Die Bundesanwaltschaft ist auf der Suche nach den Tätern, die bislang 18 Brandsätze an Bahnstrecken in und um Berlin gelegt haben. Ermittelt wird wegen verfassungsfeindlicher Sabotage.
Nach dem Fund zahlreicher Brandsätze an Bahnanlagen im Raum Berlin ermittelt die Bundesanwaltschaft weiterhin gegen unbekannte Täter wegen verfassungsfeindlicher Sabotage. Das sagte ein Sprecher der Behörde am Freitag in Karlsruhe. Insgesamt seien seit Montag in Berlin und Brandenburg 18 Brandsätze an 9 verschiedenen Tatorten abgelegt worden, zwei der Brandsätze seien gezündet worden.
Die Bundesregierung hat die Anschläge gegen die Bahn scharf verurteilt. „Es kann keinerlei Verständnis, keinerlei Entschuldigung, auch keinerlei vorgeschobene politische Begründungen für solche Taten geben“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin.
Die Sicherheit des Bahnverkehrs und vor allem von Menschen werde in hohem Maße gefährdet, sagte er. Zur Frage, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Debatte über Linksextremismus und Linksterrorismus stehe, sagte Seibert, die Definition sei für die Bürger und die Bundesregierung nicht vordringlich. Zunächst müsse herausgefunden werden, wer die Taten begangen habe. Und dann müssten Polizei und Justiz ihre Arbeit so machen, dass die Bürger sicher sein könnten, vor dieser Gefahr geschützt zu werden.
So gehen die Berliner mit der Gefahr um
Zuletzt waren am Donnerstag Brandsätze in Berlin entdeckt worden. Um 11.07 Uhr knallt es in Westkreuz, am Bahnsteig der Ringbahn. Den Knall hören zehn Menschen, die am Donnerstag auf ihren Zug warten, aber nur zwei drehen sich verunsichert um. Oder war es nur ein sehr lautes Poltern? Ein junger Mann mit Kapuzenshirt macht ein entschuldigendes Gesicht: Er hatte einen Apfel in einen leeren Abfall-Container geworfen.
Um 11.09 Uhr dann bekommen alle Passanten auf dem Bahnsteig – es sind inzwischen 14 geworden – den Grund genannt für die allgemeine Unsicherheit, die derzeit auf Berliner Verkehrsknotenpunkten herrscht. Eine weibliche Stimme sagt durch, dass „wegen eines Polizeieinsatzes die Strecke zwischen Südkreuz und Priesterweg derzeit gesperrt“ sei.
Didem Özek, eine junge Jura-Studentin aus Reinickendorf, geht noch, während die Ansage läuft, zum S-Bahn-Fahrplan. Die 20-Jährige muss zur Thielallee, sie hat einen Termin an der Freien Universität und will dort jetzt hin. Sie nickt. Alles okay, sie müsse nur am Heidelberger Platz umsteigen. Bis dorthin läuft der Verkehr noch normal.
Selbstbewusstsein eint Berliner
Didem Özek trägt eine Brille, die ihre dunklen Augen eher betont als versteckt. Sie steht selbstbewusst am Bahnsteigrand des Westkreuzes, und wer sie darauf anspricht, auf die 15, nein, seit wenigen Minuten 16 Brandsätze, die in den vergangenen Tagen an Berlins und Brandenburgs Strecken gefunden wurden, der erntet eher Schulterzucken. „Nein, das verunsichert mich nicht“, sagt sie. „Wenn ich wegen jeder dieser Meldungen nicht mehr in eine S-Bahn oder einen Zug steigen würde, dann würde ich ja nicht mehr hier wohnen können.“
Dieses Selbstbewusstsein ist das, was Berliner eint am Donnerstagmorgen, egal, ob am Hauptbahnhof oder am West-, Ost- oder Südkreuz. Berlin ist eine Stadt, in der Menschen leben, die Termine haben, zur Arbeit müssen und sich für öffentliche Verkehrsmittel entscheiden, weil diese hier oft schneller sind. Um diese Gewohnheit zu ändern, muss schon mehr passieren, als ein Apfel, der polternd in einer Tonne landet oder ein paar Brandsätze, die, wie eine Passantin sagt „ein paar Idioten“ irgendwo platzieren.
Ein paar Stunden vorher, kurz nach 7.30 Uhr am Ostkreuz, ist die Stimmung noch eine ganz andere. Da gibt es noch keine Meldung von neuen Brandsätzen. Die Menschen drängen sich am Bahnsteig der Ringbahn. Gerade wird durchgesagt, dass ein Zug ausfällt. Das bringt die Menschen sogar ins Gespräch, allein schon, weil es immer enger wird, dort oben zwischen den beiden Ringbahn-Gleisen.
Unregelmäßigen Zugverkehr gewöhnt
Gabi Kasper, 53, aus Hellersdorf, und Manuela Homburg, 50, aus Neuenhagen, hätten sich ohne diese Verspätung vielleicht nicht kennengelernt. Als die Meldung durch die Lautsprecher kommt, spricht die eine die andere an: „Na, das ist ja keine Überraschung.“ Seit dem Winterchaos 2010 habe es immer wieder S-Bahn-Ausfälle gegeben. Gabi Kasper nehme deshalb manchmal schon einen Zug früher, damit sie nicht zu spät komme. Aber das mit den Brandsätzen macht ihr schon etwas Angst. „Ich arbeite als Erzieherin“, sagt sie, „und überlege mir gerade schon, ob ich es verantworten kann, mit Kindern in die S-Bahn zu steigen.“ Auch Manuela Homburg hat die Meldungen über die Brandsätze verfolgt und zuhause darüber gesprochen. „Man macht sich schon Gedanken“, sagt sie, als die S-Bahn dann einfährt, „aber solange sie fährt, werde ich sie weiter nehmen.“
Wieder ist es eher Gelassenheit, die bei diesen Gesprächen mitschwingt. Gerade weil es das Winterchaos der S-Bahn gegeben hat, sind die Fahrgäste an unregelmäßigen Zugverkehr gewöhnt, sodass sie der Grund für die Verspätung schon nicht mehr so sehr interessiert. Eine der Forderungen der Linksextremisten ist es, dass deutsche Soldaten sich aus Afghanistan zurückziehen sollen. Keine Forderung könnte weniger mit dem Leben von Gabi Kasper und Manuela Homburg zu tun haben.
Am Hauptbahnhof fahren gegen 9 Uhr noch fast alle Züge nach Plan. Doch ein Zug nach Leipzig, der eigentlich 8.51 Uhr fahren sollte, ist 9.25 Uhr noch immer nicht eingetroffen. Die Anzeige wechselt plötzlich von „Etwa 40 Minuten später“ auf „Etwa 50 Minuten später“. Auch die automatische Durchsage mit der warmen Frauenstimme hat inzwischen die neue Vokabel gelernt. Die künstlich zusammengesetzten Ansage klingt abgehackt, ist aber deutlich zu verstehen: „Wegen Sabotage verspätet sich…“ beginnt die Stimme und schließt nicht mit der früher üblichen Bitte um Verständnis, sondern mit einem „Wir bitten um Entschuldigung.“
Berliner "entschleunigen"
Jan Berg und Sabrina Haase haben die Wartezeit auf dem Bahnsteig im Tiefgeschoss verbracht. Es ist hier wärmer als draußen und sie müssen sich ohnehin noch etwas vorbereiten. Die beiden wollen zur Demokratiekonferenz in Leipzig, unter dem Motto „Jugend und Politik im Dialog“. Der 21 Jahre alte Jan Berg sei ohnehin für den Zug zu spät dran gewesen. „Ich hatte zwar davon gelesen“, sagt er, „aber nicht daran gedacht, dass es uns auch treffen kann.“ Die 24 Jahre alte Sabrina Haase hat schon mit der Verspätung gerechnet, sie hat extra einen „Zeitpuffer“ eingeplant. Als der ICE dann 9.47 Uhr abfährt, freut sie sich aber doch. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr, vor der Konferenz ins Hostel zu fahren.“
Ein weiteres selbsterklärtes Ziel der Attentäter ist es, die Berliner zu „entschleunigen“. Bei den meisten, wie auch bei Jan und Sabrina, funktioniert das nicht. Mit jeder Minute Verspätung zerfällt ein Plan, kann eine Verabredung nicht eingehalten werden, wird der Rest des Tages das Gegenteil von „entschleunigt“, sondern schlicht stressiger. Auch für Sandra Natusiewicz aus Wilmersdorf. Die 23-jährige Polin wohnt seit eineinhalb Jahren in Berlin und fährt regelmäßig nach Breslau. Ihr Zug hat heute 40 Minuten Verspätung. Aber sie ist immer bestens informiert. Im Drei-Minuten-Takt informiert sie ihr Freund per SMS über das, was das Internet an Meldungen zur Zugverspätung bereithält. „Ich bin schon daran gewöhnt“, sagt sie. „Gestern hatte meine S-Bahn 20 Minuten Verspätung, heute mein Zug das Doppelte.“
Am Südkreuz liegt ein Brandsatz
Wer aber am Donnerstagmorgen wissen will, wie die Menschen in Berlin mit dem Verkehrschaos umgehen, muss zum Bahnhof Südkreuz. Alle fünf Minuten schallt über den Bahnsteig, dass wegen eines Polizeieinsatzes die Strecke in Richtung Priesterweg gesperrt sei, nur 200 Meter Luftlinie südlich stehen zehn Einsatzwagen von Polizei und Feuerwehr, zwei Spezialisten entschärfen einen Brandsatz.
Die Anzeigen an Gleis 3 und 4 verkünden Verspätungen von bis zu 90 Minuten an. Menschen schütteln Köpfe, selbst ein Golden Retriever legt missmutig seinen Kopf auf die Vorderbeine, während sein Herrchen sich im Rauchverbots-Bereich eine Zigarette dreht. Ein Schaffner schaut weg und erklärt verwirrten S-Bahn-Fahrgästen, welche Busse wo bereitstehen.
Petra Schroer hat das Chaos kommen sehen. Sie hat am Nachmittag einen wichtigen Arbeitstermin in Dresden. Die 43 Jahre alte Schönebergerin nahm lieber einen Zug früher, der jetzt, kurz vor 12 Uhr, mit fast einstündiger Verspätung abfährt. „Man stellt sich halt darauf ein“, sagt sie und zuckt so mit den Schultern, wie das zuvor die Fahrgäste am Ost- und Westkreuz schon getan haben. Sie hat sich ein Buch gekauft und beginnt gerade zu lesen. Es heißt „Tiefe Wunden“, ein Krimi, der für Petra Schroer schon eher ein Grund ist, mit Angst in den Zug zu steigen.
Am Ende dieses Morgens steht aber doch eine Emotion, die nichts mit polternden Äpfeln oder geduldigen Berlinern zu tun hat. Eine Frau stürmt mit Rollkoffer vorbei. Auf die Brandsätze angesprochen, wird sie wütend: Nein, Angst habe sie nicht, sagt sie. Aber sie arbeite selbst bei der S-Bahn. Sie weiß, dass die Bahn-Angestellten gegenüber Reportern nur auf die Pressestelle verweisen sollen, wie das alle ihre Kollegen sonst am Morgen gemacht haben, aber sie ruft laut, mit einer Stimme, die nicht für eine beruhigende Durchsage geeignet wäre: „Mir haben mehrere S-Bahn-Fahrer gesagt, dass sie wirklich Angst haben, ihren Job zu machen!“ Das sei nicht fair. „Und da ist es mir auch völlig egal, was die Brandleger für eine Begründung für Attentate haben!“
mit dpa