„Operation Vittles“

Wie die Alliierten vor 65 Jahren die Luftbrücke organisierten

| Lesedauer: 7 Minuten
Sven Felix Kellerhoff

Als die Sowjetunion am 24. Juni 1948 den Güterverkehr nach Berlin lahmlegte, mussten die Alliierten schnell handeln: Die Luftbrücke kostete viele Leben, aber schenkte den West-Berlinern die Freiheit.

Eine Großstadt mit mehr als zwei Millionen Menschen ausschließlich aus der Luft versorgen, und das über Monate hinweg: So etwas kann überhaupt nicht gelingen. Sagt jedenfalls die nüchterne Rationalität. Es sei denn, man überträgt diese Aufgabe amerikanischen und britischen Piloten, die das ganze Vorhaben als Wettbewerb betrachten. Dann klappt es. Natürlich war die Berliner Luftbrücke, die vor 65 Jahren begann, in Wirklichkeit eine todernste Sache und keineswegs so lustig, wie manche Veteranen sie im Nachhinein augenzwinkernd beschrieben haben. Es handelte sich um die bis heute größte logistische Operation der Weltgeschichte, einen einzigartigen Einsatz für ein Land, das wenige Jahre zuvor noch ein Gegner im Krieg gewesen war.

Doch im Frühsommer 1948 tobte längst ein neuer Konflikt, der Kalte Krieg. Stalin wollte seine Macht ausbauen und die vormaligen Verbündeten zunächst aus deren Sektoren in Berlin, im Anschluss möglichst aus ganz Deutschland vertreiben. Doch der Tyrann hatte nicht damit gerechnet, dass Amerikaner und Briten daraus eine Frage der Ehre machen würden.

In fast 280.000 Flügen bis Mai 1949 brachten vorwiegend Piloten der US- und der Royal Air Force mehr als zwei Millionen Tonnen Fracht in die Stadt. Der größte Teil davon, knapp 1,5 Millionen Tonnen, war Kohle, damit die vom Umland abgeschnittene Teilstadt West-Berlin mit Strom versorgt werden konnte. Eine runde halbe Million Tonnen Lebensmittel wurde eingeflogen – das klingt viel, entsprach aber angesichts der Zahl der so versorgten Menschen und der Dauer von fast elf Monaten gerade einmal wenigen Hundert Gramm Ware pro Kopf und Tag.

Mitteilung schlug ein wie eine Bombe

Vor genau 60 Jahren eskalierte die seit 1945 schwelende Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den drei westlichen Staaten in Berlin. Am Abend zuvor, dem 23. Juni 1948, hatte der von der SED kontrollierte „Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst“ eine scheinbare Nebensächlichkeit gemeldet: „Die Transportabteilung der sowjetischen Militärverwaltung sah sich gezwungen, aufgrund technischer Schwierigkeiten den Verkehr aller Güter- und Personenzüge von und nach Berlin morgen früh, sechs Uhr, einzustellen.“

Bei den amerikanischen, britischen und französischen Truppen in Berlin schlug die knappe Mitteilung ein wie eine Bombe. Denn sie waren vollständig abhängig von der Versorgung aus Westdeutschland. Noch wusste aber niemand, wie konsequent die UdSSR die Transportblockade durchsetzen würde.

Am folgenden Morgen, Donnerstag, dem 24.Juni 1948, kam die Antwort — und sie fiel sehr deutlich aus: Ostdeutsche Pioniere blockierten die Gleise und Straßen zwischen den westlichen Besatzungszonen der Stadt und dem sowjetischen Sektor. Am Übergang zwischen Babelsberg und Dreilinden senkten sich die Schlagbäume. Auch an der innerdeutschen Zonengrenze ging fortan nichts mehr. Die Stromversorgung war schon gekappt.

West-Berliner sollten Güter aus dem sowjetischen Sektor beziehen

Mit der Blockade verfolgte Moskau zwei Ziele: Einerseits sollten die Westmächte gezwungen werden, ihre eher symbolischen Garnisonen aus Berlin abzuziehen. Damit wäre die Stadt vollständig unter die Kontrolle der Kommunisten gekommen und die vereinbarte Nachkriegsordnung fundamental verändert worden. Das wäre, so Stalins Kalkül, ein Triumph im Kalten Krieg gewesen. Doch es war zumindest theoretisch nicht ausgeschlossen, dass die Briten und Amerikaner genügend Güter für ihre wenigen Tausend Soldaten einfliegen lassen würden. Deshalb sollten zweitens die von der Versorgung aus den westlichen Besatzungszonen Deutschlands abgeschnittenen Einwohner West-Berlins dazu gebracht werden, ihren täglichen Bedarf offiziell und mit Anmeldung im sowjetischen Sektor Berlin zu decken. So sollte bewiesen werden, dass die Westmächte an der Versorgung der West-Berliner kein Interesse hätten.

Doch Stalin hatte drei Punkte nicht einkalkuliert: die Abneigung fast aller West-Berliner gegen die sowjetischen Marionetten in der SED, den Charakter von US-Oberbefehlshaber Lucius D. Clay – und die Kreativität der britischen Luftwaffe, speziell von Group Captain Reginald „Rex“ Waite.

Mehrzahl der Berliner war gegen eine kommunistische Regierung

Dabei hätte es der sowjetische Diktator eigentlich wissen können: Bei der letzten Gesamtberliner Wahl war am 20. Oktober 1946 die SED auf nur 19,8 Prozent der Stimmen gekommen, die SPD dagegen hatte 48,7 Prozent und die CDU immerhin 22,2 Prozent der Wähler überzeugt. Mehr als vier Fünftel der Wähler in Berlin wollten keine kommunistische Regierung.

Auch über die Entschlossenheit von Clay war Stalin informiert. Mehrfach hatten seine Statthalter in Deutschland, zuerst Georgi Schukow und dann Wassili Sokolowski, gegen die eiserne Standhaftigkeit des US-Generals den Kürzeren gezogen. Als einmal bewaffnete Rotarmisten Eisenbahnschienen im amerikanischen Sektor abmontieren wollten, schickte Clay Panzerwagen. Gegen die ständigen Verstöße der Sowjets in ihrem Sektor konnte der US-Militärgouverneur nichts ausrichten – im amerikanischen Sektor jedoch sorgte er für Ordnung.

Schließlich hatte der Moskauer Machthaber mehrfach während des Zweiten Weltkrieges die Royal Air Force für ihren Kampf gegen Hitler-Deutschland 1940/41 gelobt. Im Frühjahr 1948, als seine Berater die Blockade West-Berlins vorbereiteten, war diese enorme Leistung aber wohl vergessen.

Versorgung aus der Luft

Doch am unkonventionellen Denken, das Waite wie andere hohe Offiziere der RAF auszeichnete, hatte sich nichts geändert. Nach einer kurzen „Probe-Blockade“ durch die Sowjets Ende März 1948 hatte Waite berechnet, wie groß der Mindestbedarf von mehr als zwei Millionen Zivilisten und den wenigen Tausend alliierten Soldaten sein würde. Danach war es zwar schwierig, aber nicht unmöglich, die Versorgung aus der Luft zu gewährleisten. Nun, am 24. Juni 1948, schlug Waite vor, West-Berlin vollständig aus der Luft zu versorgen. Clay, der bei seinen Vorgesetzten zunächst angeregt hatte, die Blockade mit einem Konvoi zu durchbrechen, griff den Vorschlag des Briten auf. Binnen weniger Stunden organisierten alliierte Offiziere mehr als 100 ältere Transportflugzeuge; bald kamen 50 der modernsten Maschinen vom Typ Skymaster hinzu. Die Berliner Luftbrücke begann.

Die „Operation Vittles“, so der Codename, verschlang Hunderte Millionen Dollar und kostete mehr als 80 Menschen bei Abstürzen oder anderen Flugunfällen das Leben. Doch sie sicherte den Menschen in den westlichen Sektoren Berlins die Freiheit. Letztlich verhinderte die Standhaftigkeit der Amerikaner, Briten und der West-Berliner vermutlich sogar einen neuen Weltkrieg. Denn für Stalin wurde die Blockade zu einer schweren Niederlage. Sie schreckte ihn von ähnlichen Aggressionen gegen West-Berlin ab. Fortan beschränkte sein Regime sich, schlimm genug für die betroffenen Menschen, auf Druck gegen die Bevölkerung der Sowjetischen Besatzungszone.