Julian Schieber, 25, kommt eine Viertelstunde zu früh zum Interview. Ungewöhnlich für einen Profi. Aber eigentlich passt das gut. Denn schnell da war der Stürmer bei Hertha auch nach seinem Wechsel im Sommer aus Dortmund. Zum Saisonstart traf er zweimal gegen Bremen. Nun geht es erneut gegen Werder – auswärts zum Auftakt der Rückrunde an diesem Sonntag (15.30 Uhr, Sky und im Liveticker auf immerhertha.de). Viele Hoffnungen ruhen auf dem erfolgreichsten Berliner Angreifer. Darüber sprechen wir ebenso wie über seine Kindheit in einer schwäbischen Baumschule und Jugendidole.
Berliner Morgenpost: Herr Schieber, gehören Sie zu einer aussterbenden Art?
Julian Schieber: Ich glaube nicht. Sicher, ich bin ein Stürmer, den es nicht mehr so oft im modernen Fußball gibt. Ich komme über das Körperliche. Heute sind die kleinen, wendigen Angreifer gefragt. Aber mein Stürmertyp wird nie aussterben, weil es immer Mannschaften geben wird, die weniger über den Ballbesitz als über den Einsatz kommen. Außerdem muss es doch immer auch die echten Stürmer geben. Wir können ja auch noch Tore schießen.
Was macht einen guten Stürmer aus?
Ich werde immer noch vornehmlich an Toren gemessen. Aber die Zeit, in der ich ausschließlich Tore erzielen musste, ist vergangen. Heute muss ich als Stürmer auch wie ein Abwehrspieler agieren.
Welchen Stürmer haben Sie bewundert?
Als Kind war mein großes Idol Jürgen Klinsmann. Muss ja auch so sein, weil er aus der gleichen Ecke wie ich kommt und wunderbare Fallrückziehertore erzielt hat. Später habe ich dann zu Stürmern aufgeschaut, die einen ähnlichen Stil geprägt haben, wie ich ihn auch spielen wollte: Kevin Kuranyi oder Mario Gomez, mit dem ich in Stuttgart noch zusammengespielt habe.
Wissen Sie, dass Sie derzeit eine Bestmarke in der Bundesliga halten?
Ich nehme an, dass Sie nicht meine Geschwindigkeit auf 50 Meter meinen?
Sie sind der effizienteste Stürmer der Liga. Sie brauchen 3,3 Torschüsse pro Treffer.
Klingt gut, kann man sich als Stürmer aber auch nichts davon kaufen. Ich hätte lieber etwas mehr Chancen, dann könnte ich auch mal die ein oder andere verballern.
Torinstinkt ist etwas, was ein Stürmer immer haben musste. Was passiert vor einem Treffer in Ihrem Kopf?
Ich denke in solchen Momenten an nichts. Das ist eher ein Gefühl, ein Gespür für die Situation. Das kann man wohl nicht lernen. Das hat man einfach, oder nicht.
Interessant ist Ihre Effizienz bei Hertha, weil Ihnen in Dortmund oft Ihre fehlende Torgefahr vorgeworfen wurde.
(überlegt lange) Ich bin ein Spieler, der sich sicherer fühlt, wenn er ein paar Minuten mehr in den Beinen hat und mehr ins Team integriert ist. Das hatte ich in Dortmund nicht, dafür jetzt in Berlin. Ich habe hier das Gefühl wiedergefunden. In Dortmund war es schwer für mich, weil von Anfang an der Druck sehr hoch war, und ich in den wenigen Minuten, die ich bekam, zu viel zeigen wollte. Das ist mir nicht gelungen.
War der BVB eine Nummer zu groß?
Ja, zumindest was meinen direkten Konkurrenten betraf. Aber dadurch, dass ich mit einem Spieler wie Robert Lewandowski spielen durfte, bin ich auch weitergekommen. Er hatte alles vom klassischen und modernen Stürmer. Er ist der kompletteste Spieler, den ich kenne. Der könnte sich wahrscheinlich sogar Torwarthandschuhe anziehen und wäre auch im Tor gut.
Beim BVB haben Sie sich selbst mal wegen schlechter Körpersprache kritisiert. Haben Sie nun bei Hertha daran gearbeitet?
Das hatte mit meiner Unzufriedenheit in Dortmund zutun. Ich konnte mir kaum Erfolgsmomente erspielen. Das hat sich auf meine Körpersprache niedergeschlagen. Der Kopf war nicht frei. Bei Hertha funktioniert es für mich besser. Ich habe hier mein Selbstbewusstsein wiedergefunden.
Hat Sie Felipe Santana um den größten Moment Ihrer Karriere gebracht?
(lacht) Mein brasilianischer Freund Felipe. Sie meinen das 3:2 im Champions-League-Viertelfinale gegen Malaga in der Nachspielzeit, nehme ich an. Ja, mein Schuss wäre auch so reingegangen. Aber ich hätte ihn einfach selbst richtig reinhauen müssen. Für mich wäre dieser Treffer schon sehr wichtig gewesen, denn er hätte meine Situation in Dortmund verbessert. Trotzdem bin ich froh, dass Felipe den Ball über die Linie gedrückt hat und wir dieses Spiel noch gedreht haben. Einer der krassesten Momente meiner Karriere.
Es gibt eine weitere erstaunliche Statistik über Sie: Sie führen mit Abstand die meisten Zweikämpfe aller Spieler bei Hertha im Vergleich zu Ihrer Einsatzzeit.
Keine Ahnung, wie das zustande kommt. Vielleicht liegt das daran, dass ich mich als erster Verteidiger sehe. Ich brauche die Zweikämpfe, um in mein eigenes Spiel zu finden.
Muss ein Stürmer nicht egoistischer sein?
Ich glaube, ich habe einen ausgeprägten Egoismus vor dem Tor. Manchmal sogar einen zu großen. Ich hätte in der Hinrunde mehr Tore vorbereiten können. Daran muss ich arbeiten.
Ist es für Sie mehr Fluch oder Segen, einen Spieler wie Ronny hinter sich zu haben?
Ronny hat unheimliche Offensivqualitäten. So ein Füßchen, so ein Auge. Das ist eine Gabe. Das kann man auch nicht lernen. Solche Spieler wie ihn gibt es nicht viele in der Bundesliga. Ihn weiß ich sehr gern hinter mir. Natürlich wird ihm oft nachgesagt, dass der Rest des Teams in der Defensive für ihn mitlaufen muss. Das sehe ich aber anders. Er hat in der letzten Zeit sehr hart an sich gearbeitet. Und wenn, laufe ich auch mal gern für einen Spieler wie ihn.
Stammt Ihr ausgeprägter Gemeinschaftssinn aus Ihrer Kindheit in einem Familienbetrieb?
Ich bin so aufgewachsen, dass alle in meiner Familie mit angepackt haben. Meine Eltern haben eine kleine Baumschule, und da mussten wir uns aufeinander verlassen. Das hat mich vielleicht auch als Spieler geprägt.
Sie sind für Ihre Spielergeneration sehr spät in den professionellen Fußballbetrieb eingestiegen. Erst mit 17 wechselten Sie in die A-Jugend des VfB Stuttgart.
Ich bin in einem kleinen Dorf neben Backnang aufgewachsen. Ziemlich lange habe ich mich wohl damit gefühlt, einfach nur mit Freunden Fußball zu spielen. Ich wollte da lange gar nicht weg. Ich habe zwar immer von einer Profikarriere geträumt, aber die Jahre vergingen, und ich hatte meinen Spaß. Dann hatte ich das Glück, dass ich mit der TSG Backnang gegen den VfB in der Jugend spielen konnte. Dort sah der VfB-Trainer etwas in mir. Vielleicht wäre ich sonst nie Profi geworden.
Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Jahre davor in der Ausbildung heute fehlen?
Ich würde schon sagen, dass ich zum Anfang meine Schwierigkeiten mit der Technik und dem Taktischen hatte. Ich bin heute nicht technisch schwach, aber es gibt Spieler, die eine bessere Ausbildung hatten. Doch der Aufwand in unserem Familienbetrieb hätte einen früheren Wechsel für mich auch gar nicht zugelassen. Meine Eltern hätte mich nicht jeden Tag fahren können.
Wollten Sie immer Stürmer sein?
Ja. Eigentlich fängt doch jedes Kind als Stürmer an. Ich habe noch kein Kind getroffen, das sagt: Ich werde Innenverteidiger. Geil. Ich räume hinten auf.
Sie haben eine Lehre als Landschaftsgärtner begonnen und halten sich Zierfische im Aquarium. Sind sie ein Naturbursche?
(lacht) Ich bin so aufgewachsen. Ich war als Kind bei jedem Wetter draußen mit meinen Eltern. Auch heute bin ich gern zum Entspannen im Wald mit meinem Hund. Im Winter fahre ich in die Berge. Ja, man kann sagen: Ich bin ein Naturbursche. Für mich ist das eine gute Gegenwelt zum Profifußball.
Stimmt es, dass Sie sich vor einem Spiel mal selbst die Haare geschnitten haben?
Das war in Dortmund vor einem Spiel gegen Augsburg. Wir sind ins Hotel gegangen, und Jürgen Klopp sagte: Julian, du spielst. Das war nicht zu erwarten. Ich dachte. Puh, du siehst ja gar nichts. Deine Haare wedeln dir ins Gesicht. Einen Friseur konnte ich nicht mehr auftreiben. Also dachte ich: Ich schneide sie mir selbst mit der Tape-Schere. Fällt schon keinem auf. Aber das war so katastrophal geschnitten, dass es gleich jeder gesehen hat. Mit dem neuen Haarschnitt habe ich dann aber zwei Tore gegen Augsburg geschossen.
Auch gegen Bremen im Hinspiel haben Sie zwei Tore erzielt. Nun geht es wieder gegen Werder. Ein gutes Omen?
Die beiden Tore damals waren wichtig für mich, um schnell anzukommen. Aber das bedeutet für die Partie jetzt gar nichts. Ein gutes Omen ist für mich eher, dass wir seit der 0:5-Niederlage gegen Hoffenheim als Mannschaft sehr hart an uns gearbeitet haben. Wir haben die ganze Vorbereitung nur auf Bremen hingearbeitet. Das wird ein heißer Tanz.
Viele der Berliner Hoffnungen auf den Klassenerhalt ruhen zunächst auf Ihnen.
Dann muss ich jetzt auch da sein. Wir wissen, dass wir einen guten Start brauchen. Dem stelle ich mich und wir uns als Mannschaft.
Wer steigt am Ende ab?
Das kann ich nicht voraussagen. Wir aber nicht.