Wie hältst Du es mit den Wildschweinen? In manchen Berliner Vierteln kann diese Frage zu heftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Nachbarn führen. Peter L. hat nichts gegen Wildschweine, im Prinzip jedenfalls, wie er sagt. Er sei ein Tierfreund. Doch nun müsse etwas geschehen.
Peter L. ist von einem Wildschwein angegriffen worden, hat eine schwere Prellung am Knie und eine offene Fleischwunde davon getragen. Ob auch ein Knochen beschädigt sei, müsse noch genauer untersucht werden.
Es geschah in der Nacht. Peter L. führte seine Hündin Shun noch einmal nach draußen. Davon, dass sich Wildschweine auf dem Rasen vorm Haus tummelten, halbwüchsige Frischlinge vom vorigen Jahr, nahm er nicht weiter Notiz. Das ist alltäglich, vor allem aber allnächtlich hier am Rupenhorn oberhalb der Havelchaussee. Peter L. hielt seinen Hund an der Leine und machte einen großen Bogen um die Schweine, das heißt, er verhielt sich so wie ein vorbildlicher wildschweinerfahrener Berliner Bürger sich gegenüber den borstigen Mitbewohnern zu verhalten hat: Distanz halten, Konfrontation vermeiden, Ruhe bewahren. Nicht immer genügt das.
Peter L. stellte einen Strafantrag
Als Peter L. von seinem kurzen Spaziergang zurück kam, musste er am sogenannten Müllhaus vorbei, dem gemauerten Schuppen für die Abfalltonnen. Dort passierte es dann. Im Gebüsch neben dem Müllhaus steckte, von Peter L. unbemerkt, die Bache. Als er zwischen sie und ihre Jungen geriet, griff das Tier an. Es war nur ein Rempler, vielleicht ein Biss, es ging blitzschnell. Aber der Schreck sitzt Peter L. auch nach Tagen noch in den Knochen. Noch in der Nacht rief er die Polizei an. Die versprach zunächst, einen Streifenwagen zu schicken. Der kam dann doch nicht, wahrscheinlich weil die Polizei nicht wusste, zu was das gut sein sollte. Es bestand ja kein Anlass, das Wildschwein zu exekutieren. Für Prellungen und Bisswunden ist die Ambulanz zuständig.
Peter L. will die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Bei der Berliner Staatsanwaltschaft stellte er Strafantrag gegen die Berliner Forsten wegen fahrlässiger Körperverletzung und Vernachlässigung der Amtspflichten. Es scheint ihm selbst klar zu sein, dass er damit kaum Erfolg haben wird. Wilde Tiere sind juristisch gesehen herrenloses Gut. Niemand haftet für sie. An Haustüren und an Waldbäumen brachte Peter L. Warnzettel an, sauber bedruckte DIN-A-4-Blätter, eingeschlagen in Klarsichtfolie. "Warnung vor aggressiven Wildschweinen" steht darauf und "Achten Sie auf Ihre Kinder". Vorsicht sei vor allem in der Nähe von Müllhäusern geboten, dort entfernten sich die Muttertiere gern von ihren Frischlingen und griffen dann "aus dem Hinterhalt" an.
In Berlin bleibt nichts unkommentiert. Und so ist der Warnzettel an einem stark frequentierten Spazierweg schon dicht mit Anmerkungen versehen: "Es lebe die Wildsau!", "Wildschweine sind sooo lieb!", "Schweinehasser raus aus Westend!". Darüber ist Peter L. erschrocken. Er sei doch kein Schweinehasser, sagt er, er wolle nur verhindern, dass noch mehr passiert. Vor allem ältere Leute trauten sich bei Dunkelheit wegen der Wildschweine nicht mehr vor die Haustür. Es müsse in der Nachbarschaft unverantwortliche Wildschweinfreunde geben, welche die Tiere füttern, sie damit dauerhaft anlocken und ihnen die Scheu vor dem Menschen nehmen, obwohl die Wohnungsbaugesellschaft jedem Mieter, der Wildschweine füttert, mit fristloser Kündigung droht. Damit mag er recht haben. Zumindest ein notorischer Wildschweinfütterer treibt unten an der Havelchaussee immer noch sein Unwesen. Strafanzeigen und ein nach dem Berliner Jagdgesetz bei verbotener Wildfütterung angedrohtes Bußgeld von bis zu 5000 Euro bringen ihn nicht davon ab, regelmäßig mit dem Kofferraum voller Nudeln vom Wedding hierher zu kommen, um seinen Lieblingen ein Festessen zu bereiten.
Keine stabilen Zäune
Peter L. wohnt im letzten Haus der Straße Am Rupenhorn. Mitte der Siebzigerjahre entstand hier am Hochufer der Havel eine große Wohnanlage aus Terrassenhäusern, Sozialer Wohnungsbau im Villenviertel, architektonisch eigentlich ganz einfallsreich in die Landschaft eingepasst. Die Grünanlagen um die Häuser herum sind allerdings von den Schweinen vollständig umgepflügt. Geld für stabile Zäune mag die Eigentümerin, die Deutsche Annington Immobilien GmbH, offenbar nicht in die Hand nehmen. So wird das Sackgassenende der Villenstraße Am Rupenhorn nach und nach ein bisschen unansehnlich.
Man kann, wenn man diese Straße entlang schlendert, sich trefflich Gedanken machen über das Verhältnis von Stadt und Natur. Der Architekt Erich Mendelsohn errichtete sich hier Anfang der Dreißigerjahre eine Villa im Bauhausstil, ein lichtes Gebäude, welches die Havellandschaft ins Innere hinein holt. Auch Bruno Paul und die Brüder Luckhart bauten hier und legten Landschaftsgärten an. Heute stehen diese Ensembles unter Denkmalschutz. Aus grauer Städte Mauern zogen die Baumeister des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit hinaus in die märkische Kulisse aus Wald und Wasser. Sie folgten einem ästhetischen und lebensreformerischen Antrieb. Dass die Natur in Gestalt gefräßiger Wildschweine in ihren Visionen eine Rolle spielte, muss man bezweifeln.
Die Natur als Gegenwelt zur Stadt - das hat lange die Wahrnehmung des Verhältnisses von Stadt und Natur bestimmt. Nun kehrt sich die Perspektive um. Die Stadt selbst erweist sich als Naturraum, der von ausgesprochener Artenvielfalt geprägt ist. Viele Tierarten finden hier Nischen, die ihnen draußen in der Agrarlandschaft nicht mehr geboten sind. Für Ornithologen ist Berlin längst zum Mekka geworden. Es brüten hier mehr Nachtigallen als in ganz Bayern. Wanderfalken machen Jagd auf Stadttauben und die Vogelschwärme, die in der Zugzeit die Stadt queren. Füchse gehören selbst im Zentrum zum Stadtbild.
Das alles ist erfreulich, zeigt es doch, dass die Natur sich nicht an die romantischen Schablonen hält, die wir oft noch im Kopf haben, und robuster ist, als bekümmerte Naturschützer glauben. Die Berliner Wildschweine sind allerdings ein Beispiel dafür, dass die enge Nachbarschaft von Menschen und Wildtieren auch zu Konflikten führen kann. Wildschweine sind groß, gefräßig, wehrhaft und mit einer gewaltigen Fortpflanzungsfähigkeit gesegnet. In der Stadt ist ihnen der Tisch reich gedeckt. In gepflegten und gewässerten Gärten und Parks, in Kleingärten mit Komposthaufen, in Mülltonnen finden sie mehr zu fressen als in ihrem angestammten Waldlebensraum. Jedenfalls ist die Nahrungssuche in der Stadt weniger mühsam. Und gejagt werden sie hier nur in Ausnahmefällen.
Zuständig sind dafür in Berlin ehrenamtliche Stadtjäger. Sie müssen, bevor sie zur Büchse greifen, von den jeweiligen Grundstückseigentümern eine Genehmigung einholen. Das ist umständlich und macht die Stadtjagd zu einem nicht allzu effektiven Instrument der Wildschwein-Reduktion. Immerhin sind jedoch im vergangenen Jagdjahr fast 500 Wildschweine im Stadtgebiet geschossen worden, ein Drittel der Berliner Gesamtstrecke. 1000 Wildschweine kamen in den Berliner Forsten und auf Agrarflächen zur Strecke. Im laufenden Jagdjahr, das zeichnet sich schon ab, wird die Gesamtzahl der erlegten Wildschweine wesentlich höher sein.
Man könnte allerdings, selbst wenn man das wollte, die Wildschweine mit Pulver und Blei nicht mehr aus der Stadt vertreiben. So sieht es Marc Franusch, Pressesprecher der Berliner Forsten. In der Wildschweinpolitik der Stadt liegt der Schwerpunkt nicht auf Eindämmung, sondern auf Entspannung. Man will die Nachbarschaft von Mensch und Schwein moderieren. Das schließt den Abschuss von Problemtieren, die aggressiv sind und jede Scheu vor dem Menschen verloren haben und eine scharfe Bejagung des Schwarzwildes in den Forsten ein. Doch ändere das nichts daran, dass sich die Bürger mit den Wildschweinen in ihrer Nachbarschaft arrangieren müssten. Insgesamt funktioniere das in Berlin geradezu beispielhaft. Wildschweinattacken auf Menschen seien extrem selten. Franusch kann sich überhaupt nur an einen einzigen Fall erinnern. Vor einigen Jahren wurde in Rahnsdorf ein Mann von einer Bache derart gebissen, dass ein längerer Aufenthalt im Krankenhaus nötig war.
Kampagnen gegen Wildschweinhasser
Umso mehr interessiert ihn nun der neue Fall des Peter L. Franusch hat eine Vermutung, der er nachgehen will. Es könnte sein, dass die Bache, die Peter L. angriff, gar nicht ihre halbwüchsigen Jungen vom Vorjahr beschützen wollte, sondern in dem Gebüsch beim Müllhäuschen den Kessel, das Wurflager, für eine neue Wildschweingeneration vorbereitete oder dort gar schon kleine, gestreifte Frischlinge hatte. Im Frühjahr nämlich, wenn die Bachen hochträchtig sind, lockern sich die Bindungen der Mutterfamilien. Die Bachen sondern sich ab und dulden allenfalls noch ältere weibliche Nachkommen in ihrer Nähe.
Wenn also Peter L. das Pech hatte, allzu sehr in die Nähe einer frischen Wildschwein-Kinderstube geraten zu sein, dann müssen Maßnahmen ergriffen werden. Man hat in Berliner Vorgärten Wurfkessel schon mit Flatterband eingehegt und Warntafeln aufgestellt. Wenn die Frischlinge herangewachsen sind, kann man, so Franusch, auch versuchen, der Wildschweinfamilie durch Vergrämungsmaßnahmen einen Wohnsitzwechsel nahe zu legen. Ärgerlich machen ihn die Kommentare auf Peter L.s Warnzetteln. Bürger, die sich Sorgen machen, dürften nicht als Wildschweinhasser diffamiert werden. Übertriebene Wildschweinliebe, Sorglosigkeit oder gar das Füttern seien für das Zusammenleben von Mensch und Sau gefährlicher als gesundes Misstrauen.
Peter L. hat nichts falsch gemacht. Er hat sich richtig verhalten. Er hatte Pech. Mit einem gewissen Restrisiko werden die Berliner sich wohl abfinden müssen.