Wahlerfolg

Piraten sind auf Politik-Alltag nicht vorbereitet

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Jens Anker

Fast neun Prozent aus dem Stand: Mit 14 Männern und einer Frau ziehen die Piraten jetzt ins Parlament ein. Doch die künftigen Abgeordneten hatten gar keine Zeit, sich auf ihren neuen Alltag einzustellen. Jetzt müssen sie versuchen, die Halbtagstätigkeit im Parlament mit ihrem restlichen Leben unter einen Hut zu bringen - für alle nicht ganz einfach.

Schon am Tag nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus sieht sich die Piratenpartei mit dem parlamentarischen Alltag konfrontiert. Weil mehrere Kandidaten sowohl auf der Bezirksliste als auch auf der Landesliste kandidiert hatten, muss die Partei entweder auf zwei Abgeordnete im Berliner Parlament oder auf einen Stadtratsposten in Friedrichshain-Kreuzberg verzichten. Sollten alle Kandidaten ins Abgeordnetenhaus einziehen, fehlt ihnen in dem Bezirk die Mehrheit, den Stadtrat zu wählen. Gleich zu Beginn ihrer parlamentarischen Geschichte stehen die Piraten also vor einem wichtigen Personalproblem. Gleich in drei Bezirksparlamenten – neben Friedrichshain-Kreuzberg auch in Spandau und Treptow-Köpenick – haben sie zudem jeweils einen Kandidaten weniger nominiert, als sie entsenden könnten. Pech gehabt. Eine Nachnominierung ist nicht möglich.

Einer der Doppelkandidaten ist Fabio Reinhardt. Er muss sich nun für ein Mandat entscheiden. „Bei uns in Friedrichshain-Kreuzberg trifft das von acht gewählten Bezirksverordneten auf drei zu“, sagte er. Reinhardt nimmt an, dass sich alle drei wie er selbst „für die Landespolitik entscheiden“ werden. Die drei Sitze in dem Bezirksparlament blieben damit unbesetzt, und es gebe auch keinen Piraten-Stadtrat. Insgesamt entsendet die Piratenpartei wohl nur 95 Prozent der ihr zustehenden Bezirksverordneten in die Bezirksparlamente.

Studium und Parlament

Am Montagabend versammelten sich die 15 künftigen Abgeordneten, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Für alle bedeutet der historische Wahlabend in Berlin einen Einschnitt in ihre bisherige Biografie. So recht war keiner von ihnen darauf eingestellt, die kommenden fünf Jahre im Abgeordnetenhaus zu sitzen.

„Ich werde erst einmal Kontakt zu meinen Dozenten aufnehmen“, sagte Susanne Graf. Die 19-Jährige ist nicht nur die einzige Piratin, die ins Parlament einzieht, sondern auch die jüngste Abgeordnete im kommenden Parlament. Die Wahlnacht verbrachte sie nicht nur damit, den Sensationssieg der Partei zu feiern. Zu Hause nahm sie sich sogleich die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses vor, am Montagnachmittag folgte das Fraktionsgesetz. „Wir haben alle noch nicht viel Parlamentserfahrung, die wollen wir uns schnell aneignen.“

Erst im März dieses Jahres machte Graf das Abitur in Thüringen, danach kam die gebürtige Berlinerin zurück – eigentlich, um Wirtschaftsmathematik zu studieren. Jetzt muss sie also erst einmal mit den Dozenten sprechen, wie sie das Studium in Teilzeit absolvieren kann. Für das Parlamentsamt will Graf jedenfalls nicht auf die Universität verzichten. „Ich glaube, da sammle ich wichtige Erfahrungen, die mir als Abgeordnete helfen.“

Noch keine Vorstellung hat sie davon, was sie mit den 3700 Euro macht, die sie künftig für die Halbtagstätigkeit im Parlament erhält. Ein Teil werde sie an die Partei abgeben, einen anderen wohl zweckgebunden an die Jungpiraten spenden.

Das Geld steht auch für Wolfram Prieß nicht im Vordergrund. Der 45 Jahre alte Diplom-Physiker war zuletzt Arbeit suchend. „Arbeit gesucht, Arbeit gefunden“, kommentiert er knapp seinen Parlamentseinzug. Als 15. und letzter Kandidat auf der Liste rutschte er dank der neun Prozent Wählerstimmen in die Fraktion. Prieß will sich künftig am liebsten mit Stadtentwicklung und Verkehr beschäftigen. Aber die genaue Marschroute werde die Fraktion in den nächsten Tagen festlegen. Seit 2009 engagiert sich Prieß bei den Piraten, vorher war er noch nicht politisch aktiv. „Die Piraten sind die erste Partei, mit der ich mich zu 100 Prozent identifiziere“, sagt er. Wegen seiner Arbeitslosigkeit hat er sich in den vergangenen Monaten besonders aktiv in die Parteiarbeit gestürzt.

Nachdem er am Wahlabend einen kräftigen Schluck aus der Rumflasche genommen hatte, genoss auch Spitzenkandidat Andreas Baum am Montag den Piratentriumph. „Wir sind in ein Vakuum hineingestoßen.“ Die Angebote der anderen Parteien seien so schlecht gewesen, dass sich die Wähler „was Neues gewünscht“ hätten, sagte Baum.

Die Piratenpartei will jetzt ernsthafte Politik machen. „Mal sehen, wie viel wir davon zusammen mit den anderen Parteien umsetzen können“, sagte Prieß. Noch nicht geklärt haben die Neuparlamentarier, wer die Fraktion künftig führen soll und wer welche Arbeit in den Ausschüssen übernimmt.

Spagat zwischen Beruf und Politik

Auch Baum selbst weiß noch nicht, wie es für ihn weitergeht. Für die heiße Phase des Wahlkampfs hatte sich der Mitarbeiter eines großen Telekommunikationsunternehmens Urlaub genommen, davor hatte er davon profitiert, über seine Arbeitszeit selbst verfügen zu können.

Für Gerwald Claus-Brunner gab es auch einen Tag nach der Wahl keinen Grund, sich als Abgeordneter äußerlich zu verändern. Der 39 Jahre alte Mechatroniker ist ebenfalls neuer Abgeordneter der Piratenpartei und legt seinen Blaumann nur ungern ab. So kam der Politikneuling am Montag im blauen Overall zum Parlament. „So laufe ich in meiner Firma rum und in meiner Freizeit. So laufe ich seit 20 Jahren rum. Warum soll ich mich denn dafür ändern“, sagte Claus-Brunner, der sich noch ein Tuch um den Kopf gebunden hatte. Er vergesse seine Wurzeln nicht, seine Familie komme aus der Landwirtschaft. „Messt mich an meinen Ergebnissen, messt mich an meiner Arbeit, und messt mich bitte nicht daran, wie ich aussehe. Das ist Schubladendenken.“

Pavel Mayer zog mit einem lachenden und einem weinenden Auge in das Parlament ein. Der IT-Unternehmer freut sich über die „historische Chance“, die die Piratenpartei derzeit erlebt. Andererseits verliert der Unternehmer auch drei Programmierer seiner Firmen an das Abgeordnetenhaus. Gerade erst hat er seine dritte Firma gegründet, die Software für Handys entwickelt, und steckt mitten im Aufbauprozess des Unternehmens. Da fällt ihm der Verlust dreier Arbeitskräfte natürlich schwer. „Aber in dieser historischen Stunde stelle ich persönliche Interessen hintenan“, sagte Mayer. Die Piratenpartei verließ er erst am frühen Morgen. „Um vier Uhr war ich zu Hause, dann habe ich noch eine Stunde gearbeitet und bin um fünf ins Bett“, sagte der 45-Jährige.

Erste Schritt ein Parlament sollen dokumentiert werden

Mit ein wenig Sorge blickt er in die Zukunft. „Jetzt habe ich zwei Fulltime-Jobs“, sagte er. Er habe sich informiert und gehört, dass es mit dem Halbtagsparlament so eine Sache sei. Wer ernsthaft politisch arbeiten wolle, komme mit einem halben Tag nicht aus. Außerdem benötige sein Start-up-Unternehmen seine volle Aufmerksamkeit. „Aber das Abgeordnetenhaus hat schon Vorrang“, sagte Mayer. Er will sich vor allem mit der Innenpolitik und der Transparenz beschäftigen. Die Partei ist bereits auf die Arbeit vorbereitet. Seit dem vergangenen Jahr arbeitet sie an einem Transparenzgesetz, das sie über eine Bürgerinitiative in das Parlament einbringen wollte. Das geht jetzt natürlich mit der Piratenfraktion einfacher. „Außerdem unterstützen wir die Organklage gegen die Wasserverträge“, sagte Mayer. Verträge von öffentlichen Unternehmen sollen öffentlich gemacht werden, bevor sie unterschrieben werden. „Damit man nicht erst davon erfährt, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.“

Außerdem plant Mayer eine Dokumentation ihres Starts in das politische Alltagsleben. Es soll eine Plattform geben, auf der sie ihre ersten Schritte im Parlament öffentlich machen, damit andere Politneulinge oder die Piraten in anderen Bundesländern davon profitieren. Über die Internetseite www.piratenfraktion-berlin.de wollen sie bloggen, was sie in den Plenar- und Ausschusssitzungen des Landesparlaments erleben.

Die Senkrechtstarter im deutschen Politikbetrieb sitzen nun also in der Hauptstadt mit ihren alternativen Milieus zum ersten Mal in einem Landesparlament. Der erste Auftritt der Aufsteiger im Abgeordnetenhaus wirkte am Montag nach der Wahl fast chaotisch und ungeplant. Und ausgerechnet bei der Netzpartei funktionierte das Internet im Abgeordnetenhaus nicht. „Langfristig wird sich das Faxgerät durchsetzen“, sagte Neuparlamentarier Christopher Lauer ironisch. Eigentlich wollte er den Netzauftritt der neuen Fraktion an die Wand werfen. Spitzenkandidat Baum nahm die Panne gelassen und trank einen Schluck Limonade. Die Batterie von Kameras, die auf ihn gerichtet waren, störte ihn nicht. Baum fühlt sich ohnehin noch immer wie im Film, sagte er beim ersten gemeinsamen Fraktionsfoto.

Ein Gefühl, das er in den kommenden Tagen wohl nicht so schnell loswerden wird.