Nach Ausschreitungen in Dortmund wird das Thema Fußballgewalt wieder kontrovers diskutiert. Doch ist das auch ein Berliner Problem? Morgenpost Online hat das Heimspiel von Hertha BSC gegen Mönchengladbach begleitet.
Als der Gottesdienst am Sonnabendnachmittag um 14.45 Uhr in der Kapelle des Olympiastadions beginnt, ist die Ostkurve bereits am Toben. Eine Dreiviertelstunde später ist Anpfiff, Hertha spielt gegen Mönchengladbach. Die Fankurve ist ein wogendes Meer in Blau-Weiß. Männer in Jeanskutten und Hertha-Schals, durchtrainierte Jungs in Fußballtrikots, Frauen mit Vereins-Basecaps. Vorne werden gigantische Fahnen ausgerollt. Zwei Männer feuern über Megaphone die Fans zu Gesängen und Sprechchören an: „Ha-Ho-He, Hertha BSC!“
In der Kapelle des Stadions aber hält die Hertha-Gemeinde Fürbitte für ein friedliches Spiel. Sie bitten Gott, dass sich alle Zuschauer besonnen verhalten, aber auch die Ordner und Polizisten. „Wir benennen alle Beteiligten“, sagt Bernhard Felmberg. Der 46-Jährige ist Stadionpfarrer im Olympiastadion. Er und seine Kollegen bieten zu jedem Heimspiel eine solche Fürbitte an.
Doch Gebete allein werden das Problem nicht lösen, das jetzt wieder diskutiert wird: Gewalt beim Fußball. Auch wenn die Zahlen der Fußballgewalt rückläufig sind – seit den Ausschreitungen beim DFB-Pokalspiel zwischen Dortmund und Dynamo Dresden wird wieder über das Thema diskutiert. In Berlin wurde ein Schiedsrichter verprügelt, in Magdeburg ein Spieler bedroht und aus der Stadt gejagt. Der Berliner Fußballverband ließ im Oktober alle Spiele eines Wochenendes für fünf Minuten unterbrechen, um an Fairplay und Respekt zu erinnern.
„Der Fanblock ist nichts für uns“
Die zwölfjährigen Zwillinge Anton und Paul sind mit ihrem Schulfreund Robin und den Vätern am Sonnabendmittag aufgebrochen nach Berlin zum Herthaspiel. Die Familien wohnen am südlichen Stadtrand, sie seien seit Jahren Dauerkartenbesitzer, sagen die Zwillinge. „Beim ersten Heimspiel waren wir erst drei, der Lärm hat uns echt erschreckt.“ Ihre Plätze haben sie nicht in der Ostkurve, sondern daneben. Angst vor Gewalt? „Der Fanblock ist nichts für uns, die Stimmung ist zwar okay, aber ich will nicht mit Bier geduscht werden oder einen Bengalo abbekommen“, sagt Paul. Außerdem, fügt sein Bruder hinzu, „wird da total viel geraucht“.
Die Väter der beiden lächeln über den selbstbewussten Hertha-Nachwuchs. Der eine ist selbst seit Kinderzeiten Herthafan, der andere schwärmt für den Karlsruher SC, dessen Anhänger eine besondere Freundschaft mit den Herthanern pflegen. Fußballgewalt habe es in ihren Jugendzeiten zwar auch schon gegeben, sagen die beiden, „aber nicht so wie heute. Der Sport stand eindeutig im Vordergrund.“ Dass sie nun eineinhalb Stunden vor Spielbeginn am Stadion sind, habe auch mit den langwierigen Kontrollen zu tun. Einerseits, sagen die Jungen, sähen sie ein, dass es Sicherheitsvorschriften geben müsse. „Aber die sind nicht familienfreundlich“, sagt Paul. „Man darf keine Bälle mehr ins Stadion bringen, einmal mussten wir sogar unsere Hertha-Fahne abgeben, weil sie angeblich eine gefährliche Spitze hatte.“ Und vier Euro für eine Cola seien viel zu teuer. Dennoch, die fünf freuen sich auf einen heiteren Nachmittag in Blau-Weiß.
Während das Foto gemacht wird, stellt sich ein Mann in Schwarz-Weiß-Grün neben die Herthafans – ein Gladbachfan. „Passt doch gut, farblich!“, sagt er, alle lachen. Die Fanbeziehungen der Vereine gelten als „neutral“. Vier Kategorien gibt es, in die sie eingeordnet werden: freundschaftlich, neutral, rivalisierend und feindselig. Schon Wochen vor jedem Spiel wird eine genaue Prognose erstellt, was zu erwarten ist. Polizei, Veranstalter, teilweise auch die Fanclubs arbeiten dabei zusammen. Wie viele Besucher werden erwartet? Woher und mit welchen Verkehrsmitteln kommen sie? Und wie viele von ihnen sind mutmaßlich gewaltbereit?
An diesem Sonnabend sieht die Prognose so aus: Rund 57.000 Besucher, darunter 5200 Gäste von auswärts. Davon reisen allein 900 in einem Sonderzug an, es sind viele Familien, weil in Nordrhein-Westfalen Herbstferien sind. 90 Prozent dieser Fans sind namentlich bekannt, denn sie haben ihre Tickets übers Internet gekauft oder telefonisch bestellt. Die Gäste bringen 15 eigene Ordner mit, ihre Fanbeauftragten und Sicherheitsexperten. Im Sonderzug wird die Bundespolizei mitfahren, am Berliner Hauptbahnhof die hiesigen Beamten warten. Gelten die Fans als verfeindet, werden sie schon dort säuberlich getrennt und zum Stadion geleitet. An diesem Tag aber ist das nicht nötig.
Bereits eineinhalb Wochen vor dem Anstoß haben sich Berlin und Mönchengladbach wegen solcher Fragen verständigt. Bei diesem Spiel werden 800 Ordner eingesetzt, dazu 400 Polizisten. Die Partie gegen Gladbach ist kein Risikospiel. Sonst wäre das Polizeiaufgebot deutlich höher. Zum jährlichen Pokalfinale kommen mehr als 800 Polizisten.
Polizeiaufgebot ist gut sichtbar
Direkt vor dem Spiel treffen sich die Zuständigen für Sicherheit in einem schmucklosen Raum. Es sind bis zu 20 Teilnehmer, darunter der Einsatzleiter der Polizei und Sicherheitskräfte des Veranstalters. Währenddessen haben Beamte draußen schon die Straßen zum Stadion abgesperrt. Uniformierte erklären den Fahrern von Reisebussen und Autos aus ganz Deutschland, wo sie parken können. Zwei Männer aus Sachsen sagen, sie hätten eigentlich lieber einen Lieblingsverein aus ihrer Region. „Aber Dresden oder Rostock, bei diesen Fans? Nein, Danke.“
Am S-Bahnhof Olympiastadion stehen Mannschaftswagen der Polizei. Beamte auf respekteinflößenden Pferden überschauen von hoch oben die Fan-Welle, die auf das Stadion zurollt. Der weitaus größte Teil der Fans ist männlich, doch zwischendrin gibt es auch andere Gesichter. Stefanie Bauer und Stephanie Brosch sind mit der 14-jährigen Nachbarstochter aus Treptow gekommen. „Uns fasziniert die Atmosphäre beim Spiel und das Drumherum“, sagen die drei. Sie treffen sich hier mit Freunden, manchmal fahren sie zusammen zu Auswärtsspielen. Erfahrungen mit Gewalt hätten sie zwar schon gemacht, „aber nichts Schlimmes. Wenn mal einer Streit anfängt, sind immer Leute dahinter, die eingreifen.“
Rund 200 Gästefans sind nach Angaben der Gladbacher „Kategorie B und C“, sie gelten als „gewaltgeneigt“ oder „gewaltsuchend“. Polizisten, die die Fanszene beobachten, sind dafür eingeteilt, diese Grüppchen zum Stadion zu begleiten.
Das Polizeiaufgebot ist auch im Stadion gut sichtbar, auch wenn es an diesem Tag keinen Anlass für allzu großen Druck und Frust gibt. Weder Hertha noch Gladbach befinden sich im Abstiegskampf. Beim Spiel stehen sogenannte szenekundige Beamte unter den Fans. Hinter ihnen warten Polizisten mit Helmen, und Westen. Die privaten Sicherheitsleute tragen leuchtfarbene Westen mit dem originellen Aufdruck „Steward“. Am Tag müssen sie nicht viel mehr tun als hier ein Gespräch zu führen oder dort eine beruhigende Hand auf einer Fan-Schulter zu legen. Wer die stabilen Plexiglasscheiben zwischen Fankurve und den anderen Blöcken sieht, ahnt, dass es manchmal anders ist.
Verantwortlich für die Sicherheit im Stadion ist Thomas Herrich, Mitglied der Geschäftsleitung von Hertha BSC. Bei ihm liegt die Gesamtverantwortung für den Spieltag. Ein smarter Mittvierziger mit großer Uhr am Handgelenk. Letztlich muss er dafür sorgen, dass Familien ebenso gerne zu Heimspielen der Hertha kommen wie die Fanatiker. „Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem“, sagt er, „nicht speziell ein Problem des Fußballs.“ Im Dialog mit den Fans habe der Verein eine friedliche Atmosphäre im Stadion erarbeitet. Neben den Plexiglasscheiben, die es vor 20 Jahren noch nicht gab, nennt er das Sicherheitskonzept, das laufend überprüft werde. Das gesamte Stadion ist videoüberwacht. Die Bildschirme stehen in der „Skybox“ hoch über dem Spielfeld. Dort sitzen während des Spiels Polizei und Sicherheitsdienst. Ein Stadionsprecher kann sofort Durchsagen machen, sollte es zu Zwischenfällen kommen.
Fans stürmten den Innenraum
Und die gibt es nach wie vor. Der drei Meter tiefe Graben zwischen Laufbahn und Fankurve hielt 2010 eine Meute von Herthafans nicht davon ab, bei der Niederlage gegen Nürnberg darüberzuspringen und den Innenraum zu stürmen. Sie zerstörten die Trainerbank und verbreiteten eine kräftige Portion Angst. „Der Sprung über den Graben war der einzige Vorfall in den letzten zehn Jahren hier im Stadion“, sagt Herrich. Untersuchungen hätten ergeben, dass es nichts Geplantes war, das den Fanbeauftragten verborgen geblieben wäre. Und die sind mit den Fans gut vernetzt. Jedes Transparent, das im Stadion gehisst wird, passiert zuvor eine Art Kontrolle: Was ist nur Schmäh, was echte Beleidigung, was politisch nicht korrekt? Auch größere Aktionen, „Choreografien“ genannt, werden inoffiziell zuvor abgesprochen.
Dass Fans den Innenraum stürmen, hatte einst Tradition. Manfred Sangel ist seit 40 Jahren Hertha-Fan und Moderator der Radiosendung „Hertha-Echo“. Er sagt: „Beim Aufstieg oder Abstieg gehörte das dazu.“ Zum Aufstieg 1993 sei er das letzte Mal im Innenraum gewesen. Nun würde er aber abstürzen bei dem Versuch, sagt der 52-Jährige und klopft auf seinen Bauch, der das blau-weiße Hertha-Shirt wölbt. Sangel ist niemand, der seinen Verein kritisieren würde. Aber dass es bei Fußballspielen früher häufiger zu Gewalt kam als heute, räumt er ein. Es gab die rechtsradikale Skinhead-Szene der 80er-Jahre, die auch die Stadien entdeckte. Und die berüchtigten Hertha-Frösche, die ihren harmlosen Namen vom Hüpfen auf Bänken bekamen und später zum Chiffre für Stadion-Chaoten wurden. Das ist vorbei. Fußball hat längst den Anspruch einer familientauglichen Großveranstaltung.
Und so ist das faneigene Unterhaltungsprogramm weitgehend harmlos. Organisiert wird es von den sogenannten „Ultras“. Die Gruppierungen gelten als fanatische Fans, verwahren sich aber dagegen, mit den Hooligans von einst verwechselt zu werden. Jene, die noch so ähnlich aussehen wie die „Hools“ damals, stehen im Fanblock ganz hinten. Ihr Transparent, weiße Frakturschrift auf Schwarz, ist im Stadion nicht sichtbar. Viele Männer tragen schwarze Kapuzenjacken, Goldkettchen und gefährliche Mienen zur Schau. Sie haben nicht gern Besuch von Reportern. „Du schreibst doch sowieso nur, dass wir Nazis sind“, keift einer, doch ein zweiter mischt sich ein: „Lass mal, ich mach das.“ Selbst hier scheint der Respekt vor jenen gewachsen zu sein, die vermitteln und eingreifen.
"Ultras"-Einpeitscher in der Ostkurve
In der Ostkurve brüllen derweil die Einpeitscher der „Ultras“ weiter gegen die 150.000-Wattanlage des offiziellen Stadionsprechers an. Die Fans haben nur plärrende Megafone, doch gehört werden sie trotzdem. „Da geht noch mehr!“, ruft der Mann am Megafon, „denkt an eure Chefs, lasst es raus!“ Die Fans klatschen, singen, schwenken die Schals auf Kommando. „Choreografien“ – das Wort ist dem Ballett entlehnt und sagt viel über das Bedürfnis nach Selbstdarstellung, das nicht nur auf dem Spielfeld wächst, sondern auch auf den Rängen. Megafone, Schwenkflaggen und Transparente müssen laut Vorschrift eigentlich draußen bleiben. Ausnahmen werden dennoch gemacht, das ist das Konzept der Fanarbeit. Das gefährliche Feuerwerk hat der DFB vergangene Woche allerdings verboten.
Nach dem Spiel – Hertha hat 1:2 verloren – drängen die Fans nach draußen. 60.000 sind es gewesen, das Stadion war voll. Am S-Bahnhof stehen Polizei und Sicherheitspersonal der Bahn bereit, um wütende Fans zu beruhigen und die Ströme zu kanalisieren. „Papa, warum schreien die Fans im Stadion so laut?“, will ein Fünfjähriger von seinem Vater wissen. „Schwierige Frage“, sagt der. „Es spornt die Spieler an. Und es macht vielleicht manchen auch Spaß, einfach mal rumzuschreien wie Kinder auf dem Spielplatz.“