Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann ist gläubiger Katholik. Mit dem Papst sprach er über Muslime und Stuttgart 21. Über seine Parteikollegen schüttelt er den Kopf.

Benedikt XVI. wurde in Baden-Württemberg auch von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) begrüßt, der dem Papst als Gastgeschenk eine Armbanduhr überreichte. Bereits bei ihrer Begegnung am Donnerstag im Bundestag war das herzliche Verhältnis aufgefallen. Beide kennen sich. Der grüne Regierungschef war in der Vergangenheit bereits zweimal mit seinen Amtsvorgängern beim Papst zur Audienz

Morgenpost Online: Herr Ministerpräsident, Sie hatten am Flughafen Lahr zehn Minuten allein mit dem Papst. Was kam zur Sprache?

Winfried Kretschmann: Der Papst ist ein hoch konzentrierter Zuhörer. Wir Schwaben würden sagen, ein ganz G'scheiter. Er hat sich für das Verhältnis von Wirtschaft und Ökologie interessiert. Die Integration der Muslime war ein Thema. Unseren neuen Tübinger Lehrstuhl, wo Imame und islamische Religionslehrer ausgebildet werden, hat er sehr positiv gewürdigt, weil auch die Hoffnung besteht, dass sich eine Art europäischer Islam entwickeln kann. Und er fragte nach Stuttgart 21.

Morgenpost Online: Er hat dieses Thema angeschnitten?

Kretschmann: Ja, und das hat mich wirklich überrascht. Er wollte wissen, wie die Sache steht und ausgehen könnte. Ich habe ihm erläutert, dass der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Institutionen das Hintergrundrauschen solcher Proteste ist. Ich habe gesagt, es wird schwieriger, die moderne Gesellschaft zusammenzuhalten. Da antwortete er: Die Kirche wird auch pluralistischer, es ist auch schwerer, sie zusammenzuhalten.

Morgenpost Online: Sie gehören dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken und dem Diözesanbeirat an. Haben Sie gegenüber BenediktXVI. auch den Wunsch vieler deutscher Katholiken nach Reformen formuliert?

Kretschmann: Nein. Ich kritisiere den Papst durchaus auch, aber nicht als Ministerpräsident. Ich werde ihn doch nicht in zehn Minuten, in denen ich ihn als Gast unseres Landesempfangs spreche, mit Kritik überfallen. Das wäre völlig unangemessen. In Baden-Württemberg haben der Staat und die Kirche ein hervorragendes und gewachsenes Verhältnis und arbeiten partnerschaftlich zusammen.

Morgenpost Online: Waren Sie nicht wie viele Katholiken enttäuscht, dass der Papst bei diesem Deutschlandbesuch zu wichtigen Themen schwieg?

Kretschmann: Ich fand es eher klug, dass er im Bundestag eben gerade nicht auf das eingegangen ist, was alle erwarteten. Man muss nicht in jede Schublade springen, die andere für einen vorher aufgezogen haben.

Morgenpost Online: Gilt das auch für die Ökumene?

Kretschmann: Hier hätte ich tatsächlich stärkere Signale erwartet, zumal er die protestantischen Kirchen als Präfekt der Glaubenskongregation sehr irritiert hat. In Baden-Württemberg ist die Hälfte aller Ehen konfessionsverschieden oder, ökumenisch gesprochen, konfessionsverbindend. Es geht damit nicht nur um dogmatische, sondern um ganz praktische, seelsorgerische Fragen. Irgendein Zeichen wäre wichtig und notwendig gewesen.

Morgenpost Online: Der Papst sagte in Erfurt zur Ökumene , es könne keinen selbst gebauten Glauben geben. Sie selbst beschreiben sich als einen Katholiken, der in mancher Hinsicht auch evangelisch denkt. Ist das nicht ein solcher Selbstbau?

Kretschmann: Ich habe Verständnis dafür, dass Papst Benedikt versucht, das Glaubensgebäude der Kirche zusammenzuhalten. Das ist schließlich seine Aufgabe. Aber dass wir modernen Menschen uns unsere Religion zusammenbasteln, ist ganz einfach eine Tatsache. Die alte Metapher des Glaubensgehorsams funktioniert nicht mehr. Im Glauben kann man gar nicht gehorchen. Wir können unserem Bewusstsein nichts befehlen. Im Glauben müssen wir innerlich überzeugt sein.

Morgenpost Online: Braucht die Gesellschaft nicht aber so eine große Unzeitgemäße, wie die Kirche einmal genannt wurde, eine konsequent Widerständige?

Kretschmann: Es ist geradezu ein Auftrag der Kirche, widerständig zu sein. Aber sie muss eben gewärtig sein, dass das auch argumentativen Gegenprotest hervorruft. Auf diesen wird zu wenig eingegangen. Die Kirche kann ja entscheiden, keine Frauen in Weih- und Leitungsämtern zuzulassen. Aber dann soll sie es bitte begründen und sich auf den Streit darüber einlassen, statt einfach zu sagen, so war es, und so bleibt es.

Innerkirchliche Kritik wird zu schnell als illoyal und ungehorsam hingestellt, statt zu sehen, dass sie aus Sorge erfolgt. Das ist meine größte Kritik am Vatikan. Es ist der Ungeist, der zum Index verbotener Bücher geführt hat. Davon muss sie sich konsequent trennen. Schon die Urkirche hat gestritten.

Morgenpost Online: Ist es Papst Benedikt, der diesen alten Ungeist bewahrt? Oder möchte er etwas anderes und kann es nicht aufgrund der Höflinge um ihn herum?

Kretschmann: Ich glaube, dass die ganze Organisation des Vatikans einfach nicht ins 21. Jahrhunderts passt. Das haben große Pannen gezeigt wie die Rehabilitation der Pius-Brüder, also von Holocaustleugnern. Auch beim Missbrauchsskandal, der wie ein Vulkan plötzlich hochgegangen ist, lenkte die Kirche erst ein, als der Druck der Öffentlichkeit zu groß geworden ist. Der Papst hatte offensichtlich Mühe, seinen Kurs der schonungslosen Aufklärung durchzusetzen.

Morgenpost Online: Aber seine Rede im Deutschen Bundestag war gute Werbung für die Grünen. Oder nicht?

Kretschmann: Für die Fragen der Ökologie trägt jeder eine Verantwortung, das ist keine Spielwiese, die für uns Grüne reserviert ist. Aber es war eine „grüne“ Rede, und das hat mich gefreut.

Morgenpost Online: Manche Parteikollegen sahen das anders und boykottierten die Rede. Haben Sie Verständnis dafür?

Kretschmann: Das ist eine völlig unhaltbare Position. Diejenigen, die das unter der Flagge der Fortschrittlichkeit machen, sollten sich überlegen, was daran modern sein soll, Leuten das Ohr zu verweigern. Der Papst repräsentiert eine Religionsgemeinschaft von über einer Milliarde Menschen. Er hat der Welt etwas zu sagen. Man kann ihn kritisieren, aber man sollte zuhören.

Zumal er ausdrücklich die Autonomie der säkularen Vernunft als Ausdruck göttlicher Kreativität betont hat. Das war eine tiefe Verbeugung gerade vor denen, die die Trennung von Staat und Kirche einfordern. Ich fand das richtig klasse.

Morgenpost Online: Der grüne Abgeordnete Hans-Christian Ströbele verließ sogar gleich zu Beginn demonstrativ den Saal.

Kretschmann: Eine Rede zu verlassen, weil einem der Applaus der anderen zu heftig war, unfassbar!

Morgenpost Online: Sie haben der Kirche bereits einmal den Rücken gekehrt. Gab es einen Auslöser oder eine Kraft, die Sie zurückgezogen hat?

Kretschmann: Ich war in einem katholischen Internat, das genügt vielleicht als Stichwort zum Austritt. Die 68er-Zeit hat auch zum Austritt beigetragen. Es gab aber viele Fäden, die nie abrissen. Ein Erweckungsereignis, das mich zurückgeholt hat, gab es nicht.

Ich habe nach langem Prozess wieder meinen Frieden mit der Kirche gemacht, in Kenntnis, dass es eine Institution ist, die ich liebe und an der ich leide. Und in dieser Kenntnis werde ich ihr verbunden bleiben bis in den Tod.