Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hat ein Buch über Integration geschrieben. Ob er es als Anti-Sarrazin-Werk versteht, ob es das Buch eines Gutmenschen ist und welche Konsequenzen Migranten drohen sollten, die integrationsunwillig sind, darüber sprach er mit Morgenpost Online.

Morgenpost Online: Sie legen mit „Mut zur Integration“ nun ein Buch zur Integrationsdebatte vor. Ist das Ihr Anti-Sarrazin-Werk?

Klaus Wowereit: Nein. Es ist das Ergebnis einer zweijährigen Arbeit in der Zukunftswerkstatt Integration beim Bundesvorstand der SPD. Dass es dieses Buch geben würde, war schon beschlossen, bevor Sarrazin mit seinen Integrationsthesen auf der Bildfläche erschien. Es ist der Versuch einer Inhaltsbestimmung, wie man vernünftig mit dem Thema umgehen und wie man Mut zur Integration zeigen kann.

Morgenpost Online: Aber Sie greifen doch Sarrazin und seine Thesen als „menschenverachtend“ direkt an.

Wowereit: Es war natürlich notwendig, deutlich zu machen, dass Sarrazins Thesen nicht die Thesen der SPD sind. Ich habe das nicht jetzt erst in dem Buch getan, sondern von Anfang an. Sarrazins Thesen haben mit SPD-Politik nichts mehr zu tun. Und das kann man in einem solchen Buch nicht aussparen.

Morgenpost Online: Sie schreiben, dass man Integration als Chance begreifen muss, gleichzeitig soll man die Ängste ernst nehmen. Aber wie Sie das machen wollen und welche Konsequenzen Migranten drohen, die integrationsunwillig sind, sagen Sie nicht.

Wowereit: Auch bei Zuwanderern gibt es Verhaltensweisen, die nicht akzeptiert werden können. Wir können Zwangsheirat, Religionsmissbrauch und homophobe Einstellungen in Deutschland nicht dulden. Da müssen wir klare Kante zeigen, da gibt es nichts zu verharmlosen. Aber wir dürfen uns nicht durch Einzelfälle entmutigen lassen und diese zum Maßstab nehmen. Integration ist millionenfach gelungen. Das erlebt ja auch jeder in seinem Umfeld. Darauf können wir stolz sein – ebenso wie die Menschen, die es geschafft haben. Und darauf kann auch die Gesellschaft stolz sein, die diese Integration möglich gemacht hat. Das alles gehört zusammen.

Morgenpost Online: Es geht aber doch auch um Migranten, die keinen Schulabschluss haben und die außerhalb der Gesellschaft leben. Ihr Parteifreund, der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky, ist da deutlicher und fordert beispielsweise den Stopp der Kindergeldzahlungen, wenn die Eltern nicht dafür sorgen, dass ihre Kinder zur Schule gehen. Solche Sanktionen finden sich bei Ihnen nicht.

Wowereit: Wir haben Sanktionsmöglichkeiten – auch für Schulverweigerer –, und die sind ausreichend. Mir geht es in dieser Debatte nicht zuerst um Sanktionen, sondern um Hilfe. Wir reden hier nicht selten über Fälle, in denen das Familienleben aus der Bahn geraten ist. Da brauchen wir Familienhelfer und Stadtteilmütter, die Vertrauen aufbauen und sich den Problemen der Familie widmen. Einfache Sanktionen werden in vielen Fällen nicht helfen.

Morgenpost Online: Ist Ihr Werk nicht ein wenig naiv, das Buch eines Gutmenschen?

Wowereit: Gutmensch zu sein ist doch nichts Schlechtes. Mir geht es um eine andere Haltung zu den gesellschaftlichen Fragen. Wir sind eine multikulturelle Gesellschaft. Dies zu leugnen ist fatal. Und ich sage: Integration in Deutschland ist kein Thema, das sich auf Migrantinnen und Migranten beschränkt. Sondern im Gegenteil: Integration ist ein Teilhabeproblem, das häufig abhängt vom sozialen Status, von den Einkommensverhältnissen. Integrationsprobleme hat die Rentnerin, die in Armut lebt genauso wie die alleinerziehende Mutter deutscher Herkunft mit vier Kindern, die mit der sozialen Situation nicht zurechtkommt. Für mich ist Integration also ein umfassender Begriff.

Morgenpost Online: Sie stellen Berlin als Vorbild für eine gelungene Integration dar, also auch Ihre Leistung als Regierender Bürgermeister in den vergangenen zehn Jahren. Wollen Sie sich mit dem Buch als Kanzlerkandidat bewerben?

Wowereit: Ich habe in meinem Buch zur Integrationspolitik natürlich die Berliner Erfahrungen mit einfließen lassen, was nicht heißt, dass nicht auch in anderen Teilen der Republik Integration erfolgreich praktiziert wird. Nein, das ist keine Bewerbung für irgendetwas. Das ist eine Lernschrift, Integration in einem Gesamtzusammenhang zu sehen.

Morgenpost Online: Sie sagen aber auch, dass in der Integrationspolitik auf Bundesebene zwischen Ihrer Partei und der CDU Welten liegen. Nun wollen Sie in Berlin mit der CDU eine Koalition bilden. Wie passt das zusammen?

Wowereit: Wir werden ja sehen, ob sich auch in dieser Koalition richtige Entscheidungen zur Integration treffen lassen. Es gibt natürlich Gegensätze, die werden sich nicht aufheben lassen – wie beispielsweise Bundesentscheidungen zum Thema Staatsbürgerschaftsrecht oder Adoptionsrecht. Da wird noch viel zu diskutieren sein – wobei auch CDU und CSU besser nicht länger leugnen sollten, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.

Morgenpost Online: Damit sind wir bei der Regierungsbildung in Berlin. Sie verhandeln jetzt mit der CDU über eine Koalition. Sie und der CDU-Chef Frank Henkel wirken so entspannt und gut gelaunt. Liegt Ihnen Frank Henkel besser als Volker Ratzmann, der Grünen-Fraktionschef?

Wowereit: Ich hatte nicht den Eindruck, dass das menschliche Verhältnis zu den Grünen gespannt war. Persönlich habe ich ein sehr entspanntes Verhältnis zu Volker Ratzmann und den übrigen Mitgliedern der Grünen-Verhandlungsgruppe. Die Spannung ergab sich dadurch, dass wir Kompromisse, die in sehr langen Sitzungen gefunden worden waren, nicht tragfähig gestalten konnten. Die Kompromisse haben ja kaum länger gehalten als die Sitzungen gedauert haben.

Morgenpost Online: Die Grünen werfen Ihnen vor, wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse immer schon auf Rot-Schwarz statt auf Rot-Grün gesetzt zu haben. Richtig?

Wowereit: Nein. Es war der Wille der SPD, mit den Grünen eine Koalition einzugehen. Das setzt aber voraus – gerade bei knappen Mehrheitsverhältnissen –, dass man sich inhaltlich über die wesentlichen Punkte verständigt und nicht nur Formelkompromisse findet, die nicht einmal die Koalitionsgespräche überstehen. Deshalb waren ja auch die langen Sondierungsgespräche notwendig. Wir wären trotz der knappen Mehrheit dieses Risiko mit den Grünen eingegangen. Aber mit ihnen war es leider nicht möglich, Vereinbarungen zu wichtigen Projekten wie der A100 zu treffen. Auch bei anderen Infrastrukturprojekten hätte es mit ihnen Probleme gegeben.

Morgenpost Online: Renate Künast hat nach den gescheiterten Koalitionsgesprächen gesagt, die Grünen werden das der SPD nie vergessen. Haben Sie das Verhältnis zwischen SPD und Grünen auf Bundesebene nachhaltig belastet?

Wowereit: Renate Künast steht noch unter dem traumatischen Eindruck ihres misslungenen Wahlkampfes. Da ist sicherlich viel Enttäuschung dabei. So erkläre ich mir ihre Äußerung. Ihre Parteifreunde haben ja auch schon erklärt, dass sei ihre Einzelmeinung, nicht aber die Position der Grünen gewesen. Selbstverständlich gilt für die SPD, dass Bündnisse mit den Grünen auf Landes- und Bundesebene möglich sind. Im Bund ist Rot-Grün auch weiter die bessere Alternative zur schwarz-gelben Regierung. Wir haben in Berlin eine landespolitische Entscheidung getroffen, die keine Rückschlüsse auf den Bund und die Länder zulässt.

Morgenpost Online: Aber Ihr Verhältnis zu den Grünen und zu Renate Künast ist doch erheblich gestört. Gesetzt den Fall, es reicht für Rot-Grün, könnten Sie sich überhaupt noch vorstellen, mit ihr je wieder an einem Verhandlungstisch zu sitzen?

Wowereit: Das kann ich mir vorstellen, aber ich sehe jetzt keine Verhandlungen.

Morgenpost Online: Sie haben den Weiterbau der Stadtautobahn A100 angesprochen. Mit der CDU ist das nun möglich. Ab wann wird gebaut?

Wowereit: Das Planfeststellungsverfahren für die A100 ist abgeschlossen, es wird jetzt gerichtlich überprüft. Mit der Entscheidung wird im Frühjahr 2012 gerechnet. Sollten die Finanzmittel dann bereitstehen, kann mit dem Bau begonnen werden.

Morgenpost Online: 28 Prozent hat die SPD bei der Abgeordnetenhauswahl geholt, die CDU kam auf 23 Prozent. Macht das vier Senatsposten plus Regierenden Bürgermeister für die SPD und vier Senatoren für die CDU?

Wowereit: Die Frage der Ressortaufteilung und die Anzahl der Senatoren werden am Ende der Koalitionsverhandlungen geklärt. Aber es ist selbstverständlich klar, dass sich das Kräfteverhältnis in den Ressorts widerspiegeln muss. Das wissen beide Verhandlungspartner.

Morgenpost Online: Nicht nur in der Integrationspolitik, auch in der Schulpolitik gibt es Unterschiede zwischen SPD und CDU. Die Union will die privaten Schulen fördern, und das jahrgangsübergreifende Lernen, also das gemeinsame Unterrichten von Erst- und Zweitklässlern, soll ein freiwilliges Angebot werden. Die SPD setzt auf längeres gemeinsames Lernen, will staatliche Schulen und die Sekundarschulen. Ist das für Sie verhandelbar?

Wowereit: Also erstens: Die SPD ist nicht gegen Privatschulen. Unter SPD-Bildungssenatoren sind Privatschulen fair behandelt und gefördert worden. Ihr Anteil ist in Berlin in den letzten Jahren auch gestiegen. Aber wir als SPD stehen für ein leistungsfähiges öffentliches Schulsystem. Die Reformen, die wir durchgeführt haben, wie die Abschaffung der Hauptschule, sind akzeptiert in Berlin. Es ist richtig, dass den Schulen jetzt Zeit gegeben werden muss, die Reformen umzusetzen. Insofern werden die nächsten fünf Jahre sicherlich dadurch geprägt sein, wie sich die Schulen auf der Basis der erreichten Reformen weiterentwickeln. Ich erwarte, dass wir uns mit der CDU auch in der Bildungspolitik verständigen werden.

Morgenpost Online: Ist Bildung für Sie so wichtig, dass Sie das Ressort für die SPD beanspruchen?

Wowereit: Wenn es nur nach mir ginge, würde die SPD alle Ressorts verantworten. (lacht) Wie gesagt: Wir werden am Ende der Verhandlungen sehen, zu welcher Ressortverteilung es kommt.

Morgenpost Online: Bedauern Sie eigentlich, dass Sie Ihre drei Senatorinnen und Senatoren von der Linkspartei verlieren?

Wowereit: Der Wechsel gehört zur Politik dazu. Für SPD und Linke gab es keine Mehrheit mehr. Aber ich habe mit den dreien gut zusammengearbeitet, und zum Teil sind sie einem mit der Zeit ja fast schon ans Herz gewachsen.

Morgenpost Online: Wer denn?

Wowereit: (lacht) Das verrate ich Ihnen nicht. Ich hoffe, dass wir in unseren neuen Rollen – wir als Regierungspartei, die Linke als Opposition – weiter fair miteinander umgehen und auf der persönlichen Ebene verbunden bleiben.