In Moabit warten Hunderte darauf, ihren Asylantrag zu stellen. Der Platz vor dem Lageso - ein Symbol gescheiterter Flüchtlingspolitik.
Am frühen Morgen liegt auf dem Bürgersteig an der Turmstraße in Moabit eine weiche, blaue Masse. Der Berufsverkehr rauscht an dem seltsamen Anblick vorbei. Es sind Schlafsäcke, darin: Flüchtlinge. Einer neben dem anderen liegen sie da, 20 oder 30 Männer, die Schuhe und Taschen stehen ordentlich davor. Sie haben die Nacht hier verbracht. Es hat geregnet. Um kurz nach 6 Uhr springen sie auf. Heute könnte, heute muss der Tag sein, an dem sie ihre Nummer bekommen. Die Registriernummer für Flüchtlinge: Eintrittskarte in ein neues Leben. Die meisten hier haben alles dafür riskiert.
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Einziges Problem: Man muss schnell sein. Wer zu spät kommt bei der Nummernausgabe oder wer sich beim Warten abdrängen lässt, auf den wartet am Abend nur wieder der Bürgersteig. Hunderte Flüchtlinge kommen oft täglich nach Berlin, aber nur maximal 100 Erstanträge auf Asyl können die Mitarbeiter des Lageso in Moabit täglich bearbeiten.
Etwas später drängen sich ungefähr 150 Menschen an der Schranke des Landesamtes für Gesundheit und Soziales, wie die Behörde eigentlich heißt, und es werden immer mehr. Junge Männer, Alte im Rollstuhl, Kinder, Frauen mit Kinderwagen, Koffern, Taschen und Tüten. Wie auf ein geheimes Signal kommen Sicherheitsleute aus einem Seiteneingang und schieben die rot-weißen Absperrungen an der Schranke weg. Es wirkt wie eine Inszenierung. Dann beginnen die Menschen zu laufen, alle zugleich. Die Nummernausgabe liegt weiter hinten auf dem ehemaligen Krankenhausgelände. Sie wird um 8 Uhr öffnen.

Jeden Morgen geht das hier so, von Montag bis Freitag. Nicht jeder Tag beginnt so wie dieser, an dem schon um 7 Uhr der erste Krankenwagen mit Blaulicht kommt, weil eine Frau ohnmächtig geworden ist. Sie stand ganz vorn in der Warteschlange, die nun immer länger wird. Bilder wie diese sind von hier längst um die Welt gegangen. Vielleicht auch, weil die verzweifelte Situation am Lageso als Sinnbild für Europas gescheiterte Flüchtlingspolitik so gut passt.
Wann genau das Drama begann, das Gedrängel, Geschrei, die verzweifelten Menschen hier und die überforderten Beamten dort: Ein festes Datum gibt es nicht. Es ist wie mit den blauen Schlafsäcken. Plötzlich waren sie da. Seit aus den Krisenländern immer mehr Menschen nach Europa unterwegs sind, vor allem aber, seit die deutsche Regierung ankündigte, keinen Flüchtling nach Syrien zurückzuschicken, kommen auch in Berlin oft täglich mehrere hundert Menschen an. Und auch hier kollabiert das System, von dem alle immer irgendwie glauben wollten, dass es funktioniert. Die Umsetzung europäischer und deutscher Asylpolitik mit den Mitteln der Bürokratie – wer auch nur einen Tag am Lageso verbringt, weiß: Es funktioniert nicht. Nicht so.
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Die Behörde arbeitet in einem Hochhaus auf dem Gelände des ehemaligen Krankenhauses Moabit. Drinnen ist die Welt aufgeteilt in Räume mit vierstelligen Nummern und abstrakten Namen. Doch die Grünfläche davor ist nur noch zertrampelte Erde. Das Ensemble darauf mag von sehr weitem an ein Volksfest erinnern – Zelte, Bierbänke, Toilettenwagen. Dazwischen liegen weitere Menschen unter Decken. Familien. Ein Junge schläft mit einem Fußball im Arm unter einem Baum. Drei junge Leute haben sich unter einem Lastwagen eingerichtet, dem „Röntgenmobil“, in dem alle Ankommenden auf Tuberkulose geröntgt werden müssen. Das Krankenhaus Moabit wurde Ende des 19. Jahrhunderts als „Seuchenstation“ gegründet. Damals hatte man offenbar weniger Probleme, Dinge beim Namen zu nennen.
Die Warteschlange für die Nummern reicht um 8 Uhr quer über den Platz. Daneben stehen jene, deren Anträge am Vortag nicht fertig wurden, obwohl die Mitarbeiter im Lageso Überstunden machten bis abends nach 21 Uhr. Eine weitere Gruppe wartet am Rand unter einer Leuchtnummerntafel, die ein bisschen an einen Sportplatz erinnert. Vielleicht liegt es an dieser provisorischen Umgebung oder es ist Zynismus, aber als auf der Tafel die orangefarbenen Zahlen aufleuchten, klatscht und pfeift die Menge wie beim Fußball. Das Geräusch wird den Tag begleiten wie das Weinen der Kinder, die mit den Müttern am Rand sitzen und nichts anderes hoffen, als endlich aufgerufen zu werden.

Nur wer dieses Prozedere durchmacht, erhält den offiziellen Status als vorläufig anerkannter Flüchtling. Diese Information zumindest haben die Menschen in der Menge. Wessen Zahl aufleuchtet, der hat Anspruch auf Unterkunft, Sozialleistungen, Krankenschein, Berlinpass. Und auch ein Termin beim BAMF gehört dazu, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das über den eigentlichen Asylantrag entscheidet, irgendwann. Momentan liegen dort 300.000 unbearbeitete Anträge.
Am Rand des Getümmels sitzt eine ältere Dame mit besorgtem Blick. Sie sei aus Mitte gekommen, um sich selbst ein Bild zu machen. Ist es wirklich so schlimm hier? Am Vortag haben zwei junge Männer sich die Kleider vom Leib gerissen und gedroht, sich aus dem Hochhaus zu stürzen, wenn ihre Anträge nicht sofort bearbeitet würden. Immer wieder wird über Polizeieinsätze am Lageso berichtet, mal gibt es eine Schlägerei, dann eine Bombendrohung, es demonstrierten Rechtsextreme.
Bilder wie diese und auch die der drängelnden Männer sagt die Dame, lieferten Argumente, Ausländerfeindlichkeit zu schüren. „Ich bin gespannt, wie Frau Merkel diese Situation managt, zu der sie ja selbst beigetragen hat.“

Es gibt eigentlich kein Gespräch hier, das nicht irgendwann bei Merkel endet. „Mama Merkel, thank you“, rufen die sieben Mitglieder der syrischen Familie mit leuchtenden Augen, die seit 7 Uhr auf der Wiese am Lageso sitzen. Nur einer von ihnen spricht Englisch, der jüngste Sohn, Mohammed. Er ist 22. Sie sind aus Aleppo hierher gekommen. Monatelang hatten sie in der zerstörten Stadt ausgeharrt. Schließlich zahlten sie Schleppern 1000 Euro pro Person, um mit einem winzigen Boot nach Europa zu kommen.
Mohammed hat Skoliose. Eigentlich müsste er operiert werden. Seit 28 Tagen sitzen sie Tag für Tag hier auf der Wiese, in der Hoffnung, dass ihre Nummer endlich aufleuchtet. Den Einwand, dass sie diese eventuell einfach verpasst haben – immerhin liegen beim Lageso 200 genau solcher Fälle auf Halde – wischen sie vom Tisch. Ebenso, dass es mobile Teams gibt, die Anträge in den Flüchtlingsheimen bearbeiten. „Mama Merkel hat uns eingeladen. Sie wird für uns sorgen.“
Doch auch an diesem Tag sind die einzigen, die die Familie ansprechen, die freiwilligen Helfer vom Verein „Moabit hilft“. Um 10 Uhr teilen die ersten Frühstück und Wasser aus. Mahlzeiten werden aber auch in einem Versorgungszelt ausgegeben. Es war „Moabit hilft“, ein Bündnis aus Nachbarn, das zuerst auf die Lage der Flüchtlinge aufmerksam machte. Von frühmorgens bis in die Nacht sind jetzt Freiwillige auf dem Gelände unterwegs, verteilen Kleider, Windeln und Essen, das inzwischen auch im Auftrag des Lageso geliefert wird. Sie hören sich hunderterlei Sorgen in noch mehr Sprachen an. Doch auch sie sind oft einfach nur machtlos.

Wie in dem Moment, als das Gedrängel in der Warteschlange eskaliert. Wer dort wartet, kann seinen Platz nicht verlassen, sonst wird der sofort von einem anderen eingenommen. Dicht auf dicht stehen die Männer, schubsen und schieben, als sie sehen, wie die ersten Männer – nun samt Frauen und Kindern ins Lageso ziehen. Die Sicherheitsleute reden geduldig auf die Männer ein, auch auf Arabisch und Serbokroatisch, das die meisten hier sprechen. „Lassen Sie Platz, jeder kommt dran!“ Doch die Männer schreien zurück: „Wir stehen seit 4 Uhr morgens hier!“ – „Bleiben Sie ruhig!“ – „Aber arbeiten die da drinnen überhaupt?“ Als Wasser und Essen verteilt wird, gerät das Geschiebe fast außer Kontrolle. Die Anspannung entlädt sich in dem Bedürfnis, wenigstens beim Essen nicht zu kurz zu kommen.
Eine junge Frau, sie stammt aus Damaskus, berichtet, wie sie am Vortag selbst in dem Gedränge stand. „Die Leute hinter dir hängen sich an deine Arme, als würden sie ertrinken.“ Sie sei Grafikerin, erzählt die 28-jährige Mina, die bei Freunden in Berlin wohnt. Sie war schon öfter in Deutschland. Allerdings als Touristin. Sie ist aus politischen Gründen geflohen.
Neben den Vereinshelfern mit ihren Sicherheitswesten kommen nun auch andere Menschen auf das Gelände, das tagsüber für jedermann offen ist. Draußen am Tor verteilt ein Christ Erbauungsschriften und spricht die Vorbeieilenden an. „Farsi? Urdu? Möchten Sie eine Kirche besichtigen?“ Drinnen wirbt ein kurdischer Verein für Sprachkurse. Salafisten verteilten in den vergangenen Tagen hier ihren Koran. Nun fahren Privatleute vor, laden Kartonweise Süßigkeiten und Fladenbrote aus dem Kofferraum, Kleiderspenden, sogar ein Kinderwagen wird gebracht. Zurück bleibt Müll.

Das Lageso-Hochhaus wurde einst als Krankenhaus gebaut, um Menschen zu helfen. Nun sieht es aus, als sollte hier die kranke Welt selbst geheilt werden. Kriege, Verfolgung, Flucht – in den nüchternen Räumen des Krankenhauses verwandeln sich Traumata in die Zahlen- und Buchstabenreihen der Asylanträge. Über den Krankenhausfluren liegt der Geruch von Schweiß und ungewaschenen Menschen. Auch hier schlafen einige auf dem Boden. Im Warteraum stehen zwei Passfotoautomaten, die Asylanträge werden auf Papier angelegt. Manchmal dauert die Erfassung pro Flüchtling zwei oder drei Stunden.
Alle, die nach dem Königsteiner Schlüssel in andere Orte verteilt werden, bekommen hier auch eine Zugfahrkarte. Problem: Viele Tickets sind schon fast abgelaufen, wenn sie ausgegeben werden. Zwar sind sie angeblich trotz des „Verfallsdatums“ zwei Wochen gültig. Doch draußen, in der atemlosen Wirklichkeit der zertrampelten Lageso-Wiese, glaubt keiner daran. Nicht mal die Helfer.
Es sind Absurditäten wie diese, die zusammengenommen das Unmögliche der Situation ausmachen. Die Ärzte, die aus dem Nichts heraus eine Erste-Hilfe-Station mit Freiwilligen aufbauten, dürfen seit dieser Woche keine Medikamente mehr bestellen. Hintergrund ist ein Streit darüber, wer die Medikamente liefern darf – niedergelassene Apotheken oder ein Krankenhaus. Als die Helfer begannen, Essen auszuteilen, gab es erstmal Ärger um Hygienevorschriften. Was ist wichtiger, Hygiene oder Hunger? An diesem Freitag teilen die Helfer erstmals 3000 Essensportionen aus. Die letzte Lastwagenladung kommt von einem indischen Lieferanten aus Moabit.

Wie soll das weitergehen? Am Nachmittag stehen mehrere Kamerateams am Lageso, der RBB, ein spanisches Fernsehteam, als gäbe es hier Antworten auf die Flüchtlingsfragen der Welt. Und es kommen immer mehr Neugierige. Yilmaz Eisensohn stammt aus Reutlingen, er studiert in Berlin Politikwissenschaft. Er steht fassungslos neben dem Gedrängel, wo gerade eine Mutter ihre zwei schreienden Kinder im Buggy zurückgelassen hat, als sie aufgerufen wurde. „Mich ärgert es, dass die deutsche Politik all diese Menschen eingeladen hat“, sagt Eisensohn. Er sei Sohn deutsch-türkischer Eltern, sagt er, „ich wurde deutsch erzogen. Aber wer soll diese Menschen jemals integrieren?“ Gleichzeitig tun ihm die Flüchtlinge leid.
Um 15 Uhr fallen am Lageso die Nummernanzeigen aus wegen des nächsten Notarzteinsatzes. Diesmal ist es ein dreijähriges Kind mit Atemstillstand. Draußen rufen und klatschen die Wartenden, es ist heiß, niemand hat mehr Geduld. Eine Stunde lang geht nichts mehr. Aber das Kind überlebt.
Schließlich leuchten die Nummern wieder auf. Um 16 Uhr ist regulär Feierabend am Lageso. Doch viele Mitarbeiter bleiben wieder bis abends, um Anträge zu bearbeiten. Am Ausgang des Geländes wartet noch ein weiteres Fernsehteam. Der arabische Sender al-Dschasira wird am Abend diese Botschaft der Flüchtlinge aus Deutschland in die Welt senden: „Wir sind sicher, es gibt etwas zu essen, man kümmert sich um uns.“ Als die Kameraleute abbauen, werden hinter ihnen gerade die ersten Schlafsäcke ausgerollt. Diesmal sind sie rosa mit Prinzessinnen-Bildern darauf. Es sind Familien, die sich hier einrichten. Die Kinder können nicht mehr. 76 Notquartiere gibt es jetzt in Berlin, doch die zwei neuesten in zwei Pankower Turnhallen werden erst weit nach Mitternacht vorbereitet sein.
