Bewohner des eigentlich als tolerant bekannten Multi-Kulti-Kiez' haben kürzlich Thilo Sarrazin vertrieben. Aber nicht nur ihn: Auch Hamburger und Touristen sind in Berlin-Kreuzberg nicht gern gesehen. Henryk M. Broder sucht nach den Ursachen.

Vor einem Jahr ist der Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin erschienen. Darin stellt der ehemalige Berliner Finanzsenator und Ex-Bundesbanker die provokante und umstrittene These auf, Muslime würden sich in Deutschland kaum integrieren. Jetzt, Mitte Juli, kam es wieder zum Eklat, als der SPD-Politiker mit einem Fernsehteam der ZDF-Sendung „Aspekte“ Kreuzberg besuchte. „Hau ab“ riefen Passanten, Sarrazin wurde niedergebrüllt und aus Kreuzberg vertrieben. Am Freitagabend berichtete „Aspekte“ über den Fall, Autor Henryk M. Broder analysiert die Ursachen und Folgen.

„Es ist still geworden um die sogenannten „national befreiten Zonen im Osten der Bundesrepublik, von deren Betreten man Menschen mit dunkler Hautfarbe, Rastalocken oder einfach einem „undeutschen“ Aussehen abraten musste, wenn sie ihren Leichtsinn nicht mit einem Besuch in der Notaufnahme des Krankenhauses bezahlen wollten. Dafür kann es nur zwei Erklärungen geben: Entweder wurden die „national befreiten Zonen“ inzwischen aufgelöst und in den Geltungsbereich der allgemeinen Gesetze der Bundesrepublik reintegriert, oder man hat sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, dass nicht jeder Mann und jede Frau zu jeder Zeit über jeden Marktplatz in Mecklenburg-Vorpommern flanieren kann.

Utopia alternativer Subkultur

In jedem Fall scheint das Beispiel inzwischen auch im Westen Schule zu machen. Nicht in der tiefsten Provinz, irgendwo zwischen Sötenich und Würselen in der Eifel oder Malsburg und Marzell im hinteren Kandertal, sondern mitten in Berlin, im multikulturell aufgekratzten Kreuzberg, dem Utopia der alternativen Subkultur, die sich von der Gesellschaft abgespalten hat, um ein selbstbestimmtes, von ökonomischen Zwängen befreites Leben zu führen.

Nicht wenige haben verhalten solidarisch geschmunzelt, als sich in Kreuzberg, angeführt von Hans-Christian Ströbele, eine breite Front gegen die Eröffnung eines McDonald's-Restaurants formierte. Der Bundestagsabgeordnete schaffte es tatsächlich zu erklären, warum eine tagelang im eigenen Fett schmorende Berliner Currywurst artgerechter und bekömmlicher wäre als ein unter strengen Auflagen zubereiteter Hamburger. Weniger amüsant war der Auftritt einer Kreuzberger Bürgerinitiative gegen den Ansturm der Besucher („Hilfe, die Touris kommen!“), denn die Gäste bringen nicht nur Unruhe in das Viertel, sondern auch viele Millionen in die Berliner Kassen.

Ein paar Wochen später ist Kreuzberg, das Symbol Berliner Lebensfreude und Toleranz, im Begriff, zu einer „sozial befreiten Zone“ zu werden. Anders als in den „national befreiten Zonen“ im Osten haben in Kreuzberg nicht die Neonazis und die Rechtsradikalen das Sagen, sondern deren fortschrittliche Counterparts, die darüber entscheiden, wer ein „Faschist“ beziehungsweise ein „Rassist“ und deswegen in Kreuzberg nicht willkommen ist. Gestern war es Thilo Sarrazin, morgen könnte es jemand sein, der das „Kreuzberger Milieu“ als das beschreibt, was es ist: ein spießbürgerliches Biotop, bewohnt von linken Reaktionären, die nichts dabei finden, das System abzuschöpfen, das sie zutiefst verachten. Und das sind nicht die Gewerbetreibenden mit Migrationshintergrund, die inzwischen einen wesentlichen Teil der Kreuzberger Ökonomie ausmachen, sondern deren Vormünder, mit und ohne Migrationshintergrund, die es sich in einem weitgehend rechtsfreien Raum gemütlich eingerichtet haben.

Schein-Idylle

Der grüne Fachmann für Migration und Integration, Özcan Mutlu, bescheinigt den Kreuzbergern, die sich von Sarrazin nicht „instrumentalisieren“ lassen wollten, Augenmaß und „politische Reife“, sie hätten nur ihr „Recht auf freie Meinungsäußerung“ genutzt und einen „Scheindialog“ verweigert.

Hätten ein paar rechtsradikale Platzwarte in Bomberjacken einem grünen Politiker in Begleitung eines TV-Teams den Zugang zu einer Kneipe in Hoyerswerda verweigert, nachdem sie den Wirt genötigt hätten, ein ausgemachtes Interview abzusagen, würde Mutlu ihnen bestimmt nicht „politische Reife“ bescheinigen, sondern vor Empörung schäumen. Dabei verteidigt Mutlu nicht einmal die Interessen der „Kreuzberger“, sondern nur seine eigene kleine Idylle: „Es macht mir Spaß, beim libanesischen Bäcker nebenan Croissants zu kaufen und beim vietnamesischen Kiosk einen Cappuccino zu schlürfen. Nur in Kreuzberg und bei Blumen-Dilek kann ich zu jeder Tageszeit frische Tulpen aus Holland für meine Frau holen oder bei Smyrna leckere Hülsenfrüchte aus Israel kaufen. Es macht mir Spaß, meine amerikanischen Freunde nach ,Klein-Istanbul' zu führen, damit sie im ,Hasir'-Restaurant die Vorzüge der türkischen Küche erleben können…“

Da wird's einem, den das Schicksal dazu verurteilt hat, im kalten Wilmersdorf zu leben, ganz warm ums Herz. In Kreuzberg gibt es nicht nur Croissants beim Libanesen, frische Tulpen aus Holland und Hülsenfrüchte aus Israel zu kaufen, sondern auch jene Form von menschlicher Zusammengehörigkeit, die sich alljährlich beim Tanz in den Mai manifestiert, wenn auf der einen Seite die autonome Antifa aufmarschiert und auf der anderen die Anti-Konflikt-Teams (AKT) der Polizei Stellung beziehen, um „das Gespräch mit Demonstrations- bzw. Versammlungs- oder Veranstaltungsteilnehmern, Anwohnern, Zuschauern oder Medienvertretern (zu) suchen“. Denn: „An die Stelle von polizeilichen Zwangsmaßnahmen soll der Dialog treten.“ Nachdem im Zuge der polizeilichen Deeskalationstaktik im Jahre 2010 über 400 Polizisten zum Teil schwer verletzt worden waren, weil die Autonomen nicht deeskaliert, sondern aufgerüstet hatten, nannte der Berliner Innensenator die diesjährige 1.-Mai-Bilanz „positiv“, weil „nur“ 98 verletzte Beamte zu Schaden gekommen waren.

Berliner Relativitätstheorie

So ähnlich klingt es auch aus dem täglichen Polizeibericht, wenn statt der üblichen fünf bis zehn nur drei bis sechs Autos in der Nacht abgefackelt wurden. Weniger Brandstiftungen werden schon als mehr Sicherheit empfunden. Das ist die Berliner Relativitätstheorie. Gefragt, was die Besitzer der von den Abfacklern bevorzugten Modelle denn machen sollten, gab der Polizeipräsident den ernst gemeinten Rat, sie sollten ihre Autos nicht auf der Straße parken.

Das sind die sauren Früchte der Toleranz, die in Berlin dazu geführt hat, dass Mehrfachtäter Mengenrabatt bekommen und die Polizei Bagatelldelikte wie Handtaschenraub nicht mehr aufklärt, sondern nur noch statistisch erfasst: Es sind über 12.000 pro Jahr, zu viele, als dass die Polizei jeden Fall einzeln verfolgen könnte.

Sarrazins Rausschmiss aus Kreuzberg sollte Konsequenzen haben. Es wäre sinnvoll, die Besucher darauf hinzuweisen, dass hier eine „sozial befreite Zone“ entstanden ist, die nur „auf eigenes Risiko“ betreten werden darf. Und dass die Gäste, sollten sie Hilfe benötigen, sich nicht an die Polizei, sondern gleich an Özcan Mutlu und Hans-Christian Ströbele wenden sollten.