Stadtnatur

Warum die wilden Tiere nach Berlin ziehen

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Wildschwein, Steinschmätzer und Nachtigall immer öfter in der Stadt anzutreffen sind. Füchse mitten in Berlin gehören schon fast zur Normalität. Dafür gibt es Gründe, rückgängig zu machen ist die Entwicklung wohl nicht. Doch die Städter müssen in Sachen Stadtnatur noch einiges lernen.

Natur und Kultur, Wildnis und Zivilisation, Land und Stadt – im europäischen Denken bilden diese Begriffe Gegensatzpaare. Wo das eine ist, kann das andere nicht sein. Dieses Denkmuster findet sich auf den Höhen der Philosophie ebenso wie in den Niederungen der Fremdenverkehrswerbung. Wer ein Wochenende in Berlin verbringt, bekommt „Kultur pur“ geboten, ab 75 Euro pro Person. Passt ihm das nicht, kann er ja in die Uckermark fahren. Die lockt mit „Natur pur“. Die Sehnsuchtslandschaft des Kulturtouristen besteht aus Museen, Theatern, Kinos und Cafés, in denen er in der Nähe leibhaftiger Dichter und Fernsehansager seinen Latte macchiato schlürfen kann. In dieses Szenario genussvoller Urbanität passen als tierische Bestandteile allenfalls der eine oder andere exzentrische Hund, ein paar Spatzen, Stadttauben und die Droschkenpferde auf dem Pariser Platz, die aber so richtig populär nicht werden wollen. Der Rotfuchs, der sich den Potsdamer Platz zum Revier auserkoren hat, die Wanderfalken, die im Turm des Roten Rathauses brüten, die Wildschweine, die Supermärkte und Schulpausenhöfe belagern, sie passen nicht ins Bild – oder besser: Sie passten nicht ins Bild.

Denn mittlerweile hat sich einigermaßen herumgesprochen, dass auch wilde Tiere die Vorzüge des Stadtlebens zu schätzen wissen, nicht nur in Berlin. Aber in Deutschland war es nun einmal die deutsche Hauptstadt, die nach dem Fall der Mauer und vor allem nach dem Umzug der Politik vom Rhein an die Spree im Fokus des öffentlichen Interesses stand. Und diesem Blick zeigte sich etwas Zweifaches: Er fand „Geschichtslandschaft“ aber auch „Stadtnatur“, beides faszinierend, reichhaltig, voller Gegensätze und Brüche. In der Selbstdarstellung Berlins haben beide Begriffe, die im vergangenen Jahrzehnt in den allgemeinen Sprachgebrauch eingingen, einen festen Platz. Und das deutsche Feuilleton beschäftigt sich etwa seit der Jahrhundertwende nicht nur mit dem einen, sondern hin und wieder auch mit dem anderen, nicht also nur mit Museen und Mahnmalen, sondern auch mit dem Naturwunder Berlin. Der Biologe und Philosoph Cord Riechelmann („Wilde Tiere in der Großstadt“, 2004) ist ein Pionier des großstädtischen Natur-Feuilletons.

Es ist also an der Zeit, die eingangs aufgeführten Dichotomien zu relativieren. Kultur- und Naturgeschichte sind so deutlich geschieden nicht. Man darf Stadt und Verstädterung nicht nur als „Naturzerstörung“ betrachten, wie das im konservativen Naturschutzdenken tief verwurzelt ist. Konrad Lorenz bezeichnete Städte noch als „Krebsgeschwüre“. Großstädtisches Leben entfremde den Menschen sich selbst und der Natur, lautet seine Botschaft. Eine ganze Generation verknüpfte in der Folge Alexander Mitscherlichs die Stadt mit „Unwirtlichkeit“. Das Maß des Humanen suchten und suchen immer noch viele in einer bäuerlich und dörflich geprägten Vergangenheit.

Für Wölfe ist reichlich Platz in Deutschland Jetzt aber schlägt das Pendel in die andere Richtung, ja ins andere Extrem aus. Die Großstadt erscheint als Refugium der Artenvielfalt, das Land als agrarischer Artenfriedhof. In der Einleitung zu Florian Möller Buch „Wilde Tiere in der Stadt“ schreibt der Münchner Zoologe Josef H. Reichholf: „Die Bilanzen fürs ganze Land drücken daher ganz klar aus: Die Artenvielfalt schwindet! Wie sähe es aber aus, wenn die Städte wirklich so unwirtlich gewesen und geblieben wären, wofür man sie gehalten hatte? Zum Glück sind sie anders, zum Glück für Mensch und Natur!“

Reichholf kann für die ökologische Rehabilitierung – oder überhaupt erst Habilitierung – der Stadt eine Menge Fakten anführen, die immer noch verblüffen. Wenn im Frühjahr die ersten Bruten flügge geworden sind, leben in Berlin etwa zehn Millionen Vögel, die gefiederte Einwohnerschaft macht also ein Dreifaches der menschlichen aus. Zwei Drittel aller in Mitteleuropa heimischen Vogelarten kommen auch in der deutschen Hauptstadt vor, 140 Brutvogelarten werden dort gezählt. Besonders gut haben Biologen der Freien Universität die Berliner Nachtigallen untersucht, von denen es in der Stadt ungefähr ebenso viele gibt wie in ganz Bayern, nämlich etwa 1000 Paare. In den städtischen Parks leben sie in einer Dichte, die man von der offenen Landschaft nicht kennt. Den 90 Hektar großen Treptower Park teilen sich 20 bis 30 Paare. Den Stadtnachtigallen gefällt offenbar die vielfältige, kleinräumige Struktur der Parks und Friedhöfe mit dichten Hecken, offenen Wiesen, kleinen Teichen und Wasserläufen, mögen die noch so künstlich sein.

Dem Steinschmätzer haben es stillgelegte Gleisanlagen angetan, wo er zwischen Schutthalden und alten Bahnschwellen brütet. Auch in der Nähe des neuen Hauptbahnhofes findet man ihn. Er ist ein typisches Beispiel dafür, dass in Großstädten Lebensräume entstehen können, wie man sie sonst meist fern menschlicher Kultur findet. Der Steinschmätzer wird als Bewohner von Gebirgs- und Küstenlandschaften beschrieben, von Gegenden also, in denen jedenfalls kein intensiver Ackerbau betrieben wird. Auch auf den Stadtbrachen wird weder gepflügt noch geeggt, vor allem aber wird nicht gedüngt. Die Magerkeit der Stadtbrachen zieht Pflanzen und Insekten an, die aus der Agrarlandschaft verdrängt sind. Und nicht zuletzt sind alte Gleis- oder Fabrikanlagen Zonen der Ruhe mitten im Getümmel. Selten kommt dort ein Mensch hin, was man von Almen und Steilküsten nicht sagen kann.

Für einen Teil der tierischen Einwanderer bietet die Stadt also die „bessere“ Natur. Dass manche Menschen das mit ihrem ästhetischen Naturverständnis schwer in Einklang bringen können, stört sie nicht im Mindesten.

Ein wenig anders sieht die Sache bei jenen Arten aus, die man als Opportunisten bezeichnen kann. Zu ihnen gehören auch die spektakulären Stadtbewohner Fuchs und Wildschwein. Sie kommen nicht in die Stadt, weil es ihnen draußen in Feld und Flur zu eng wird. Die Bestände beider Arten sind in den vergangenen Jahrzehnten in Europa sprunghaft gewachsen. Auch intensive Jagd konnte diese Populationsdynamik nicht umkehren. Das Wildschwein mästet sich an den Früchten der Turbo-Landwirtschaft, der Fuchs findet überall Mäuse und verschmäht darüber hinaus nichts, was ihm halbwegs verdaulich erscheint. Sie suchen in der Stadt also keine Nische, sondern zusätzliche Ressourcen. Durch Lernen und Gewöhnung können sie zu Stadtfüchsen und Stadtschweinen werden.

An diesem Prozess ist der Mensch wesentlich beteiligt. Wie soll der Städter mit den wilden Tieren in seiner Nachbarschaft umgehen? Die letzten Hasen- und Hühnerställe in städtischen Wohnquartieren sind längst verschwunden. Und was in den vorstädtischen Gärten wächst, ist fürs Auge, nicht für den Magen.

Materielle Gründe, den tierischen Migranten den Krieg zu erklären, gibt es also nicht. Muss man sie aber gleich hätscheln, füttern und sich von ihnen, wie man das bei sommerlichen Picknick-Szenen etwa am Wannsee beobachten kann, terrorisieren lassen?

Fuchs Wildschwein Wildtiere Artenvielfalt Grünanlagen Es sind die Städter, die in Sachen Stadtnatur noch einiges lernen müssen, zum Beispiel dass wilde Tiere auch in der Stadt wilde Tiere bleiben, denen man mit Vorsicht und Respekt zu begegnen hat. Da gibt es einfach noch zu wenig Kultur im Umgang mit der Natur.