Nationalmannschaft

Bundestrainer Löw hat an seinem Team noch viel zu feilen

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Jörn Meyn

Foto: Arne Dedert / dpa

Nach dem Sieg der deutschen Elf gegen Gibraltar in der EM-Qualifikation bleiben Fragen offen. Besonders in der Defensive sieht der Bundestrainer ein Jahr nach dem WM-Triumph großes Steigerungspotenzial.

Ein Fingernagel hat nun mal kein Zeitgefühl. Wenn er sich entschließt abzubrechen, bricht er ab, selbst wenn gerade ein Fußball-Länderspiel läuft. Joachim Löw hielt es jedenfalls nicht aus. Der Bundestrainer holte während des EM-Qualifikationsspiels gegen Gibraltar eine Nagelfeile hervor und begradigte die Sache. Die Feile ist jetzt ein Internetstar und hat bei Twitter sogar einen eigenen Account.

Bei einem wie Löw wird eben alles interpretiert. In jeder Banalität steckt tendenziell das große Ganze. Wenn Löw sich gegen Gibraltar die Nägel feilt, statt das Geschehen zu verfolgen, dann bedeutet das, dass der Kick gegen die Fußballamateure nicht ernst zu nehmen ist. Darauf angesprochen, bemühte sich Löw, den Eindruck zu vertreiben: „Das sollte nicht despektierlich sein“, sagte der 55-Jährige. Aber der Nagel sei ihm nun mal abgebrochen. Da stand es auch schon 4:0. Am Ende hieß es 7:0, „ein standesgemäßes Ergebnis“, wie Löw fand. Damit lässt es sich beruhigt in den Urlaub entschwinden.

Mit dem Sieg gegen Gibraltar, der die DFB-Auswahl in der EM-Qualifikation auf Platz zwei der Gruppe D hinter Polen mit einem Punkt Vorsprung geschoben hat, endet ein Zyklus: Am Dienstag vor einem Jahr startete die Nationalelf mit einem fulminanten 4:0 gegen Portugal in die WM in Brasilien. Der Ausgang des Turniers ist bekannt. Zwölf Monate später ist jetzt das erste Länderspieljahr nach dem Triumph von Rio überstanden. So muss man es ja sagen, denn es war ein durchwachsenes: Löws Mannschaft wirkte wie ein erschöpfter Läufer, der eben einen Marathon mit neuer Rekordzeit abgeschlossen hatte, aber kurz hinter der Ziellinie schon wieder weiter ins Nachbardorf joggen muss, um die Schuhe für den nächsten Lauf abzuholen.

Nur fünf Siege in den zehn Spielen seit Rio

Die Bilanz fiel dementsprechend wenig rekordverdächtig aus: Nur die Hälfte der zehn Spiele seit Rio konnte die Nationalelf gewinnen, drei Mal verlor sie, und zweimal spielte sie unentschieden. Nie hatte der Bundestrainer eine schwächere Quote. „Es war ein schweres Jahr, aber das war zu erwarten“, sagte Löw. „Wir hatten nicht die Souveränität wie in den Jahren zuvor. Ich bin aber überzeugt, dass die Mannschaft wieder in die Spur kommt. Wir kennen unsere Probleme.“

Der Bundestrainer hat bis zur EM in Frankreich also auch an seiner Mannschaft noch viel zu feilen. Drei Schwerpunkte wird Löw setzen. Erstens: bessere Spieleröffnung aus der Abwehr, wenn der Gegner früh attackiert. „Das ist ein wichtiges Thema, weil das bei der EM vermehrt auf uns zukommen wird“, sagte Löw. Zweitens: schnelleres Umschaltspiel nach Ballgewinn. Löw hat dort eine seltsame Trägheit ausgemacht. Die Geradlinigkeit sei verloren gegangen. Und drittens: „Das Spiel im letzten Drittel vor dem Tor, die Laufwege und die Chancenverwertung“, sagte Löw. Da haperte es am meisten in den vergangenen Monaten.

Löw hat nach Rio einen mittelschweren Umbruch einleiten müssen. „Mit Philipp Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose haben wir drei wichtige Charaktere verloren“, sagte Kapitän Bastian Schweinsteiger, „die muss man erst mal ersetzen.“ Löw baute mit Karim Bellarabi, Antonio Rüdiger, Jonas Hector und zuletzt Patrick Herrmann neue Spieler ein. Vor allem von den letzteren beiden war er angetan: „Patrick hat gegen die USA sehr gut gespielt. Absolut zufrieden war ich mit Jonas Hector, weil er sachlich, einfach und ohne Fehler spielt“, sagte Löw.

Löw wird die U21-Europameisterschaft genau verfolgen

Der Kölner Linksverteidiger könnte auf Dauer eine der beiden größten Baustellen des Bundestrainers im Post-Lahm-Zeitalter beheben: die Außenpositionen in der Viererkette. Rechts dagegen konnte bisher keiner überzeugen, weder Sebastian Rudy, noch Rüdiger, der perspektivisch aber ein Mann für die Innenverteidigung sein wird.

Löw schaut deshalb besonders interessiert, wie sich die U21-Auswahl bei der am Mittwoch beginnenden EM in Tschechien schlagen wird. Dort gibt es mit Emre Can einen vielversprechenden Profi, der in Liverpool oft außen aushalf und überzeugte. Nico Schulz von Hertha BSC ist dagegen noch weit entfernt vom A-Nationalteam.

Dass es aber einer aus dem Nachwuchs sogar schon zur EM in Frankreich schaffen kann, hält Löw für möglich: „2009 ist die U21 Europameister geworden. 2010 waren dann fünf, sechs Spieler mit bei der WM in Südafrika. Wir sind also in der Lage, Spieler einzubauen“, sagte Löw. Die besten Chancen werden Angreifer Kevin Volland und den beiden Mittelfeldspielern Maximilian Arnold und Max Meyer eingeräumt. Aber auch der Mainzer Sechser Johannes Geis könnte schon bald eine Einladung bekommen.

Im Tor steht ein Umbruch bevor

Den radikalsten Umbruch jedoch wird Löw auf der Position im Tor hinter Manuel Neuer vollziehen: Der 34 Jahre alte Roman Weidenfeller hat gegen Gibraltar wohl sein letztes Länderspiel bestritten. „Den jungen Torhütern gehört die Zukunft“, sagte Löw und meinte den Champions-League-Sieger Marc-André ter Stegen aus Barcelona und Bernd Leno aus Leverkusen.

Löw hat immer noch eine Weltklassemannschaft beisammen, wenn es Anfang September mit den wichtigen EM-Qualifikationspartien gegen Polen und Schottland in den „heißen Herbst“ geht. Aber er muss auch das etwas unrund gewordene Spiel seiner Mannschaft ausbessern, sonst fühlt es sich an wie ein abgebrochener Nagel, wenn man keine Feile zur Hand hat.