Zusammenhalt, Fürsorge und Offenheit - in Norwegen herrschte bislang ein tiefes Vertrauen in die Menschlichkeit. Nun ist der Kern des nationalen Selbstverständnisses durch den Doppelanschlag schwer getroffen.

"Nun sind wir wirklich ein Teil der Welt geworden, falls wir das nicht schon früher begriffen haben“, schreibt die Rentnerin Nora A. auf ihrer Facebook-Seite. Sie wohnt auf der Halbinsel Nesodden gegenüber der norwegischen Hauptstadt Oslo. Den Knall der gewaltigen Explosion im Regierungsviertel hat sie am Freitag bis in ihr rotes Holzhaus gehört. Später folgten die grauenhaften Nachrichten vom Massaker auf der Insel Utoya.

Eine Nation liegt lahm. Mittlerweile patrouillieren Soldaten über Karl-Johann – Oslos Prachtstraße und Einkaufsboulevard –, wo noch vor kurzem Sommergäste ihr Eis verzehrten. Die Polizei hat die Bewohner der Stadt gebeten, sich ruhig zu verhalten, Menschenansammlungen zu vermeiden und am besten daheim zu bleiben. Schock und Verzweiflung haben Norwegen fest im Griff.

Blonder, blauäugiger Norweger ist der mutmaßliche Täter

In den ersten Stunden glaubten die meisten, es habe sich um einen Anschlag von al-Qaida gehandelt. Zwar hielt sich die Polizei am Freitag mit Vermutungen bedeckt, doch die Zerstörungen in den Straßenzügen Oslos schienen ganz die Handschrift islamistischer Extremisten zu tragen. Es hatte in Norwegen ja in jüngster Zeit auch wahrlich genug Kritik an islamistischem Fanatismus gegeben, um die Vermutung zu nähren, dass die Täter keinesfalls aus den eigenen norwegischen Reihen kommen könnten.

Aber der Täter entpuppte sich noch am Freitag als ein blonder, blauäugiger ethnisch norwegischer 32-jähriger Rechtsextremist, der zwar einen Waffenschein besitzt, doch außer einem Verkehrsdelikt keinerlei Vorstrafen hat. Seinen krankhaften Hass auf die Regierung lebte er am Freitag mithilfe einer selbst gebastelten Bombe und offenbar zweier Schusswaffen aus, die er in dem Ferienlager zum Teil aus nächster Nähe auf unschuldige Menschen richtete.

Die Tat ist nicht zuletzt auch ein schwerer Schlag gegen das norwegische Ideal von Transparenz und Gutgläubigkeit. „Unsere Offenheit ist bedroht“, sagte der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg auf einer Pressekonferenz am Samstag. Immer wieder hob er hervor, dass Norwegen eine kleine Nation mit vergleichsweise wenigen Einwohnern sei. Alle Norweger fühlten sich nun jenen nahe, die von den schrecklichen Ereignissen betroffen sind.

Als Junge habe er selber viele Sommertage mit den Parteifreunden auf Utoya zugebracht, erzählte Stoltenberg am Samstag. „Für mich ist Utoya mein Kindheitsparadies, das gestern in eine Hölle verwandelt wurde.“ Er wirkte übernächtigt, die blauen Augen waren trüb. Wie viele seiner Parteigenossen hatte auch er am Samstag dem Zeltlager der jungen Sozialdemokraten auf der Insel einen Besuch abstatten und sich politischen Diskussionen widmen wollen. Viele der Ermordeten kannte Stoltenberg persönlich. Am Samstagnachmittag dann fuhr er auf die Insel und versuchte die Überlebenden zu trösten.

"Typisch norwegisch, gut zu sein"

Auch Gro Harlem Brundtland, die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin, hatte das kleine Inselparadies freitags für eine Stippvisite aufgesucht, eine Rede gehalten und mit den jungen Leuten über Gott und die Welt geplaudert. Nur wenige Stunden nachdem sie das Festland wieder erreicht hatte, mischte sich der in eine Polizei-Uniform gekleidete vermutliche Täter Anders B. unter die Menge, um seine Opfer hinzurichten. Gerade dass diese fast noch Kinder waren, schockiert das ganze Land und lässt den Täter wie die Inkarnation des Bösen schlechthin wirken. „Barna først“ – „Die Kinder zuerst“ – ist eine Einstellung, die zu den norwegischen Kernwerten zählt.

Der Hass des mutmaßlichen Täters hatte sich auch auf Ex-Staatschefin Brundtland gerichtet, die er im Internet als „Landesmörderin“ bezeichnet hatte. Brundtland war es, die in einer Rede in den 90er-Jahren den in Norwegen seither viel zitierten Satz gesagt hatte, dass es typisch norwegisch sei, gut zu sein. Der Friedensnobelpreis wird hier verliehen, die Hilfe für die Armen in der Welt gehört in dem reichen Land zum politisch guten Ton.

Der Täter hätte sich also keine perfideren Schläge ausdenken können als solche gegen all das, was in Norwegen als besonders kostbar und schützenswert gilt: die Gutherzigkeit, die offene Demokratie, die Kinder.

"Wir haben bewusst nie alles verriegelt"

„Annerledes land“ – das andere Land, haben die Norweger ihre Nation immer genannt, und das klang stets stolz und eigensinnig. Der Zukunftsforscher Erik Øverland sieht in dieser Haltung einen Kern der norwegischen Kultur. „Es ist gerade die Offenheit und Gutgläubigkeit, die die norwegische Mentalität von der der anderen Europäern unterscheidet“, sagt Øverland, der an seinem Urlaubsort in Italien erfuhr, dass sein Osloer Büro in die Luft gesprengt worden war.

Der beim Ministerium für Bildung und Forschung angestellte Sozialwissenschaftler, derzeit Gastprofessor in Berlin, findet bei seinen Landsleuten eine enorme Bereitschaft, sich allem zu öffnen: „Wir haben bewusst nie alles verriegelt, weil wir uns das Vertrauen in die Menschen bewahren wollten. Doch nach dem 22. Juli“, setzt Øverland hinzu, „wird sich in dieser Hinsicht einiges ändern müssen.“

Die rund 4,9 Millionen Norweger schätzen in ihrem protestantisch geprägten Weltbild den familiären Zusammenhalt ihrer Nation: Wirgefühl, Zusammenhalt und Fürsorge sind bewusst gelebte Werte. Während viele meinen, dass sich in Deutschland und anderen europäischen Ländern längst eine Ellenbogen-Mentalität durchgesetzt habe, sind sie überzeugt, dass in ihrer durchs Öl ungeheuer reich gewordenen Heimat der Glaube an das Gute im Menschen weit verbreitet sei und die Menschen sich auch tatsächlich bemühen, gut zu sein.

Wer in Norwegen ausführlich über sich selbst redet, muss damit rechnen, als selbstsüchtig zu gelten. Egoismus wird rasch als Verstoß gegen die Regeln der Gemeinschaft gesehen.

„Dieses Vertrauen der Menschen zueinander kann nach diesem Terrorangriff hoffentlich beibehalten werden“, sagt Øverland, findet allerdings, dass die Offenheit, nicht zuletzt in den Schaltzentren der Macht, überdacht werden müsse.

Die Folgen für die norwegische Gesellschaft dürften die gleichen sein, die das Attentat auf den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Olof Palme im Jahr 1986 für die schwedische hatte. „Wir müssen wesentlich professioneller mit Sicherheitsfragen umgehen“, sagt Øverland. Die Mentalität des Vertrauens in das Gute könne leicht zu Versäumnissen führen.

Bislang ist es in Oslo kein ungewöhnliches Bild, wenn Außenminister Jonas Gahr Store mutterseelenallein durch den Schlosspark spaziert. Was freilich nicht nur mit einer aus Vertrauen gespeisten Nachlässigkeit in Sicherheitsfragen zu tun hat, sondern auch damit, dass in dem Land des Ideals vom familiären Zusammenhalt die Volksnähe von Politikern „zum Anfassen“ ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Selbstverständnisses ist.

So aber könne es nun nicht mehr weitergehen, meint Øverland. „Der Rest der Welt hat Norwegen erreicht.“ Künftig werde wohl kein norwegischer Politiker mehr ohne Bodyguard unterwegs sein.

Für Øverland verraten die Sicherheitsmängel, die solche Taten im Herzen der nationalen politischen Macht erst möglich machten, auch eine gewisse Unprofessionalität. Als fantasielos sieht er es an, wenn der schlimmstmögliche Fall in den Sicherheitserwägungen kaum vorkommt, weil ja nicht passieren kann, was nicht passieren darf. „Es sollten mehr Bedrohungsszenarien entwickelt werden, damit sich alle im Ernstfall besser darauf einstellen können“, sagt er.

Øverlands erst im Frühjahr erschienenes Buch „Carpe futurum – die Kunst sich auf die Zukunft vorzubereiten“, hat für die Norweger, die wegen der Öl-Milliarden einer sorglosen Zukunft entgegen zu gehen schienen, nach dem grauenvollen Massaker vom Freitag eine vom Autor ungeahnte Aktualität erhalten. „Wir müssen künftig stärker mit dem Schlimmsten rechnen“, rät Øverland seinen Landsleuten.

"Wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen"

Der Leiter der Jungen Arbeiterpartei (AUF) Eskil Pedersen ist auf Utoya, wo die AUF ihr Zeltlager abhielt, mit dem Leben davongekommen. „Ich hörte Schüsse und schon wurde ich in ein Boot gezogen, das mich ziemlich schnell von der Insel weg und in Sicherheit brachte.“ Zusammen mit anderen fand er Zuflucht in einem nahe gelegenen Hotel auf dem Festland. „Mit uns wurde die gesamte norwegische Demokratie angegriffen. Doch wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen“, sagte Pedersen am Samstag im norwegischen Fernsehen NRK. „Wir kommen zurück auf die Insel.“

Doch diese Rückkehr wird nicht nur von Trauer begleitet sein, sondern auch von dem Gefühl, dem eigenen Land nicht mehr so vertrauen zu können wie bisher.