„2010 Death-Parade“ hat Harry mit weißer Farbe auf sein schwarzes T-Shirt geschrieben, „im ehrfürchtigen Gedenken an die 21 Todesopfer“. Mit etwa 2600 weiteren Trauergästen ist der 33-Jährige an diesem Samstag ins Duisburger Fußballstadion gepilgert, in das der Gedenkgottesdienst für die Loveparade-Opfer übertragen wird. „Wenn ich ehrlich bin, dann bin ich hier auf der Suche nach ein bisschen Absolution“, sagt Harry. Vor einer Woche hat der Raver aus Münster mitgefeiert auf der Techno-Party am alten Duisburger Güterbahnhof – noch nachdem bei der Massenpanik im Zugangstunnel Menschen gestorben waren. „Wir haben da oben getanzt, wir wussten ja von nichts.“
Harry schaut hinauf die Anzeigentafel in der MSV-Arena, auf der die ersten Bilder von der Trauerfeier aus der Salvatorkirche in der Innenstadt zu sehen sind. Als der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Nikolaus Schneider in der Kirche zur Predigt anhebt, stehen vielen Menschen im freilich nur spärlich besetzten Stadion die Tränen im Gesicht. „Die Loveparade wurde zum Totentanz“, sagt Schneider. In der 30.000 Zuschauer fassenden MSV-Arena herrscht in diesem Augenblick Totenstille.
Genau eine Woche nach dem Loveparade-Desaster nehmen die Duisburger und ihre Besucher in der Salvatorkirche und der Arena Abschied von den 21 Toten und gedenken auch der mehr als 500 Verletzten, von denen einige immer noch in Krankenhäusern behandelt werden müssen. Um 10.45 Uhr läuteten zum Auftakt die Totenglocken in allen christlichen Kirchen der Ruhrgebietsstadt. Ein Kondolenzbuch und Kerzen aus dem Unglückstunnel am Loveparade-Gelände wurden in die Salvatorkirche gebracht, weitere 21 Kerzen werden dort während des ökumenischen Gottesdienstes von Helfern und Angehörigen entzündet – eine Kerze für jedes Todesopfer der Massenpanik.
„Trauer und Verzweiflung, Hilflosigkeit und Wut halten uns wie Ketten gefangen“, sagt Schneider in seiner Predigt vor den Gottesdienstbesuchern, darunter Bundespräsident Christian Wulff und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Der EKD-Ratsvorsitzende spricht auch von „Wut“ und dem Zorn vieler Menschen darüber, dass bislang niemand die moralische und politische Verantwortung für die Tragödie übernommen hat – vor allem Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) steht deswegen seit Tagen in der Kritik.
Noch einmal spielt das Thema Wut eine Rolle in dem Gottesdienst: In den Fürbitten, verlesen von Helfern und Angehörigen, bittet ein Notfallseelsorger um „Klarheit und Wahrhaftigkeit, um die Ursachen des Unglücks aufzudecken“. Doch zugleich warnt der Priester vor übereilten Schuldzuweisungen: „Bewahre uns alle davor, Menschen vorschnell zu verurteilen, damit Wut und Zorn nicht die Stadt regieren.“
Im Duisburger Fußballstadion ist von Wut nichts zu spüren am diesem Samstagmittag. Die Menschen wollen trauern: Während der Übertragung aus der Salvatorkirche nehmen sich auf den Rängen immer wieder Stadionsbesucher in den Arm, andere blicken in sich versunken auf die Übertragungsschirme, und vor allem junge Arena-Besucher können die Tränen nicht zurückhalten. Wie in der Kirche haben die Organisatoren im Stadion 21 Kerzen aufgestellt – auf einem großen schwarzen Kreuz, das am Anstoßpunkt des Fußball-Spielfeldes liegt.
Die Veranstaltung im Stadion sollte kein Public Viewing werden, hatten sich die Kirchenvertreter zuvor gewünscht, sondern die Übertragung eines Gottesdienstes. Die Menschen in der Arena haben diesen Hinweis ganz offenbar verstanden. Harry aus Münster verfolgt die Bilder aus der Salvatorkirche von einem Stehplatz im Stadion aus. In Gedanken sieht er sich noch auf der Loveparade feiern, die auch nach der Tragödie noch stundenlang fortgesetzt wurde. „Ich hätte mir schon gewünscht, dass man sie früher hätte ausklingen lassen“, sagt der 33-Jährige und blickt ins Stadionrund. „Das war eine würdige Stimmung hier“, fügt er nach der Trauerfeier hinzu. Ein Blick in seine Augen zeigt, dass auch er geweint hat.