Angela Merkel hätte nicht gedacht, dass es so weit kommen würde. Im Kanzleramt hatte man vielmehr damit gerechnet, dass sich der Vorwurf, ausgerechnet die Bildungsministerin habe Teile ihrer Doktorarbeit abgeschrieben, noch in diesem Oktober auflösen würde: Die Gremien der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die von Annette Schavan selbst gebeten wurden, nach 32 Jahren die Dissertation ein zweites Mal zu prüfen, würden sie rehabilitieren.
Auch publizistisch würde man die Oberhand gewinnen: Eine Journalistin, mit der die einflussreichen Frauen in Merkels Umfeld schon öfter gute Erfahrungen gemacht haben, recherchierte zu den windigen, aus dem Internet agierenden Plagiatsjägern. In Hintergrundgesprächen war die Kanzlerin schon seit Wochen nicht mehr auf den Verdacht angesprochen worden, Schavan selbst verbat sich zuletzt gar entsprechende Fragen in Interviews. Merkel ist notorisch misstrauisch, aber aus dieser Richtung wähnte sie keine Gefahr mehr.
Es bleibt nur Routine
Seit dem Wochenende ist diese Ruhe gewichen, und an ihre Stelle ist etwas getreten, das bei Merkel sehr, sehr selten ist: offenes Entsetzen. Denn mit dem Bekanntwerden des an der Universität erstellten Gutachtens sind alle Gewissheiten zerstört. Keine Maschine hat hier elektronische Rasterfahndung betrieben, sondern der Dekan der Philosophischen Fakultät hat sie sechs Monate lang Buch für Buch abgleichen lassen.
Sein Befund liest sich vernichtend: Die „leitende Täuschungsabsicht“, die er unterstellt, geht sogar über das hinaus, was die Universität Bayreuth an Karl-Theodor zu Guttenbergs zusammengeschustertem Machwerk kritisierte.
Das ist – bleibt es bestehen – zu verteidigen. Folgt die Universität diesem Gutachten, verliert Schavan ihren Doktortitel. Und dann verliert sie auch ihr Amt. Das weiß Merkel. Ihr bleibt deshalb nur Routine: „Die Ministerin hat mein vollstes Vertrauen“, sagt die Kanzlerin am Montag.
Auch Wulff sprach Merkel „vollstes Vertrauen“ aus
Vollstes Vertrauen – die eigentlich unsinnige Steigerungsform wird bei solchen Gelegenheiten immer benutzt wird. Vollstes Vertrauen sprach Merkel auch Guttenberg aus, als der seinen aussichtslosen Kampf gegen das Offensichtliche focht. Vollstes Vertrauen hatte sie bei Christian Wulff artikuliert, fast bis zum bitteren Ende. Gemeint war in beiden Fällen freilich nur: Ich betreibe nicht ihren Sturz. Das beinhaltet auch: Wenn sie fallen, fallen sie halt.
Aber gilt das auch für Angela Merkel und Annette Schavan? Denn in ihrer Bildungsministerin hat die Kanzlerin, die sich sonst nur auf eine ganz kleine Schar von Unter- und Ergebenen verlässt, etwas sehr seltenes: eine echte Vertraute. Um die Enge des Verhältnisses zu beschreiben, wird sogar das ganz seltene Wort „Freundschaft“ genutzt – jedenfalls von Schavan. Erwin Teufel, ihr politischer Ziehvater, Volker Kauder, wie sie politisch im Südwesten daheim und eben Merkel: „Diese Freundschaften hängen nicht an politischen Ämtern“, hat Schavan einmal einer Reporterin anvertraut.
Das Vertrauen rührt aus den Zeiten, in denen Merkels Position in der CDU noch nicht gefestigt war: Als Merkel die von der Spendenaffäre ins Mark getroffene und in ihrer Identität nach dem Machtverlust schwankenden Partei erst als Generalsekretärin und dann als Vorsitzende lenkte, konnte sie auf Schavan bauen. Die ledige Politikerin hatte früher als die geschiedene, ebenfalls kinderlose Merkel gelernt, in der von Familienvätern dominierte CDU als Frau Karriere zu machen. Die wichtigere Gemeinsamkeit ist aber die unemotional analysierende Herangehensweise an die Politik. Schavans Amtsführung entspricht Merkels Ideal viel eher als das dauernde Trommeln einer Ursula von der Leyen.
Sie sprechen sehr offen
Nicht nur im Wesen, sondern auch in der Erscheinung ähneln sich die aus dem Rheinland stammende Katholikin und die Brandenburger Pastorentochter: dunkle Hose und buntes Jackett – diese Uniform deutscher Politikerinnen haben die beiden entwickelt. Sie mögen sich wirklich: Schavan ist eine der wenigen CDU-Politikerinnen, die Merkel auch privat trifft. Die Frauen sprechen dann sehr offen, hört man.
Die Symbiose der Frauen hat in der CDU immer schon Ängste ausgelöst – vor allem bei Männern. Schavan hat versucht, diese abzubauen, indem sie den Übervater Helmut Kohl zum Stifter ihres Vertrauensverhältnisses ausrief. Der Kanzler sei es gewesen, der sie Merkel vorgestellte, und dabei soll er laut Schavan gesagt haben: „Ihr müsst gut zusammenarbeiten, gerade weil ihr so verschieden seit.“
Es half nichts. Bei Schavan und Merkel halten viele in der Union vieles für möglich: Auch den Sturz von Guttenberg. „Ich schäme mich nicht nur heimlich“, hat Schavan in einem Interview gesagt – im Auftrag der Kanzlerin, argwöhnte mancher.
Ausgerechnet Schavan
Jetzt der Rücktritt? Noch sind Schavan und Merkel überzeugt, dass es nicht so weit kommt. Tatsächlich kann sich die Kanzlerin, Gutachten hin, Gutachten her, so wenig wie die meisten im politischen Berlin vorstellen, dass Schavan bei ihrer Doktorarbeit betrogen hat. Ausgerechnet Schavan? Die als junge Katholikin über das Gewissen forschte? Die im vergangenen Jahr, als der Papst im Bundestag über das Naturrecht dozierte, sich auf der Regierungsbank eine Träne aus dem Auge rieb. Die noch vor einem Jahr in einem Magazin auf die Frage: „Auf welche Leistung sind Sie besonders stolz?“ antwortete: „Zu wissen, wo ein Buch in meiner Bibliothek steht, obgleich sie auf drei Standorte verteilt ist und kein Verzeichnis existiert.“
Für Guttenberg war – wie für viele junge Karrierepolitiker in den bürgerlichen Parteien – eine Promotion nur ein weiteres Ornament im Lebenslauf des Erfolgsmenschen. Für Schavan begründete die Dissertation hingegen nicht nur die politische Karriere, sondern auch die persönliche Identität. Blamiert ist sie daher schon jetzt: Peinliche Zitierfehler werden das Mindeste sein, was die Bildungsministerin zugeben muss. Die neue, die letzte Verteidigungslinie ist jetzt, dass Schavan die Vorwürfe des Gutachtens in einer Stellungnahme entkräften kann. Darauf wartet die Republik.
Die Kanzlerin wird ihrer Vertrauten Annette Schavan nicht helfen können. Aber sie hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die es noch selbst kann.