Dossier

Canisius - das Ende des Schweigens

| Lesedauer: 39 Minuten
Daniel Müller

Foto: Amin Akhtar

Der Missbrauchsskandal hat die katholische Kirche in die schwerste Krise der Nachkriegszeit gestürzt. In Berlin nahm alles seinen Anfang. Wie geht es den Katholiken der Stadt ein halbes Jahr danach? Eine Bestandsaufnahme.

Zimmer 0602 liegt im Erdgeschoss. Ein kleiner Raum, fahles Deckenlicht, Durchgangstür, Schreibtisch, Computer. Auf dem Furnierschrank steht eine Badeente. Die Frau, die hier sitzt, trägt eine kantige Brille und hat dunkle, lange Haare. Sie fragt nach dem Personalausweis, nach der Konfession. In ihrer Stimme: Gleichmut, in ihrem Gesicht auch. Dann tippt sie ein paar Daten ein, Adresse, Geburtstag, so was, verlangt eine Unterschrift auf einem weißen Formular. AVR.137. Erklärung des Austritts aus einer Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts. Es sieht so unspektakulär aus, wie es sich anhört.

Aus der Kirche auszutreten ist leicht, katholisch, evangelisch, egal, eine Sache von ein paar Minuten, es kostet nicht einmal Geld. Allein im ersten Quartal 2010 haben in Berlin 1323 Gläubige die katholische Kirche verlassen, fast 40 Prozent mehr als im Quartal zuvor. Wer einen Vormittag auf dem Amtsgericht Mitte verbringt und nach Motiven für den Austritt sucht, der trifft Menschen wie Georg. Ende 20, studiert, Franke. Seine Großeltern erzkatholisch, die Eltern gemäßigt, er auf dem Papier. Noch. Denn Georg will heute austreten.

Fragt man ihn nach dem Grund, sagt er einen Satz, den man häufig hört im Flur vor der Kirchenaustrittsstelle: „Ich hatte ja schon lange überlegt, aber jetzt mit dem Missbrauchsskandal und so.…“ Dann geht Georg in das Zimmer mit der Badeente. Wieder einer weniger. Wieder einer, der bestätigt, was Stefan Förner, Pressesprecher des Erzbistums Berlin, schon vor Monaten befürchtet hatte: „Entwicklungen dieser Art erreichen vor allem Mitglieder, die ohnehin schon darüber nachgedacht haben, ob sie austreten sollen – und erleichtern ihnen die Entscheidung.“

Es sind auffällig viele Studenten und Akademiker, die der Kirche in Berlin derzeit den Rücken kehren. Zugereiste aus traditionell katholischen Gebieten des Landes: Westfalen, Schwaben, Franken, die den Anteil der Katholiken in einer an sich unkatholischen Stadt in den vergangenen Jahren hochtrieben. Ja, die sogar dafür gesorgt haben, dass die katholische Kirche in Berlin wider den Bundestrend nicht schrumpfte, sondern wuchs, wie Förner sagt. Trotz der zahlreichen Austritte. Diese Entwicklung droht jetzt zu kippen. Zu aufgeschreckt durch die entsetzlichen Vorfälle am Canisius-Kolleg sind jene, die ohnehin nur katholisch sind, weil ihre Eltern es so wollten. Menschen wie Georg.

Die Folgen der Missbrauchsfälle sind für die Kirche noch lange nicht absehbar. Geschweige denn ausgestanden. „Ich bin mir nicht sicher, ob das schon die letzten Austritte aus diesem Grund waren“, sagt Stefan Förner. Die katholische Kirche steckt sechs Monate nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals noch immer in der größten Krise, an die sich die Lebenden erinnern. Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Ein biografischer Einschnitt

Der Tag, an dem sich die Krise Bahn bricht, ist der 28..Januar. Ein Donnerstag. Seit Wochen liegt Berlin begraben unter einer Decke aus Eis und Schnee, die Temperaturen sind in der Nacht auf minus 22 Grad gesunken. Straßen platzen auf, Wasserrohre brechen, Heizungen versagen, Menschen erfrieren. Auf der Titelseite der Berliner Morgenpost erscheint ein Artikel mit der Schlagzeile: „Canisius-Kolleg: Missbrauchsfälle an Berliner Eliteschule“. Der Rektor des Kollegs, Pater Klaus Mertes, hatte neun Tage zuvor an 600 ehemalige Schüler des Jesuitengymnasiums einen Brief geschrieben. Darin die Nachricht, dass Geistliche an seiner Schule in den 70er- und 80er-Jahren systematisch Kinder missbraucht hatten – und dass dieser Missbrauch jahrzehntelang vertuscht worden war. Klaus Mertes klagte damit nicht einfach nur seine Schule an oder seinen Orden. Er klagte die katholische Kirche an. Und so hat dieser Schritt nicht nur sein Leben verändert. Er hat das Kirchenleben in Deutschland verändert. Er hat Berlin verändert.

Knapp sechs Monate danach liegt das Canisius-Kolleg hinter satt blühenden Kastanien und Rotbuchen träge in der Sonne. Der Lehrerparkplatz ist gut gefüllt, die Fahrradständer auch, am Zaun hängen Luftballonreste. Ein Beitrag aus dem Kunstunterricht. Ein Schüler hat sich in den Mittelkreis des Basketballfelds gelegt. Barfuß, Beine ausgestreckt, Augen geschlossen, der Kopf vom Rucksack gestützt. Anscheinend ist das Jesuitengymnasium zur Ruhe gekommen.

Der Mann, den die einen Kirchenzerstörer nennen und die anderen Held, sitzt in seinem hellen Büro auf einem gepolsterten Sessel und sieht müde aus. Als ob Klaus Mertes den gerade gewonnenen Eindruck unbedingt bestätigen will, sagt er: „Ich bin irrsinnig müde, so müde, das ist eine Müdigkeit, die man nicht ausschlafen kann.“ Er schleppt sich durch die letzten Tage, bis zu seinem Urlaub, dann will er mit Freunden wandern. Abstand nehmen, durchatmen. Vielleicht mal nicht über das Thema sprechen, über das er seit einem halben Jahr pausenlos spricht. Damals, als die Nachricht um die Welt ging, hatte er noch gesagt, er sei auf alles gefasst. Heute sagt er: „Ich bin überwältigt von dem Ausmaß, damit hätte ich nie gerechnet. Es war ein Riesenknall.“

Mertes redet schnell, pointiert, klug. Kein Wort zu viel, keine Hülsen, ein guter Redner war er schon immer, aber so geschliffen wie jetzt, das macht die Routine. Dutzende Journalisten hat er in diesem Büro empfangen, dutzendfach die gleichen Fragen beantwortet. Er wirkt ungemein abgeklärt. Nur wenn man ihn nach seinem Befinden fragt, zögert er. Er stellt die Handkanten auf, legt sie auf die Armlehnen, setzt zum Satz an, noch einmal, kurze Pause, das geht zwei, drei Mal so. Dann richtet er die Augen zu Boden und sagt: „Das war ein biografischer Einschnitt für mich.“ Er sagt das, als müsste hinter jedes Wort ein Punkt. Das. War. Ein. Biografischer. Einschnitt. Für. Mich.

Die Masse ist kaum kontrollierbar

Vier Kilometer westlich von Mertes’ Büro, in Charlottenburg, hat der Missbrauchsskandal auch das Leben von Ursula Raue verändert. Die kleine Frau mit den schimmernd blonden Haaren bittet in ihre Wohnung, die zugleich ihr Büro ist. Auf dem Boden stehen 13 Ordner, alle dick wie Hauswände. Sie enthalten 220 Geschichten von Betroffenen des Jesuitenordens, rund die Hälfte von Opfern der Missbräuche am Canisius-Kolleg. Geschichten von Männern, die zu Schulzeiten geschlagen und gepeinigt wurden, von sadistischen Übergriffen, seelischer Bestrafung und körperlicher Züchtigung. Von Geistlichen, die Kinder zum Trost in den Arm nahmen und ihnen dabei ihren erigierten Penis an den Körper pressten. Von einer Frau, die im Kommunionsalter von ihrem Vater vergewaltigt wurde und sich im Beichtstuhl dem Pfarrer anvertraute, der sie gleich noch einmal vergewaltigte. Geschichten, die eine Schande sind für eine Institution, die sich selbst als moralische Instanz begreift.

Ursula Raue erzählt mit brüchiger Stimme, leise, als hätte sie Angst, dass noch jemand mithört. Die von Pater Mertes eingesetzte Rechtsanwältin und Mediatorin beschäftigt sich schon seit 2007 mit einzelnen Fällen. Aber seit dem 28..Januar steht ihr Telefon nicht mehr still, manchmal, sagt sie, habe es von morgens halb sieben bis nachts um eins pausenlos geklingelt. Erst gestern wieder habe einer angerufen, ein Mann, der all die Monate nichts mitbekommen habe. Und plötzlich hört er Ursula Raue im Radio, als sie Ende Mai ihren Abschlussbericht vorlegt. Zwei Wochen habe er kein Auge mehr zugemacht. Jetzt erst fiel ihm wieder ein, was die Patres mit ihm gemacht hatten, damals. Wie sie ihn missbraucht haben, immer wieder. Mehr als 30 Jahre lang hatte er es verdrängt. Wie einen bösen Traum. Für ihn hat die Aufarbeitung gerade erst begonnen, und Ursula Raue sagt, dass auch sie wohl noch lange nicht fertig sei mit dem Thema.

Es ist warm an diesem Junitag. Das Licht bricht zu allen Seiten durch die wandhohen Fenster. Die stilvoll eingerichtete Wohnung liegt im fünften Stock, Korbmöbel, viel Glas, viel Edelstahl, Heiner Müller an der Wand, Zarah Leander im Porträt. Neben Ursula Raue steht eine Schale mit Serviettenhaltern, viel zu viele, aber das passt zu ihr, sie hält gern Dinge zusammen. Es ist fast unangenehm ordentlich hier.

Wie Pater Mertes sieht sie erschöpft aus, sie sagt, dass sie auf eine Pause hofft im August, ein wenig Urlaub – „es war einfach sehr anstrengend“.

Wenn Klaus Mertes die Büchse der Pandora geöffnet hat, dann ist Ursula Raue diejenige, die sortieren muss, was aus ihr herausbricht. Sie untersucht die Schicksale der Opfer, sie sucht die Täter. Folgt ihren Lebensläufen durch Jesuiteneinrichtungen im ganzen Land. Manche findet sie, andere nicht, die meisten sind eh schon tot. Einige der Wege sind verwischt, sie sollten schließlich nie ans Licht gelangen. Es ist Ausdruck jahrelangen Vertuschens, Mauschelns, Lügens, Wegsehens eines Ordens, dem der Schutz der Institution wichtiger war als der Schutz der Kinder. Jede Meldung muss Raue überprüfen, jedem Namen hinterherspüren. Oft ähneln sich die Fälle, doch muss jeder für sich bearbeitet werden. Es ist eine zeitraubende Arbeit, die immer wieder von Neuem beginnt. Die Masse ist kaum kontrollierbar. Das nagt an Ursula Raue, weil es an den Opfern nagt.

Gleich mehrere Betroffene beklagten in den Medien die Art der Aufklärung, „zutiefst enttäuscht“ seien sie, einer fühlte sich „in gewisser Weise erneut missbraucht“, weil nichts passiere. Ursula Raue versteht das. „Wer 30 Minuten lang auf einen Zug wartet, dem kommt das schon zäh vor, wer aber 30 Jahre lang auf eine Entschuldigung wartet, dem muss jetzt jeder Tag wie eine Ewigkeit erscheinen.“

Pater Mertes hält die Arme verschränkt vor seinem leicht gewölbten Bauch, er nennt ihn selbst: Klerikerbauch. Auch ihn plagt das Wissen, nicht alles richtig machen zu können. In den letzten Wochen habe er sich deshalb immer wieder einen Satz gesagt: „Was immer ich mache, es ist falsch. Also mach ich das Falsche, was ich für richtig halte.“ Es ist seine Durchhalteparole. Ohne die ginge es nicht, da sei zu viel Verzweiflung in ihm, ein Vergeblichkeitsgefühl, riesige Trauer. Und Wut. Er sagt: Wuuut. Selbstzweifel. Zorn. Er müsse das irgendwie kanalisieren.

Vor nicht einmal sechs Monaten war Klaus Mertes ein Schulrektor, der ab und an einen Zeitungsartikel schrieb und Gottesdienste hielt in der Kirche Maria Regina Martyrium, der Gedenkkirche der Katholiken für die Opfer des Nationalsozialismus, deren Leiter er ist. Jetzt ist er ein Kirchenpopstar, der in Talkshows eingeladen wird und zu Podiumsdiskussionen, der auf dem Kirchentag wütend beschimpft wird als Nestbeschmutzer und der immer wieder erklären soll, ja, sich rechtfertigen muss, wie es dazu kommen konnte, dass sich Mitglieder seines Ordens an Kindern vergingen – als trage er die Schuld daran.

Aber das ist nun mal seine neue Rolle. Er ist Prellbock für jene, die Angst haben, dass die Kirche daran zugrunde geht. Und Identifikationsfigur für alle, die sich nach Progressivität in der katholischen Kirche sehnen. Jeder will etwas von ihm. Ihm danken. Ihn beschimpfen. Ihn interviewen. Er sagt: „Ich weiß noch immer nicht, wie bekannt ich eigentlich bin.“ Das klingt nicht einmal kokett. Man ist kurz versucht, ihn darüber aufzuklären, zu sagen: „Sie sind sehr bekannt, Herr Mertes.“

Wer sich mit Pater Mertes unterhält, dem wird klar, warum der Skandal ausgerechnet hier ans Licht kam: in seinem Büro, aus der Feder dieses aufgeklärten Altphilologen und Theologen im Speziellen – und in der säkularisierten Stadt Berlin im Allgemeinen. Berlins Katholiken mussten oft Kämpfer sein. Für ihre Überzeugung, für ihren Glauben. Vor allem zu DDR-Zeiten, als die katholische Kirche als Relikt einer überholten Weltanschauung galt und ihre Gemeindemitglieder als potenzielle Kollaborateure mit den Feinden des sozialistischen Systems. Sie konnte sich nicht – wie etwa in Bayern oder Westfalen – auf ihrer Tradition ausruhen, sie war und ist bis heute eine Kirche in der Diaspora. Eine Minderheitenkirche.

Unkatholischer als in Lichtenberg ist Berlin wohl nirgends. Von hier aus versuchte die SED, den katholischen Glauben in der DDR sukzessive auszurotten. An der Buchberger Straße, nur 300 Meter Luftlinie vom alten Stasi-Hauptquartier entfernt, betreibt die Caritas trotzdem ein Kinder- und Jugendzentrum. Obschon bis heute nicht einmal vier Prozent der Einwohner katholisch sind. In einem von jahrzehntelangem Regen braun gewaschenen Betonbau ist „Magdalena“ beheimatet, die Leiterin heißt Svenja Daß, ist 29 – und nicht getauft. Rund 50 Kinder und Jugendliche kommen hier pro Tag hin, achtjährige Mädchen genauso wie Männer Mitte 20, Deutsche, Türken, Iraner, Russen, Muslime, Hindus, Atheisten, Christen. Religion sei hier allerdings kaum mal ein Thema, sagt Daß. Höchstens, wenn einer der muslimischen Jungs nicht aufräumen will, weil er denkt, das sei Frauensache, und sich dabei auf seinen Glauben beruft.

Svenja Daß führt durch die Räume. Mädchenraum, Toberaum, Computerraum, Proberaum, Kraftraum, Tanzraum, Billardraum, nirgends ein Kreuz, nirgends ein Zeugnis katholischer Trägerschaft. Die Caritas müsse sich eben anpassen, sagt Daß, vor allem in einer Stadt wie dieser. Es klingt wie: in einer Stadt mit vielen Göttern. Zu vielen.

In katholischen Orten wie Passau, Paderborn oder Münster wäre es undenkbar, dass in Jugendeinrichtungen des Caritasverbands jemand in leitender Position arbeitet, der nicht katholisch ist. „Das widerspräche ja der kirchlichen Grundordnung“, sagt Marita Haude von der Caritas in Münster, „es müsste schon eine Extremsituation eintreten, bevor wir das zulassen.“ Die Eltern hätten ja ein Recht darauf, dass ihre Kinder von Katholiken betreut würden.

In Lichtenberg wissen die meisten Eltern gar nicht, dass „Magdalena“ von der katholischen Kirche finanziert wird. Es ist ihnen auch egal. Und Daß macht daraus keine große Sache. Die Kinder sollen schließlich spielen, lernen, ihre Potenziale erkennen – und nicht beten. Hier zählen Begriffe wie Gender-Mainstreaming und Interkulturalität. Nicht Religion.

Das Erzbistum Berlin ist flächenmäßig mit 31.200 Quadratkilometern das drittgrößte Deutschlands, aber gerade mal 6,8 Prozent der Einwohner sind katholisch. In München und Freising sind es 51,5 Prozent, in Köln 41,1. Vor sieben Jahren geriet das Bistum, zu dem auch Vorpommern und Teile Brandenburgs gehören, so stark in finanzielle Probleme, dass es drohte, zahlungsunfähig zu werden. Die anderen Bistümer halfen mit Geld aus, die 207 Kirchengemeinden wurden zu 108 zusammengelegt. Wieder mussten Berlins Katholiken enger zusammenrücken. All das, glaubt auch Pater Mertes, spielt bei so einer Enthüllung eine Rolle: „Ich denke schon, dass es etwas mit der Minderheitensituation der Kirche in der säkularisierten Stadt Berlin zu tun hat. Wir sind hier exponierter, mitten in einer Öffentlichkeit, die uns kritisch beobachtet.“

Mertes steht auf, im hinteren rechten Eck seines Büros steht eine Waage, hoch wie eine Parkuhr. Sie ist aus Holz, an jeder Seite hängt eine leicht ausgebeulte Messingschale. Es ist die Waage der Exerzitien, der geistlichen Übungen des Heiligen Ignatius von Loyola. Der ist so etwas wie ein Vorbild für Klaus Mertes. Und dieses Instrument nennt er zärtlich Seelenwaage. Sie helfe ihm bei wichtigen Entscheidungen. Er nimmt seinen Füller in die Hand, hält ihn kurz hoch und legt ihn dann behutsam in die linke Waagschale. Sie sinkt nach unten, die rechte Schale steigt empor – wie damals, kurz bevor er den Brief schrieb. Mertes sagt, um eine Entscheidung zu treffen, müsse man im Einklang mit sich selbst sein, „sonst kann man Gottes Willen nicht finden“. Und Gottes Wille sei mit im Spiel gewesen, als er mit jenem Brief im Januar um Entschuldigung bat und das Schweigen der Kirche brach. Mit jenen 31 Sätzen, die letztendlich dafür sorgten, dass 564 Kilometer weiter südlich Walter Mixa in Augsburg sein Amt niederlegen musste. Das erste namhafte Opfer des Skandals auf Kirchenseite. Nicht, weil er Kinder sexuell missbraucht hat. Aber weil er sie geschlagen hat. Und bei den Betroffenen plötzlich der Mut da war, das auszusprechen. Dank Mertes’ Worten.

Warum wird jemand heute Priester?

Während der Ex-Bischof in Augsburg um seinen Ruf kämpft, sitzt Christoph Butschak im Garten des Moabiter Dominikanerklosters auf einem Korbstuhl. Das linke Bein hat er über das rechte geschlagen, so wird er eine Stunde lang sitzen bleiben. Wildrosen, Chrysanthemen, Anemonen blühen hier und viele Blumen mehr, rot und gelb und lila und orange. Es ist still, kein Zirpen, kein Summen, als würden sich selbst Tiere hier nicht trauen, Geräusche zu machen. Butschak ist Priesteramtsanwärter, aber schon jetzt wirkt alles an ihm priesterlich. Aufrecht, bedächtig, kontrolliert. Er sitzt priesterlich. Steht priesterlich. Spricht priesterlich. Trägt ein weißes Hemd, eine schwarze Stoffhose und diese schwarzen Lederschuhe, die irgendwie jeder Priester trägt und die es in einem geheimen Priesterschuhladen zu kaufen geben muss. Im September soll der 26-Jährige geweiht werden. Es ist nicht eben die Zeit, in der zu katholischen Priestern ehrfürchtig aufgeschaut wird. Warum wird ein junger Mann, der sich für Computer und Fußball und Hermann Hesse interessiert, ausgerechnet Priester?

Das Vertrauen in die katholische Kirche ist tief erschüttert. Christoph Butschak weiß das. Aber das könne für ihn doch kein Grund sein, fundamental zu zweifeln. Priester zu werden sei ja keine bloße Berufsentscheidung. „Es ist eine Lebensentscheidung. Priester ist man durch und durch.“ Er sagt das nicht entschlossen, er sagt es zärtlich, fast so, als wären die Buchstaben in wichtigen Momenten kleiner als sonst. Als müsste man sie dann behutsamer behandeln. Gut, dass es hier so ruhig ist, manche Sätze würden sonst einfach untergehen. Der Satz „Ich möchte einen Platz für Christus frei halten in der Welt“ zum Beispiel oder „Ich möchte Christus immer ähnlicher werden“ und „Christus ganz nachfolgen, das kann man nur mit ungeteiltem Herzen“.

Andere wählen einen Mann oder eine Frau, Christoph Butschak hat Christus als Lebenspartner gewählt. Kurz vor dem Abitur hat er sich entschieden, Priester zu werden. Eigentlich hatte er ja Informatik studieren wollen, aber irgendwann, da hat ihn der Glaube gefangen genommen. Diese Entscheidung sei ein kontinuierlicher Weg gewesen, sagt Butschak. Fast alle Stationen seines Lebens umschreibt er mit der Metapher Weg. Er mag das Wort. Weg. Es beruhigt ihn.

Seit sieben Jahren studiert Butschak nun die Lehren Christi. Er hat sie in Erfurt studiert, in München und in Rom. In Berlin geht das nicht, schon zu DDR-Zeiten wurden alle Priesteramtsanwärter nach Erfurt geschickt. In seinem Semester war er anfangs der Einzige. Es ist nicht gerade so, dass Abiturienten der katholischen Kirche die Tür einrennen.

Morgens, mittags, abends betet Butschak zusammen mit den anderen fünf Anwärtern. Er mag das sehr. Einen Tag ganz ohne Beten könne er sich nicht vorstellen. Aber ja, es gibt Zeiten, in denen es ihm schwerer falle, sich mit Gott auszutauschen, sagt er. Gerade in den letzten Monaten gab es diese Momente. Sein Glaube habe mit dem Missbrauch gearbeitet, wie er das nennt. Aber die Kirche dürfe nun nicht lethargisch agieren. Es müsse darum gehen, alle Fälle aufzuarbeiten. Nicht in Panik zu verfallen. Auf gute Weise weiterzugehen. Das Vertrauen zurückzugewinnen. Pater Mertes habe den Anfang gemacht, jetzt ist „diese Situation eine Chance, aus der wir alle geläutert hervorgehen können“, sagt Butschak.

Klaus Mertes hat den Füller zur Seite gelegt, sich wieder gesetzt. Er erinnert sich an die Zeit, als er in Christoph Butschaks Alter war und eigentlich Opernsänger werden wollte. „Einmal als Tristan in Isoldes Armen sterben, das wär’s gewesen“, sagt Mertes, schaut dabei wie ein Kleinkind auf ein Riesenrad und lacht sein kurzes, lautes, unpriesterliches Merteslachen. Immerhin dürfe er seinen Tenor ja als Priester in der Kirche ganz offiziell vorführen, das entschädige ein wenig. Außerdem habe er seine Entscheidung, Kleriker zu werden, nie angezweifelt, die Liebe zu seinem Orden und der Kirche nie verloren, auch nicht in diesen harten Monaten nach den Enthüllungen. Der 55-jährige Klaus Mertes würde dem 20-jährigen Klaus Mertes selbst jetzt noch raten, in den Jesuitenorden einzutreten.

Skat, Glaube und Rosinenbrot

Günter Doberschütz ist 78 und geht länger regelmäßig in die Kirche, als Klaus Mertes auf der Welt ist. Heute ist Montag, und montags ist Doberschütz mit seinen Freunden von der Seniorenspielgruppe immer im Gemeindehaus der Schöneberger St.-Matthias-Gemeinde. Der Tisch ist gedeckt, zehn Tassen, zehn Teller stehen da, eigentlich kommen ja sonst mehr, aber die Frau B. ist krank, eine kleine Operation, nichts Schlimmes, und das Ehepaar G. tourt gerade durch Israel. Zwei Tabletts mit Sandkuchen und süßem Rosinenbrot, Kaffee und Früchtetee in Thermoskannen. Zwei ältere Damen tauschen Prospekte aus. Noch ganz in Ruhe zwei, drei Gabeln, dann kann es losgehen, Tische auseinander, Rummikub an einem, Skat an dem anderen. Rituale.

Doberschütz ist Rentner und Mann der Meinung hier. Er ist einer von denen, die sich mit Inbrunst über alles aufregen können. Fußball, Bauschutt, Gurken, Radfahrer, Medien, was auch immer. Doberschütz mag es zum Beispiel nicht, wenn Menschen im Fernsehen mit vollem Mund sprechen. Und er legt Wert darauf, sich nicht gleich mit jedem zu duzen, fürchterlich, diese Kumpeltour von Lehrern heutzutage. Respekt, das heißt in seiner Welt vor allem: Gehorsam. Und den habe die Jugend ja schon lange verloren. Doberschütz kommt seit 47 Jahren in diese Gemeinde, mindestens zweimal pro Woche, obwohl er schon seit neun Jahren mit seiner Frau in Rudow wohnt. Das sind 15 Kilometer. Ein Weg. Man könne den Wohnort wechseln, nicht aber die geistige Heimat, sagt Doberschütz.

Den Missbrauch wolle er nicht schönreden, keinesfalls. Wenn, und er sagt noch einmal ausdrücklich: Wenn da etwas passiert sein sollte, dann müssten die Täter auch zur Verantwortung gezogen werden. „Ich kann ja nicht Wasser predigen und Wein trinken.“ Dass in den Medien aber gleich wieder alle Geistlichen, ja alle Katholiken eigentlich miesgemacht würden, das sei schon ein starkes Stück. Außerdem: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Doberschütz mag diesen Bibelpop. Er sagt auch noch: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin.“ Er sagt das einfach so, weil er das Zitat kennt, nicht, weil es einen Anlass gibt.

Die Beweislast jedenfalls, die liege bei den Opfern, sagt er. Noch stehe schließlich Aussage gegen Aussage, und warum kommen die auch alle erst jetzt mit der Sache ans Licht? Er wirbelt seine Hände durch die Luft, als wolle er Fliegen verscheuchen. Immer wieder schüttelt er den Kopf, er wird rot, Verschwörung, alles hochgespielt, Medienkampagne! „Ich schmeiß mal den Begriff Trittbrettfahrer in die Diskussion“, sagt Doberschütz, „vielleicht gibt es ja irgendwo eine Entschädigung zu holen. Merken Sie was?“ Er will jetzt endlich Skat spielen, dafür sei er schließlich hier. Nicht zum Reden. Neben ihm, an der Wand, baumelt ein Rosenkranz mit pflaumengroßen Kugeln. Der sieht aus, als hätte ihn ein Riese hier vergessen.

In all seiner Hysterie hat Günter Doberschütz ein Wort fallen lassen, das in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals eine große Rolle einnimmt: Entschädigung. Wie kann wer, wie soll wer, wie muss wer entschädigt werden? Geld? Sühne? Entschuldigung?

Erst vor rund zwei Wochen hat die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer ihren Abschlussbericht vorgelegt. Sie war von den Opfern als unabhängige Expertin eingesetzt worden, um den Skandal parallel zu Ursula Raue und unabhängig von finanziellen Mitteln der Jesuiten zu untersuchen. Im Wesentlichen kommt Fischer zu den gleichen Resultaten wie Raue, auf eines aber weist sie entschiedener hin. Sie fordert von den Jesuiten „tätige Reue“. Mit anderen Worten: eine finanzielle Entschädigung – und zwar schnell und ohne länger auf die Verhandlungen am Runden Tisch der Bundesregierung zu verweisen.

Für viele Opfer, das sagt auch Ursula Raue, ist Geld aber überhaupt kein Thema. Die meisten hätten ja selbst genug davon. Entschädigung, das müsse jetzt vor allem auch bedeuten: die Einsicht des Ordens, dass eine ganze Institution versagt hat, nicht nur einzelne Männer.

Für Pater Mertes ist die Entschädigungsfrage in erster Linie eine religiöse. Er sei schon sehr überrascht gewesen, wie schnell konkrete Geldforderungen durch die Presse geisterten. Als könne Geld Wunden heilen. Er habe dadurch aber etwas begriffen, nämlich, dass augenscheinlich so eine Entschädigung nur dann als wertig empfunden werde, wenn sie der Täterseite wehtut. Mertes beschreibt das mit einer biblischen Metapher: das Vergießen von Blut als Zeichen der Versöhnung.

Phase eins sei die Aufklärung gewesen, sagt Mertes, Phase zwei sei nun ein Prozess, in dem der Orden auf die Opfer zugehen müsse, ohne übergriffig zu handeln oder bloß einfach nur das zu tun, was die Opferseite will, sagt Mertes. Sprich also: Sühne, nicht aufgedrängte Versöhnung. Alles Schritt für Schritt, eins nach dem anderen. Was dann Phase drei sei, das werde man sehen müssen, sagt Mertes. Beendet sei all das jedenfalls noch lange nicht. Es sei ja nicht einfach nur ein kleiner Einschnitt im Leben von ein paar Jesuiten. Dieser Skandal zog sich durch Klöster und Schulen, Internate und andere katholische Einrichtungen, er erschütterte deutschlandweit das Vertrauen in die Kirche. Auch in die evangelische. Erst vor knapp zwei Wochen trat die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen zurück, nachdem ihr vorgeworfen worden war, auf Missbrauchsvorwürfe gegen einen Pastor in Ahrensburg nicht angemessen reagiert zu haben.

Vom Saulus zum Paulus

Ein Gottesdienst in einer Pfarrkirche im Osten der Stadt, es ist Freitagabend und es ist nicht viel los, 25 Leute vielleicht, der Gesang kommt vom Band. Pfarrer R. predigt die Geschichte von der Bekehrung des Saulus. Das ist eine gute Geschichte. Weil sie so plastisch ist und sich fast auf jedes aktuelle Thema beziehen lässt. Ein Dauerbrenner sozusagen. Saulus, erbitterter Verfolger der Urchristen, erscheint auf seinem Weg nach Damaskus plötzlich Gottes Sohn, der ihn vom Christentum überzeugt. Vom Saulus zum Paulus. Nicht nur die Geburtsstunde einer Redewendung. Die Lehre aus dem Damaskuserlebnis, so R., sei, dass Jesus nicht die äußeren Umstände verändert habe. Er habe den Menschen verändert. Wenn es doch so einfach wäre, wie es klingt.

R. sitzt nach der Andacht in seiner Pfarrwohnung, Holzbalken an der Decke, rutschfester Linoleumboden, unzählige Bücher, ein Marsupilami aus Pappmaschee. Den langen, schmalen Oberkörper hat er vorgebeugt, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Sein feierliches Gewand hat er abgelegt, er trägt jetzt schwarze Jeans. Sonntags solle man vorbeikommen, sagt er, da sei es proppenvoll.

Ein Riesenknall sei der Missbrauchsskandal gewesen, hatte Pater Mertes gesagt.

Kommen seit diesem Riesenknall weniger Menschen in Ihre Kirche, Pfarrer R.?

„Nein.“

Haben diese Vorfälle denn Ihren Glauben beeinflusst?

„Es gab Momente, in denen ich mich distanzieren wollte von dieser Institution. Momente, in denen ich mich fragte: Zu dieser Kirche gehörst du? Aber dann fiel mir ein, wie viel Kraft ich immer wieder aus meinem Glauben, aus der Gemeinsamkeit geschöpft habe.“

Hat der Skandal direkte Auswirkungen auf Ihre tägliche Arbeit?

„Ich werde jedenfalls nie wieder auf einer Jugendkirchenfahrt alleine in einen Schlafsaal gehen, um Gute Nacht zu sagen.“

R. wiegt seine Worte sorgsam hin und her, seine Hände zittern jetzt leicht. Er will nichts Falsches sagen, aber er will auch nicht leugnen, dass ihm der Canisius-Skandal das Leben schwer macht. Und er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er sagt: Das sei ihm zu persönlich. Er meint: Das ist ihm zu heikel. Er will nicht als Nestbeschmutzer dastehen, so wie Pater Mertes. Dabei habe der einen Orden verdient für seinen Mut. Mertes sei ein Held, sagt R.

Mertes nennt diejenigen Helden, die gesprochen haben. Die Opfer. Was, fragt er, habe er auch tun sollen? Sich hinstellen und sagen: Da kann ich doch nichts dafür? Die Wut und der Zorn der Betroffenen brauchen einen Adressaten. Mertes hat sich zur Verfügung gestellt. „Alles andere“, sagt er, „wäre eine Fortsetzung des Missbrauchs gewesen.“

„Wir sind auch kulti“

Im Büro von Matthias Goy in Kreuzberg flimmert die Hitze wie in einem Western. Ein Scheinwerfer auf dem Fenstersims wirft gelbes Licht auf die St.-Michael-Kirche gegenüber. Es ist 18 Uhr, die Sonne hat sich schon zurückgezogen, heute Abend ist Stadtjugendmesse, und da soll der Betonkasten ja was hermachen. Die Temperaturen müsse man da eben mal in Kauf nehmen, sagt Goy. Eine Couch, zwei Sessel, Macbook auf dem Schreibtisch und Gott an der Wand. Gemalt von Michelangelo. Er reicht Adam seinen Zeigefinger.

Goy ist seit vier Jahren oberster Jugendseelsorger im Erzbistum Berlin und hat damit gerade in diesen Monaten den vielleicht wichtigsten Job in der katholischen Kirche. Er ist 35, schlank, sportlich, gut aussehend, jemand, der einen Schlag bei den Frauen hat – und der im Zölibat lebt. Ein überzeugter Katholik, der junge Katholiken überzeugen muss, auch in diesen Tagen noch überzeugt zu bleiben. Ein Exot.

So sieht er das natürlich nicht. Katholisch sein, das heißt für Goy: eine christliche Lebensperspektive haben. Werte vermitteln. Eine Form gelingenden Lebens in der Gemeinschaft führen. Goy sagt nicht Gemeinschaft, er sagt: Community. Und wer sei in einer Stadt wie Berlin schon ein Exot, wo doch hier alles so tolerant und multikulti ist? „Wir“, sagt er und meint die Katholiken, „sind eben auch kulti.“

Bevor er sich um die Jugend kümmerte, war Goy Kaplan in Schöneberg, in jener Gemeinde, in der Günter Doberschütz jeden Montag Skat spielt. Eigentlich habe er ja Priester in einer eigenen Ortskirche werden wollen, aber in der katholischen Kirche werde man nun mal nicht immer das, was man sich wünsche. Doch Goy mag seinen Job, er kommt viel rum, mit den jungen Menschen entstünden so viele neue Ideen. Und genau dazu ist die Jugendkirche ja auch da. Sie soll eine Art Zukunftslabor sein.

Matthias Goy weiß um die Bedeutung seines Jobs, und so versucht er gemeinsam mit den jungen Katholiken, Visionen zu entwickeln, „für Kirche heute und für Kirche morgen“. Da geht es auch um Präventionsstrategien, um die Selbstbestimmung der Jugend und um Offenheit im Umgang mit dem Thema Sexualität. Themen, die Jugendliche bewegen. Und die sie zu starken Menschen machen. Das Wichtigste sei doch: Reden, reden, reden – „das ist mehr, als Kirche heute oft tut. Sie schwimmt deshalb, weil sie zu wenig mit ihren Menschen kommuniziert“, sagt Goy. Das ärgert ihn. Gerade in einer Zeit, in der öffentlich so kontrovers über die Kirche diskutiert wird, müsse doch auch in der Kirche kontrovers diskutiert werden.

An Gottes Geist andocken

Draußen vor der Kirche stehen sie, die jungen Gläubigen, der Nachwuchs. Teenies mit Gelfrisuren und Dreadlocks, in Turnschuhen, Kapuzenpullis, Karohemden. 14-Jährige, 16-Jährige, 18-Jährige aus ganz Berlin, die hier mit Matthias Goy Gottesdienst feiern wollen. Das Motto: „You’ll never walk alone“, Schmusesong von Elvis Presley, Hymne an der Anfield Road in Liverpool, der Kathedrale des Fußballs. „Walk on, walk on with hope in your heart/And you’ll never walk alone.“ Wenn die Fans diesen Song dort im Stadion singen, fangen selbst gegnerische Fans ergriffen an zu weinen.

Drinnen, ein wenig später, liest ein Junge mit fester, klarer Stimme: „Geh weiter durch den Wind, geh’ weiter durch den Regen, auch wenn sie an deinen Träumen rütteln und zerren. Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ Fußballerromantik. Bibelromantik. Mannschaftskapitän Goy predigt Gemeinschaft, vielleicht, sagt er, fühlen wir uns manchmal allein, aber wenn wir uns an Gottes Geist andocken, werden wir nie alleine sein. Die Katholiken, so scheint es, haben gut daran getan, ihn zu verpflichten. Er wirkt wie einer, den jeder in seiner Mannschaft haben will.

Zu dieser Mannschaft gehören in Berlin derzeit 316.000 Menschen, und wer am 29. Juni in der St.-Hedwigs-Kathedrale war, der konnte glauben, dass an diesem Dienstag alle auf einmal gekommen waren. Bis nach draußen standen sie, um ihr lokales Kirchenoberhaupt zu feiern. 50 Jahre lang ist der Berliner Kardinal Sterzinsky nun schon Priester, ein goldenes Jubiläum, wie es nur die wenigsten Geistlichen erleben.

Deshalb waren sie auch alle gekommen, Bischöfe aus ganz Deutschland, der Apostolische Nuntius Erzbischof Jean-Claude Périsset, Weihbischof Wolfgang Weider, Pfarrer R., Priesteramtsanwärter Christoph Butschak, Jugendpfarrer Matthias Goy. Sie alle eskortierten Sterzinsky mit viel Weihrauch in die Kirche. Der segnete medienwirksam einen kleinen Jungen auf dem Arm seiner Mutter, sprach demütig von dem Amt, das er so sehr liebt: „Heute geht es nicht um mich, sondern um das Priestertum der Kirche, die das Wort Gottes in der Welt verkündet.“

Und dann ließ er sich feiern, mit Gesang und Gebeten und Lobpreisungen. Vom Missbrauch sprach er an diesem Tag nicht. Vielleicht hatte das Thema hier aber auch nichts zu suchen, vielleicht wollen es alle einfach nur vergessen, 161 Tage nachdem der Brief aus dem Direktorenzimmer des Canisius-Kollegs um die Welt ging. Bei all der ausgelassenen Stimmung konnte man jedenfalls glauben, die katholische Kirche habe kein Problem.

Pater Mertes war auch da an diesem Tag. Direkt nach der Messe sei er aber gegangen, sagt er. Nach Feiern ist ihm nicht zumute.