Der Fall Steinmeier verleiht einem alten Problem neue Aufmerksamkeit: In Deutschland werden zu wenige Organe gespendet. Dabei ist Abhilfe ganz einfach.
Die Operationen sind gut verlaufen: SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat seiner schwer erkrankten Frau Elke Büdenbender eine Niere gespendet, beiden Patienten soll es den Umständen entsprechend gut gehen.
Das ist keine Selbstverständlichkeit. Und selbstverständlich ist auch nicht, dass Steinmeier seiner Frau überhaupt eine Niere spenden konnte. Hätten Blutgruppe und Gewebemerkmale des Paares nicht zusammengepasst, wäre eine erfolgreiche Transplantation kaum möglich gewesen. Büdenbender hätte sich dann wohl einreihen müssen in die Warteschlange, in der sich Nierenkranke befinden, die auf eine postmortale Organspende hoffen. Lange Zeit wäre sie auf eine Dialysetherapie angewiesen gewesen. Vielleicht wäre sie dann noch am Leben, wenn sie in fünf oder sechs Jahren an die Reihe gekommen wäre und doch noch eine Spenderniere erhalten hätte. Vielleicht wäre sie aber während des Wartens gestorben – ein Schicksal, das allein in Deutschland schätzungsweise 1000 Kranken pro Jahr widerfährt.
Der Fall Steinmeier wirft ein Schlaglicht auf ein Problem, das zwar altbekannt ist, aber ungelöst bleibt und mit zunehmender demografischer Alterung größer wird. Weltweit werden nur zehn Prozent des Bedarfs an Spendernieren gedeckt, schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Hierzulande ist der Mangel nicht ganz so groß, doch im europäischen Vergleich schneidet Deutschland schlecht ab. Nur 15 Menschen je einer Million Einwohner werden nach dem Tod Organe entnommen – ein Anteil, der nicht einmal halb so hoch ist wie beispielsweise in Spanien.
„Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 347 Herzen transplantiert, Mitte der 90er-Jahre waren es noch doppelt so viele“, sagt Roland Hetzer, Ärztlicher Direktor am Deutschen Herzzentrum Berlin. „Zum Zuge kommen da nur noch solche Patienten, die als höchst dringlich gemeldet sind.“ In Hetzers Haus wurden im vergangenen Jahr 40 Herzen transplantiert. Weil es nicht mehr Spenderherzen gab, bekamen viermal so viele Patienten künstliche Herzpumpen, die bei Weitem nicht so gut funktionieren.
Handlungsbedarf ist also da. Und mit dem Fall Steinmeier könnte nach Jahren wieder Schwung in die Debatte um die Transplantationsmedizin kommen. Die „Morgenpost Online“ stellt daher Ansätze vor, wie mehr Kranke die dringend benötigte Niere, Leber oder Bauchspeicheldrüse bekommen könnten. Einige wären leicht einzuführen, ohne dass sie die Kosten des Gesundheitswesens erhöhen würden. Andere bringen ethische Zielkonflikte und juristische Fragen mit sich. Klar ist Fachleuten nur: Bessere Aufklärung allein wird nicht reichen. „Mit moralischen Appellen lässt sich das Problem nicht lösen“, sagt der Bayreuther Gesundheitsökonom Peter Oberender. „Daher gilt es, möglichst viele Ansätze zumindest auszuprobieren.“
Das Modell Niederlande. In den Niederlanden können sich Bürger in einem Spenderregister eintragen lassen – und verbindlich festlegen, ob sie bei einem Hirntod spenden wollen oder nicht. „Eine zentrale Erfassung der Organspender wäre ein Fortschritt“, sagt Herzzentrums-Direktor Hetzer.
Auch vielen Politikern gilt das Modell als vorbildlich. So hat das EU-Parlament die nationalen Regierungen aufgefordert, ihren Bürgern etwa bei der Reisepass-Erneuerung die Aufnahme in ein Spendenregister zu ermöglichen. Alternativ wird vorgeschlagen, die Bereitschaft zur Organspende auf Ausweis oder Führerschein eintragen zu lassen. Allerdings hat der holländische Weg nicht zu hohen Spenderraten geführt, sie liegen sogar unter dem deutschen Niveau. Das zentrale Problem: Die Teilnahme ist freiwillig.
Das Modell Spanien I: Deutschland und die Niederlande haben nach Auffassung vieler Experten nicht zuletzt deshalb eine geringere Spenderrate als Spanien, weil die Zustimmung zur Organspende restriktiver geregelt ist. Hierzulande gilt: Entweder der Verstorbene hat zu Lebzeiten einer Organentnahme zugestimmt – oder die Angehörigen entscheiden. In Deutschland hat aber nur etwa jeder siebte Erwachsene einen Organspendeausweis. Und rund 40 Prozent der Angehörigen von Hirntoten verweigern die Zustimmung zu einer Organspende, Tendenz: eher steigend.
Ganz anders in Spanien und vielen anderen Ländern. Dort gilt die „Widerspruchsregelung“: Organe können entnommen werden, wenn der Verstorbene dem nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hat. Auch das deutsche Ärzteparlament favorisiert diese Lösung: Der Ärztetag hat sich im Mai erstmals für „eine zeitnahe neue gesetzliche Regelung im Sinne der Widerspruchslösung“ ausgesprochen.
„Die Angehörigen eines Hirntoten stehen unter einem gewaltigen Druck“, sagt Karl Breu, der als Vorsitzender des Ärztlichen Kreisverbandes im bayerischen Weilheim-Schongau den Ärztetags-Beschluss initiiert hat. „Da kann ich es gut verstehen, wenn viele unter der gegenwärtigen Rechtsnorm eine Organentnahme verweigern. Bei der Widerspruchslösung dagegen ist der Ausgangspunkt bei Beratungsgesprächen ein ganz anderer.“
Ein weiterer Vorteil der Widerspruchsregelung sei der bessere Schutz von Organspendengegnern, sagt Hartmut Kliemt, ein Philosophieprofessor von der Frankfurt School of Finance & Management. Unter dem derzeitigen Regime demgegenüber sei „überhaupt nicht gesichert, dass ein Verstorbener, der gar nicht spenden will, verschont wird, denn an seiner statt kann seine Familie über die Organspende entscheiden“.
Das Modell Spanien II: Deutsche Krankenhäuser sind eigentlich verpflichtet, Hirntode zu melden – damit geprüft werden kann, ob der Verstorbene für eine Organspende in Betracht kommt. Tatsächlich aber melden viele Häuser nur sehr wenige Fälle oder sogar gar keine. Einer der Gründe dafür ist makaber: Krankenhäuser bekommen selbst für eine „Multiorganentnahme“ nur 3504 Euro – was nach Einschätzung von Praktikern die Kosten in vielen Fällen bei Weitem nicht abdeckt. „Jedes Krankenhaus, das einen Hirntoten für die Organentnahme weiterbehandelt, macht damit ein Verlustgeschäft“, sagt Bernd Metzinger, der Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).
Bei Hirntoten schlicht und einfach die Geräte abzustellen, spart den Krankenhäusern also Zeit und Geld. Eine großzügigere Kostenerstattung, wie es sie in Spanien gibt, würde sich mutmaßlich rentieren. Denn dann würden mehr potenzielle Organspender gemeldet – und die Zahl der Dialysetherapien, die im Durchschnitt 50000 Euro pro Jahr kosten, würde reduziert.
Spanien und zum Beispiel auch Frankreich setzen zudem in Krankenhäusern viel mehr unabhängige „Transplantations-Koordinatoren“ ein als Deutschland. Zahlreiche Praktiker versprechen sich viel von solchen Ärzten, die als unabhängige Instanz dafür sorgen sollen, dass die Vermittlung von Organspenden besser klappt. Es gibt aber auch Skeptiker: „Wir haben schon einige Versuche unternommen, die Organisation des Transplantationswesens zu verbessern“, sagt Eckhard Nagel, Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaft an der Universität Bayreuth und Mitglied des Deutschen Ethikrats. „Wirklich erfolgreich waren sie bisher alle nicht.“ Klar ist aber auch: Schaden würde ein vermehrter Einsatz von Koordinatoren wohl kaum.
Das Modell Israel: Schon vor mehr als 40 Jahren hat der Medizin-Nobelpreisträger Joshua Lederberg vorgeschlagen, die Spendebereitschaft durch eine Art Versicherung auf Gegenseitigkeit zu erhöhen, nach dem Motto: Bist du bereit, notfalls mir zu spenden, werde ich dir im Notfall spenden. Genau diesen Ansatz favorisiert auch der Frankfurter Philosophieprofessor Kliemt: „Menschen, die sich zu Lebzeiten zur Organspende bereit erklärt haben, sollten auch bevorzugt behandelt werden, wenn sie selbst einmal ein Organ brauchen.“
Mit einer Variante dieser Lösung versucht es jetzt Israel. Dort hat die Regierung vor einigen Monaten ein neues Anreizsystem beschlossen: Jeder Israeli, der sich seit mindestens drei Jahren per Spendeausweis verpflichtet hat, nach einem etwaigen Hirntod Organe zu spenden, soll selbst in medizinisch dringenden Fällen auf der Warteliste nach oben rutschen können.
Ein Nachteil für Menschen, die zum Beispiel aus religiösen Gründen selbst keine Organe spenden wollen, ist das nicht unbedingt, sagen die Befürworter des Modells. Denn wenn das neue System dazu führt, dass das Angebot deutlich steigt, könnten am Ende womöglich auch jene profitieren, die sich selbst verweigern. In Deutschland wird dieses Modell von Juristen als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft.
Das Modell Neuengland. Mit postmortalen Organspenden allein wird sich das Wartelisten-Problem der Nierenkranken kaum lösen lassen. Dafür sind Hirntode – die allein eine Organentnahme möglich machen – zu selten. Wirklich Abhilfe kann nur durch mehr Lebendspenden wie die von Frank-Walter Steinmeier geschaffen werden. Sie könnten zum Beispiel durch „Überkreuzspenden“ gefördert werden: Herr Müller spendet eine Niere für Frau Meyer, im Gegenzug spendet Herr Meyer zugunsten von Frau Müller. Dass der deutsche Gesetzgeber diese Alternative nicht ermöglicht, hält der Philosoph Hartmut Kliemt für „skandalös“.
Allerdings hat es sich in der Praxis, beispielsweise in den USA, für einzelne Paare als schwierig erwiesen, ein passendes anderes zu finden. Beraten von Al Roth, einem renommierten Wirtschaftsprofessor und Spieltheoretiker von der Harvard Business School, haben Krankenhäuser in Neuengland daher 2004 das New England Program for Kidney Exchange ins Leben gerufen. Das NEPKE besteht aus einer Datenbank, die in einem ausgeklügelten Prozess jeweils zwei oder sogar drei infrage kommende Paare zusammenbringt. In den vergangenen sechs Jahren wurden auf diese Weise 73 Nierentransplantationen organisiert. Nicht wirklich viele. Aber immerhin viel mehr als zuvor zustande gekommen waren.
Das Modell Iran: Ausgerechnet im Iran ist seit Jahrzehnten erlaubt, was fast überall sonst auf der Welt verboten ist: Nierenspender bekommen für Lebendspenden eine finanzielle Entschädigung. Kein westlicher Politiker traut sich an dieses Tabu heran, auch Mediziner sehen eine Grenzüberschreitung. „Kommerzielle Ausbeutung verweigert den gleichen Zugang und kann für Spender und Empfänger schädlich sein“, erklärt die WHO.
Wirtschaftswissenschaftler wie der Bayreuther Gesundheitsökonom Oberender dagegen verweisen darauf, dass eine Nierenspende für einen Lebenden, eine gute Nachsorge vorausgesetzt, mit nur geringen Risiken verbunden ist. Sie plädieren für eine sachte Lockerung des Organhandelsverbots – verbunden mit strikten Regulierungen.
So sagt Charles Blankart, Ökonomieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums: „Einem regulierten Markt für Organe stehen im Moment ethische Bedenken entgegen, aber wer diese Bedenken vorträgt, müsste meines Erachtens rechtfertigen, wie weit ihm Ethik wichtiger ist als die 1000 Menschen, die in Deutschland jedes Jahr sterben, weil sie kein Spenderorgan finden. Die Beweislast liegt bei denen, die den Handel verbieten, nicht bei denen, die ihn zulassen wollen.“
Auch finanzielle Anreize für postmortale Spenden haben Anhänger. Etwa Sally Satel, eine Forscherin vom American Enterprise Institute, deren eigenes Leben vor vier Jahren durch die Nierenspende einer Freundin gerettet wurde. Satel schlägt „Terminkontrakte“ vor: Jedem, der sich zu Lebzeiten als Spender meldet, könnte zum Beispiel für den Fall einer postmortalen Organentnahme garantiert werden, dass seine Hinterbliebenen die Bestattungskosten ersetzt bekommen. Oder eine gemeinnützige Organisation seiner Wahl erhält eine Geldspende.
Klar ist jedenfalls: Ein wie auch immer ausgestalteter Organhandel brauchte keineswegs auszuufern. Würden sich unter den 20- bis 60-Jährigen in Deutschland auch nur 0,07 Prozent zu einer Lebendspende bereit erklären, wäre das Problem mit der Warteschlange von Nierenkranken bereits gelöst.
Das Modell Singapur: Singapur hat kürzlich einen neuen Weg eingeschlagen: Nierenspender werden künftig für ihren Einsatz belohnt, doch dafür gibt es in erster Linie Sach- statt Geldleistungen. Für einen eventuellen Einkommensausfall erhält ein Lebendspender in dem südostasiatischen Stadtstaat umgerechnet bis zu 2900 Euro; vor allem aber bekommt er oder sie bestimmte Krankenversicherungsbeiträge erstattet – bis zu 85 Jahre lang.
Ein unmoralisches Angebot? Vielleicht. Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, sind sich jedoch weitgehend einig darin, dass sich eine moderne Gesellschaft wie Deutschland an dieser Stelle keine Denkverbote leisten darf. Der Essener Professor Stefan Felder, der beim deutschen Ökonomenverband Verein für Socialpolitik den Ausschuss für Gesundheitsökonomie leitet, drückt es so aus: „Kein Lösungsansatz sollte von vornherein ausgeschlossen werden.“