Die Worte haben fast schon resümierenden Charakter. Dabei steht Mitchell Weiser doch gerade erst am Anfang seiner Karriere. „Ich habe mich hinterfragt, ob ich immer 100 Prozent gegeben habe. Wenn man den Vergleich zieht, sieht man, dass es nicht immer 100 Prozent waren.“ Für den 21 Jahre alten Fußballprofi war diese Erkenntnis derart befreiend, dass er nicht nur beim großen FC Bayern verstärkt auf sich aufmerksam machte, sondern auch das Interesse anderer Vereine geweckt hat. Das von Hertha BSC zum Beispiel war derart groß, dass die Berliner ihn sogar für sich gewinnen konnten.
Am Donnerstag bestätigten die Berliner, dass Weiser der erste Neuzugang für die kommende Spielzeit ist. Er unterschreibt einen Vertrag bis 2018 und kommt ablösefrei vom FC Bayern. „Mitchell Weiser ist ein junge, entwicklungsfähiger Spieler, der mit viel Tempo auf beiden Seiten unterwegs ist. Er ist sowohl offensiv wie defensiv einsetzbar und passt so genau in unser Anforderungsprofil. Wir sind sehr froh, dass er sich für uns entschieden hat“, wird Herthas Manager Michael Preetz in einer Presseerklärung zitiert.
Weiser selbst sagte: „Hertha BSC hat sich schon sehr früh um mich bemüht, der Klub ist für mich eine sehr spannende Herausforderung. Ich hatte gute Gespräche mit Manager Michael Preetz und Trainer Pal Dardai, freue mich auf die Aufgabe und das Team. Ich will mithelfen - mit den tollen Herthafans im Rücken - eine erfolgreiche Saison zu spielen.“
Es sind wohl mehrere glückliche Umstände, die Weiser zum ersten Zugang für die Saison 2015/16 werden lassen. Da ist der auslaufende Vertrag in München, der ihn ablösefrei von der Isar an die Spree wechseln lässt. Zum anderen ist da der Leistungssprung, den Weiser im vergangenen halben Jahr gemacht hat. Weiser absolvierte 13 Einsätze in der abgelaufenen Saison beim Rekordmeister, in den letzten sieben Partien sogar sechs über die volle Distanz. Das mag sicherlich auch der Verletzungsmisere bei den Münchnern geschuldet gewesen sein. Doch Weiser war zur Stelle, erzielte beim 6:0 in Paderborn sein erstes Bundesligator – per gefühlvollem Heber.
An der Einstellung gearbeitet
Es war ein Tor, das vielleicht am besten die Wandlung Weisers dokumentiert: eine Mischung aus jugendlicher Unbekümmertheit und professioneller Konzentration. Diese Professionalität fehlte nach seinem Wechsel vom 1. FC Köln zu den Bayern 2012 lange Zeit.
Vielleicht weil ihm bereits in jungen Jahren vieles zuflog, wovon andere nur träumen. EM-Zweiter und WM-Dritter 2011 mit der deutschen U17, Deutscher Meister mit Kölns B-Jugend im gleichen Jahr – und als ihn die Bayern vor drei Jahren für 800.000 Euro holten, schien das Hoch kein Ende zu nehmen.
Heute gibt er zu, dass „die Einstellung gefehlt“ habe. Dies wurde ihm erst bewusst, als er merkte, wie schnell eine Profikarriere auch enden kann. Schon im vergangenen Sommer standen die Zeichen auf Trennung von den Bayern. Eine Ausleihe zum Zweitligisten Kaiserslautern (Rückrunde 2012/13) brachte zuvor schon nicht den erhofften Erfolg. Doch statt auf Klubsuche ging es ins Krankenbett: Kurz vor Saisonstart 2014/15 riss ihm das Syndesmoseband, beim privaten Spiel in der Halle.
Alles in die Waagschale werfen
Die Zeit zum Nachdenken hat er offenbar genutzt. Vielleicht kam ihm dabei auch ein Ratschlag seines Vater Patrick Weiser wieder in den Sinn. Weiser senior, 43, für den 1. FC Köln, Stade Rennes und den VfL Wolfsburg aktiv, hatte seinem Filius mit auf den Weg gegeben: „Mitch, ich werfe mir noch heute vor, dass ich früher als Profi nicht alles in die Waagschale geworfen habe.“
Vorbei waren nun die Zeiten, in denen sich Weiser junior per Hubschrauber nach Monaco fliegen ließ, um sich dort das Formel-1-Rennen anzuschauen. Oder sich die Kollegen einen Aprilscherz erlaubten, indem sie ihn per SMS zum Flughafen bestellten, weil er für ein Spiel nachnominiert worden sei. Es passt ins Bild, dass sich Weiser keineswegs als Doublegewinner 2014 mit den Bayern fühlte, „auch wenn ich in jedem Training dabei war“ – weil er es eben nur auf 138 Pflichtspielminuten brachte. Die Meisterschale 2015 ließ er sich dagegen gern überreichen.
Druck für die Außenbahnen
Mit Weiser setzt Hertha auf den Außenbahnen ein klares Signal. Weiser, auf der rechten Seite zuhause, dürfte den angestammten Roy Beerens (offensiv) und auch Peter Pekarik (defensiv) erheblichen Druck machen. Der gebürtige Troisdorfer kann jedoch auch links eingesetzt werden, was dann vor allem Änis Ben-Hatira interessieren dürfte. In jedem Fall bringt Weiser etwas mit, was für die Berliner nach der vergangenen Zittersaison unbezahlbar ist: den oft als Bayern-Gen bezeichneten unbedingten Willen zum Sieg.
Entsprechend bewertet Weiser seine Zeit in München als „super Erfahrung“. Bringt er auch sein Credo aus der Bayern-Zeit („Gib alles, damit du hier spielen darfst“) mit nach Berlin, darf man sich bei Hertha auf eine echte Steigerung der spielerischen Qualität freuen.