Schäden

Über das Für und Wider der Wildschweinjagd

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Eckhard Fuhr

Foto: Alex Trebus

Wildschweine vermehren sich rasant und richten Verwüstungen an. Schon wird nach der Bundeswehr gerufen. Aber erst einmal wird auf die Jagd gegangen - auch in Berlin.

Es geht nicht immer so leicht: Als ich auf den Hochsitz kletterte, saßen die Schweine schon im Schnee und dösten, vier halbwüchsige Frischlinge. Sie schienen sich nicht an mir zu stören. Ich nestelte eine Patrone aus meiner Jackentasche und lud mein Gewehr. Da wurden sie aufmerksam. Eines löste sich aus der Gruppe und hielt misstrauisch den Rüssel in den Wind. Das schoss ich tot.

Der Rest der Rotte verschwand in der Nacht. Wenn die ehemaligen Rieselfelder von Berlin-Pankow nicht verschneit gewesen wären und der Mond nicht hell am Himmel gestanden hätte, dann hätte ich die Schweine wahrscheinlich nicht rechtzeitig bemerkt. Ich rechne lieber nicht aus, wie viele Stunden Jagdzeit mich diese Beute gekostet hat.

Etwa eine halbe Million Wildschweine werden zurzeit jährlich in Deutschland geschossen. Veranschlagt man für jedes – das ist wahrscheinlich noch zu optimistisch – fünf Stunden, kommt man auf zweieinhalb Millionen Jagdstunden. Wer wollte die bezahlen, wenn man sie bezahlen müsste?

Mein Schwein ist ein Schweinchen. 17 Kilo wog es aufgebrochen, also ohne Innereien. Den Rücken gab es an Heiligabend, butterzart. Das „Schwarzwildproblem“ aber ist mit seinem Tod nicht gelöst. Mein Wildschwein ist eines von 90, die in diesem Jagdjahr, also seit dem 1. April, allein in der Berliner Revierförsterei Blankenfelde erlegt wurden.

Jäger sind keine Krieger

Und trotzdem sehen die Wiesen hier an vielen Stellen so aus, als wären sie umgefräst. Wenn die großen Maisschläge am Berliner Stadtrand geerntet werden, dann machen sich aus ihnen ganze Schweineherden davon. Die Jäger schießen das eine oder andere, manchmal sind es viele, aber noch mehr entkommen. Jäger sind keine Krieger. Aber im Zusammenhang mit dem Schwarzwild fällt das Wort Krieg immer öfter. Was ist da los?

Wildschweine sind zum Politikum mit Dauerpräsenz in den Medien geworden. Da randalieren ganze Rotten in Supermärkten und verenden im Kugelhagel von Polizeipistolen. Hunde sind in stadtnahen Wäldern ihres Lebens nicht mehr sicher, Vorgärten werden zur Schweine-Kinderstube, Kindertagestätten müssen geschlossen werden, weil Überläufer sich in den Sandkästen vergnügen.

In den Städten wird gejagt

Vor wenigen Jahren noch undenkbar, wird heute auch, diskret zwar und im Schutze der Nacht, in den Städten gejagt, in den, wie es juristisch so schön heißt, eigentlich „befriedeten“ Bezirken.

Doch was in den Städten vorgeht, in die nicht nur Wildschweine, sondern auch andere Wildtiere zunehmend einwandern, weil ihnen hier der Tisch reich gedeckt wird, ist nur ein Nebenaspekt dessen, was mit dem Wort „Wildschweinproblem“ bezeichnet wird. Seine politische Brisanz entfaltet es auf jenen rund 80 Prozent der Landesfläche, die land- oder forstwirtschaftlich genutzt werden.

Würde die Politik den Forderungen mancher Bauernfunktionäre oder etwa der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands folgen, die ein Überspringen der Schweinepest in ihre Ställe fürchtet, müsste ich mich als Jäger total umstellen. Ich sähe dann etwa so aus wie ein Angehöriger eines KSK-Kommandos in Afghanistan. Nachtsichtgerät und Laservisierung wären das Mindeste.

Einsatz der Bundeswehr gefordert

Statt Maiskörnern für die Lockfütterung müsste ich Antibabypillen in der Tasche mitführen und sie an den Lieblingsplätzen der Sauen verteilen. Und für den Nahkampf bräuchte ich ein langes Messer oder eine Pistole, denn auch die Wildschweine, die in großen Käfigfallen gefangen werden sollen, müssten ja irgendwie ums Leben gebracht werden.

Heute kann man solche Vorstellungen noch als Extremismus abtun. Aber wenn durch die herkömmliche Jagd das rapide Wachstum der Wildschweinbestände nicht eingedämmt werden kann, werden sie auf die politische Tagesordnung kommen. Sogar der Einsatz der Bundeswehr ist schon gefordert worden.

Die Zahl der Jagdstrecke steigt

Man muss sich einige Zahlen vor Augen führen, um die Dimension des Problems zu erkennen. Vor 80 Jahren betrug im gesamten deutschen Staatsgebiet, also auf einer Fläche, die um etwa ein Drittel größer war als die der heutigen Bundesrepublik, die Schwarzwild-Jagdstrecke, die Zahl der erlegten Schweine, nur ein Zehntel der heutigen.

Auch in der Bundesrepublik und der DDR wurden bis Ende der 60er-Jahre zusammen nie mehr als 50.000 Wildschweine geschossen. Dann ging es in großen Schritten nach oben. Mitte der 70er-Jahre wurde die Hunderttausender-Marke erreicht, Ende der 80er hatte sich die Strecke verdoppelt, Anfang der 90er-Jahre lag sie bei 300.000, zur Jahrtausendwende bei 400.000, schon im darauffolgenden Jahr wurde die halbe Million erreicht. Im Jagdjahr 2008/09 schossen die Jäger 646.790 Sauen.

Damit kam das Schwarzwild zum ersten Mal in die Nähe der Rehwildstrecke, die seit Jahren stabil bei einer Million liegt. Dazwischen gab es Einbrüche, etwa nach dem strengen Winter 2005/06. Aber nach solch natürlichen Ereignissen explodierten die Bestände immer wieder aufs Neue. Die jährliche Reproduktionsrate einer Schwarzwildpopulation liegt bei 200 bis 300 Prozent des Ausgangsbestandes.

Die Ursachenforschung für die Schwarzwild-Explosion ist noch nicht abgeschlossen. Aber zwei Hauptfaktoren lassen sich doch ausmachen: Klima und Landwirtschaft. Auch wenn in diesen Tagen der Blick aus dem Fenster andere Gedanken aufkommen lässt, muss man doch feststellen, dass die beiden vergangenen Dekaden von ausgesprochen warmen Wintern geprägt waren.

Das hat die Sterblichkeit neu geborener Frischlinge im zeitigen Frühjahr stark reduziert. Auch auf die Vegetation hat die Wärme Auswirkungen – verbunden mit dem Stress durch Umweltbelastungen. Früher standen, wie der Förster sagt, Buchen und Eichen nur alle vier oder fünf Jahre voll in der Mast, brachten also ein Optimum an Früchten.

Heute ist das fast in jedem Jahr der Fall. Der Wald ist mithin durchgehend Wildschwein-Schlaraffenland. Viel mehr gilt das aber noch für die Felder. Zum Mais sagen die Jäger Schweineglück. 1960 wuchs dieses Glück in Deutschland auf 50.000 Hektar, 1970 auf 400.000, 1990 auf 1,6 und heute auf zwei Millionen Hektar, Tendenz ebenso steigend wie die Zahl der Biogasanlagen.

Rapsfelder bieten Unterschlupf

Eine ähnliche Entwicklung nahm der Rapsanbau. Den Raps schätzt das Wildschwein fast so wie den Mais. Die bewirtschafteten Felder wurden immer größer, die Jagd in diesen Agrardschungeln ist schwierig bis unmöglich. Vom Frühjahr bis zum späten Herbst bieten sie dem Schwarzwild Unterschlupf und Nahrung.

Hubschrauberflüge über die Felder lassen manchen Landwirt blass werden beim Blick auf die Verwüstungen in ihrem Inneren. Heiß umstritten ist die Relevanz eines dritten Faktors: der Jagd selbst. Vor allem Jagdgegner behaupten, die Jäger seien schuld am Schwarzwildproblem, es sei „hausgemacht“, denn die wüste Ballerei stachele die Vermehrung der Schwarzkittel überhaupt erst an.

Weibchen synchronisieren Zyklus

Dahinter steht eine wildbiologische Hypothese, die allerdings wissenschaftlich nicht bewiesen ist. Sie besagt, dass die Leitbachen einer Rotte, also die ältesten weiblichen Tiere eines Familienverbandes, die Reproduktion kontrollieren, indem sie jüngere Weibchen an der Fortpflanzung hindern. Bei anderen sozial lebenden Arten, wie zum Beispiel Wölfen, ist das erwiesenermaßen der Fall.

Im Bezug auf Wildschweine ist dies aber wohl Wunschdenken. Es gibt Beobachtungen, dass die Leitbachen den Zyklus aller weiblichen Tiere ihres Verbandes synchronisieren – alle Weibchen also ungefähr zur gleichen Zeit ihre Jungen bekommen.

Prinzipien müssen überdacht werden

Dafür, dass sich lediglich die Leitbache fortpflanzt, gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte und damit auch keine Grundlage für die Forderung, die Wildschweine einfach in Ruhe zu lassen, weil sich dann alles von selbst regele. Die Art reagiert auf für sie optimale Umweltbedingungen mit optimaler Fortpflanzung.

Selbst weibliche Frischlinge im Alter von wenigen Monaten sind daran in erheblichem Umfang beteiligt und scheren sich um die Autorität von Leitbachen keinen Deut. Die Forderung kann also nicht lauten: „Schluss mit dem Wildschwein-Massaker!“ Sondern sie muss heißen: Noch effektiver jagen. Das stößt sich allerdings mit tief verwurzelten Einstellungen konservativer Jäger.

Nachvollziehbar ist, dass sie die Jagd nicht zur Schädlingsbekämpfung degenerieren lassen wollen. Aber manche ehernen Prinzipien der überkommenen Waidgerechtigkeit müssen doch überdacht werden. Solange es als „unwaidmännisch“ gilt, Bachen zu erlegen – sie könnten ja trächtig sein –, wird es keine jagdliche Lösung des Schwarzwildproblems geben.

Traditionen überdenken

Nach dem Bundesjagdgesetz ist es eine schwere Straftat, ein weibliches Tier zu schießen, das abhängige Junge hat. Dabei muss es bleiben. Aber warum soll bei Wildschweinen der Abschuss trächtiger Tiere ein Frevel sein, wenn er doch etwa bei Reh- und Rotwild die Regel und gefordert ist?

Rehgeißen und Hirschkühe sind immer trächtig, wenn sie im Spätherbst oder Winter, ihrer Hauptjagdzeit, geschossen werden. Und weibliche Wildschweine sind es auch fast immer, sobald sie das gestreifte Frischlingskleid abgelegt haben. Wer aber die Reproduktionsdynamik einer Population brechen will, der muss, so grausam es klingt, ihre Träger dezimieren. Und das sind nun einmal die Weibchen.

Die Wildschweinjagd muss sich von Vorstellungen traditioneller Hege lösen. Es kann heute nicht mehr darum gehen, den „reifen Keiler“ ins Zentrum jagdlicher Wünsche zu rücken.

Wer an Trophäen denkt, hat nichts verstanden

Wer angesichts der ausufernden Wildschweinbestände zu allererst an Trophäen denkt, wer fürchtet, er könne bald zu wenige Wildschweine im Revier haben und deshalb die erlaubten Lockfütterungen zu verbotenen kalten Buffets ausbaut, der hat nicht verstanden, um was es geht. Der nächste größere Zug der Schweinepest könnte das Ende des traditionellen Waidwerks auf das Schwarzwild bringen.

Es geht dabei um Politik. In der Revolutionszeit von 1848 waren es vor allem Felder verwüstende Wildschweine, die das Landvolk gegen die adeligen Jagdprivilegien auf die Barrikaden trieben.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg, als in West und Ost die Wildschweine die ohnehin riesigen Ernährungsprobleme noch verschärften, ließen die Besatzungsmächte zum ersten Mal wieder Schusswaffen in deutschen Händen zu, um dieser Plage zu begegnen. Jagd ist nämlich nach dem Gesetz ein öffentlicher Auftrag.

Vor allem bei der Wildschweinjagd sollten sich die Jäger von dem Gedanken verabschieden, es gehe hier vor allem um ihr Vergnügen. Die Freude stellt sich von ganz allein ein, wenn der Frischlingsrücken in der Pfanne schmurgelt.