammen eine Pyramide stellen, dann geht das nur, wenn jeder sich auf den anderen verlassen kann. Das setzt Anerkennung und Vertrauen voraus.“
Die Herman-Nohl-Schule war die erste Neuköllner Schule, die mit dem Circus Mondeo zusammengearbeitet hat. Inzwischen sind alle 39 Grundschulen des Bezirks in das Projekt involviert. Auch viele Oberschulen machen mit. Die Idee für das Zirkusprojekt hatte kein anderer als Neuköllns umtriebiger Bürgermeister Heinz Buschkowsky. 2006 hatte er zunächst eine einmalige Zirkusprojektwoche für sozial benachteiligte Kinder organisiert. Damals hatte er den Familienzirkus Mondeo für das Vorhaben gewinnen können.
30.000 haben bereits mitgemacht
Die Woche war ein großer Erfolg. Die Bezirkspolitiker entschieden daraufhin, das Projekt fortzuführen, um möglichst viele Schulen daran teilhaben zu lassen. Inzwischen haben mehr als 30.000 Grundschulkinder in der Manege des Circus Mondeo gestanden. Einige von ihnen waren außerdem zusammen mit den Zirkusleuten in Seniorenheimen und im Kinderhospiz Sonnenhof, um dort ihre Künste vorzuführen.
Lilja ist immer mit dabei. Und sie will weiter machen, auch wenn sie nach den Sommerferien an die Oberschule wechselt. Die Sache mit dem Zirkus ist für sie längst mehr als nur ein Projekt. „Vor jeder Aufführung habe ich zwar ein kleines mulmiges Gefühl“, sagt sie, doch das gehe schnell vorbei. „Ich weiß ja, dass ich mich auf die anderen verlassen kann.“ Lilja hat inzwischen viele Freunde beim Zirkus, deshalb ist sie froh, dass Zirkusdirektor Gerhard Richter ihr angeboten hat, auch im kommenden Jahr mitmachen zu dürfen. Später will sie Artistin werden oder Schauspielerin.
Liljas Mutter Friederike Teuber ist bei vielen Zirkusaufführungen der Herman-Nohl-Schule dabei gewesen. „Der Zirkusdirektor ist ein guter Pädagoge, er versteht es, alle Kinder einzubinden“, sagt sie. Ihre Tochter besucht den Europaschulzweig der Schule. Auch für diese Kinder, die keine Schwierigkeiten mit dem Lernen haben, sei das Training im Zirkus ein Gewinn. Der Zusammenhalt innerhalb der Klasse sei dadurch noch stärker geworden.
Unvergessliche Eindrücke
Im Zirkuszelt ist es nun wieder ganz still. Fergal ist in die Manege gekommen, er führt Goa an der Longe, ein großes schwarzes Pferd. Fergal ist elf Jahre alt, ein zierlicher Junge. Er gehört zur Gruppe der irischen Schüler, die für eine Woche nach Berlin gereist sind, um mit den Kindern aus Neukölln und denen der Heinz-Galinski-Schule Zirkus zu machen.
Fergal wirkt angespannt und auch ein wenig ängstlich, als er mit dem großen Pferd in der Manege seinen Runden dreht. Zum Glück ist Marcus da. Er ist Dompteur und bleibt in Fergals Nähe. Leise gibt er ihm Anweisungen. „Jetzt musst du die Peitsche hoch nehmen“, flüstert er. Die Kinder im Zelt halten den Atem an. Fergal traut sich und reißt die Peitsche in die Luft. Goa geht auf die Hinterbeine. Wie ein Riese steht das Pferd nun vor dem kleinen Jungen. Die Kinder klatschen begeistert. Fergal wirkt ein ganzes Stück größer, als er mit Goa die Manege wieder verlässt.
Sein Schulleiter Peter Cush ist außer sich vor Freude. „Das wird der Junge in seinem ganzen Leben nicht vergessen“, ruft er. Eigentlich sollte Kimberly von der Herman-Nohl-Schule die Pferdenummer machen. Sie kann sehr gut mit Tieren umgehen. Doch dann haben sich die Lehrer für Fergal entschieden. Er ist das Kind, dass gerade besonders nötig Erfolg und Aufmerksamkeit braucht. Schulleiter Cush erzählt, dass Fergal zwar ein sehr guter Schüler ist, aber auch sehr ruhig und zurückhaltend und eher schüchtern. Viele hätten ihm deshalb nicht zugetraut, dass er mit Goa klar kommt. Jetzt habe er das Gegenteil beweisen können. „Das ist so wichtig für sein Selbstvertrauen.“
Interkulturelle Zusammenarbeit
Der Kontakt zwischen Nord-Irland und Nord-Neukölln ist über ein Comenius-Projekt zustande gekommen. Die Schüler haben gemeinsam zum Thema Umweltschutz und erneuerbare Energien gearbeitet und sich gegenseitig besucht. In Neukölln haben sie sich aus diesem Anlass überlegt, womit sie die Gäste überraschen könnten. „Schnell kamen wir auf die Idee, dass uns die irischen Kinder am besten kennen lernen, wenn wir sie zu einer Zirkusaufführung einladen“, sagt Schulleiterin Ilona Bernsdorf. Die Gäste waren begeistert und kurz darauf die Idee von einer gemeinsamen Zirkusaufführung geboren. Auch die Leitung des Circus Mondeo war schnell überzeugt.
Zirkusdirektor Gerhard Richter kann viele Geschichten erzählen, die der von Fergal gleichen. „Wir hatten hier mal einen Jungen mit Sprachstörungen“, sagt er. „Der wollte unbedingt Clown sein.“ Die Lehrer hätten ihm das zwar nicht zugetraut, er aber habe dem Jungen seinen Wunsch nicht abschlagen können. „Wir haben eine Woche lang hart gearbeitet. Am Ende hat der Junge eine richtig gute Clownsnummer hingelegt und fast fließend gesprochen.“ Gerhard Richter lacht aus tiefstem Herzen. Genau das ist es, was ihm an der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern am meisten Spaß macht: mit ihnen über Grenzen hinaus zu gehen. Ihnen zu zeigen, was in ihnen steckt.
„Ich weiß noch genau, wie verblüfft die Lehrer waren, als sie sahen, was für ein toller Clown der Junge war“, erinnert er sich. „Die haben nicht geglaubt, dass er so fließend sprechen kann, noch dazu vor so vielen Leuten.“ Allein dieses Beispiel zeige, wie sinnvoll die Arbeit mit den Kindern ist, sagt Richter. Er und seine Leute kennen inzwischen alle Neuköllner Grundschulen und auch etliche Oberschulen. Über die Jahre hat sich ein vertrautes Verhältnis zwischen Künstlern, Schülern und Lehrern entwickelt.
Ein Stück Geborgenheit
„Die Kinder gehören zum Zirkus, sie fühlen sich bei uns wohl“, sagt Richter, der sich selbst als Familienmenschen bezeichnet. Die herzliche Atmosphäre, die in seinem Unternehmen herrscht, zu dem neben seiner Frau Judith seine vier Kinder und zwei Schwiegertöchter gehören, ist für den Chef eine Selbstverständlichkeit. Nicht aber für alle Kinder. „Viele haben es schwer im Leben, weil es Probleme im Elternhaus gibt.“ Richter kann es oft kaum ertragen, wenn er mitbekommt, dass es den Kindern schlecht geht. Er und seine Leute setzen deshalb alles daran, ihnen im Zirkus ein Stück Geborgenheit zu geben.
Auch Verlässlichkeit ist wichtig. Das Zelt vom Circus Mondeo steht bereits seit sieben Jahren auf dem Platz an der Gutschmidtstraße, genauso lange, wie die Zirkuskünstler mit den Schülern arbeiten. „Wenn der Frühling kommt, juckt es uns zwar jedes Mal in den Fingern. Wir würden dann am liebsten alles zusammenpacken und auf Wanderschaft gehen“, sagt Richter. Das stecke so drin in den Zirkusleuten. Doch Mondeo bleibt. „Die Kinder halten uns an diesem Ort“, sagt der Chef. Nur in den großen Ferien genehmigen er und seine Familie sich zwei Monate Zeit zum Umherreisen. Seit Jahren stehen dann Gastspiele in Zehlendorf und Thüringen auf dem Programm. Zeit, um den Akku aufzuladen, wie Richter das nennt.
Schließlich gibt es noch etwas, was der Zirkusdirektor los werden will. „Unsere Schulvorführungen bauen Vorurteile ab“, sagt er. Viele Leute würden denken, dass die Neuköllner Kinder Rabauken sind. „Die sind dann ganz erstaunt, wenn sie sehen, was die Kinder alles können und wie höflich sie sich im Zirkus benehmen.“ Sogar in seiner Familie habe es anfangs Vorurteile gegeben, sagt Richter. „Wir haben uns schon gefragt, ob das gut gehen wird, wenn muslimische und jüdische Kinder zusammen trainieren.“ Schnell habe sich dann herausgestellt, dass die Herkunft keine Rolle spielt. „Es ist egal, woher die Kinder kommen, welche Fähigkeiten sie haben und welche Religion. Es geht nur darum, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Und genau das macht allen Spaß.“
Ganz anders als Unterricht
Gerhard Richter hört sich an wie ein Pädagogikprofessor, wenn er so etwas sagt. Dabei ist alles viel einfacher: Die Erfahrungen der vergangenen sieben Jahre haben den Zirkus-Chef zum Experten in Sachen Erziehung gemacht. Er weiß genau, wo er die Kinder packen kann und wie er sie bei der Stange hält. „Wir kommen an jeden ran, das ist anders als im Unterricht, weil es bei uns so viele verschiedene Möglichkeiten gibt, etwas zu tun“, sagt Richter. Von den 30.000 Schülern, mit denen der Zirkus gearbeitet habe, habe er nur fünf in dieser Zeit nach Hause schicken müssen. „Pünktlichkeit und Disziplin gehören zu unseren Regeln, und die Kinder nehmen das an.“
Wenn gar nichts mehr geht, schickt der Zirkusdirektor die Schüler zu den Tieren. Beim Putzen und Striegeln beruhigen sie sich. Und es freut sie ungemein, dass der Esel zu schreien beginnt, sobald er sie sieht. Sie denken dann, er würde sie wiedererkennen. „Dabei hat das Tier nur Hunger und schreit in Erwartung des nahenden Futters.“ Wieder lacht Richter laut. Es ist ein warmes Lachen. Ein Lachen, das aufmuntert.
Der Zirkusdirektor ist stolz auf die Anerkennung, die er und seine Leute von den Schulen, aber auch von der Gesellschaft erhalten. „Pötzlich sind wir nicht mehr nur irgendwelches fahrendes Volk, unsere Arbeit wird gewürdigt“, sagt er. Vor zwei Jahren sei sogar die damalige Königin der Niederlande, Beatrix, bei ihm zu Gast gewesen, samt Sohn und Schwiegertochter. Sie habe ihm später geschrieben, dass der Vormittag im Zirkus das Schönste am Staatsbesuch gewesen sei.
Eine besondere Freundschaft
Mit der Hermann-Nohl-Schule verbindet die Leute vom Circus Mondeo eine ganz besondere Freundschaft, nicht nur, weil sie die erste Schule war, mit der sie zusammengearbeitet haben. Richter erzählt von großem Vertrauen, das man einander entgegen bringt. Bei Auftritten für gemeinnützige Zwecke sei die Schule sofort dabei, Lehrer wie Schüler. „Die Herman-Nohl-Schule und wir, das ist eine runde Sache.“ Wieder strahlt der Zirkusdirektor. „Ich sage immer, das sind alles meine Kinder“ fügt er hinzu.
Auch die Neuköllner Schule am Sandsteinweg arbeitet sehr eng mit dem Circus Mondeo zusammen. Schulleiterin Petra Balzer sagt, dass sie kürzlich sogar eine Kooperation mit dem Zirkus abgeschlossen haben. „Einmal in der Woche leihen wir uns einen Trainer aus, der mit unseren Schülern arbeitet.“ Ihre Schule habe einen eigenen kleinen Zirkus, sagt Petra Balzer. Auf dem Schulgelände würden außerdem viele Tiere leben, die von den Kindern betreut werden und bei den Zirkusaufführungen mit dabei sind.
Leistungsbereiter und konzentrierter
„Wir haben schon vor Jahren entdeckt, welche positive Wirkung das Training in der Manege auf die Schüler hat“, sagt Petra Balzer. „Das spiegelt sich unmittelbar im Unterricht wider.“ Die Schüler hätten über die Jahre ein starkes Wir-Gefühl entwickelt, seien leistungsbereiter, würden konzentrierter arbeiten können.
Finanziert wird der Schulzirkus durch Aufführungen, zu denen die Schüler nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Menschen aus dem Kiez einladen. Jedes Jahr im Sommer gibt es zum Beispiel ein großes Gauklerfest. Aber auch zum Schulanfang und zu Weihnachten wird gefeiert.
Im großen Zelt des Circus Mondeo auf dem Gutschmidtplatz bereiten sich die Kinder aus Neukölln, Charlottenburg und Carricksmore inzwischen auf einen letzten Durchlauf vor. Schulleiterin Ilona Bernsdorf steht am Rand der Manege und drückt die Daumen für die Generalprobe. Nach jeder Darbietung klatscht sie laut. Auch die Trainer loben die Kinder, wo sie nur können.
Lilja und Selim machen ihre Sache am Trapez mehr als gut. Die Fakire ernten ebenfalls viel Beifall. Wer kann schon barfuß über Glasscherben gehen, ohne sich zu verletzen? Mauricio kann das. Er legt sich sogar mit dem nackten Rücken in die Scherben. Dann stellt sich Selim auf seinen Bauch. Tosender Beifall. Zwei Kamele liegen gemütlich daneben und schauen voller Gelassenheit den Darbietungen zu. Als danach die Schleiertänzerinnen auftreten, fühlen sich die Zuschauer im Zelt endgültig verzaubert.
Gelingt es, auch nur ein Stück dieser magischen Zirkuswelt in den ganz normalen Alltag mitzunehmen, ist für alle viel gewonnen. So viel steht fest.