Siehe da, dieser Papst ist doch für eine Überraschung gut. Von Amt und persönlicher Prägung her ein Mann der Kontinuität, wird er gerne als ein Unwandelbarer wahrgenommen. Vielen gilt er als sturer, unnachsichtiger, auch humorloser Hüter katholischer Orthodoxie. Mit seiner Rede im Deutschen Bundestag, die den Höhepunkt seines ersten Besuchstags ausmachte, hat er seinen Kritikern ein veritables Schnippchen geschlagen. Indem er eine durch und durch politische Rede hielt – dabei aber einem anderen als dem landläufigen Verständnis von Politik folgte. Er hat, wenn sie denn nur hingehört haben, seine Gegner, aber auch seine Anhänger verblüfft.
Der Bundestag hätte eine Falle für Benedikt XVI. werden können. Hätte er eine strenge, katholisch-theologische Philippika wider den Zeitgeist – also wider homosexuelle Ehen, wider Scheidung, Frauenordination, Pille, Kondom und PID – gehalten, dann hätte er sich ganz den Erwartungen jenes anachronistischen Protestzugs gebeugt, der besonders in diesem Papst eine Kraft der Finsternis, der Aufklärungs- und Modernitätsverweigerung sieht. Seine Feinde wären höchst zufrieden gewesen. Hätte er aber umgekehrt eine vordergründig irdisch-aktuelle Rede gehalten, dann hätte er sich ebenfalls seiner Souveränität als Pontifex Maximus begeben: Um nicht als ein Mann von gestern, ja als ein Reaktionär dazustehen, hätte er all jenen – von Claudia Roth ausdrücklich, von Bundespräsident Christian Wulff diplomatisch-indirekt erhobenen – Forderungen nachgegeben, sich doch bitte und gefälligst zu den „großen Fragen dieser Zeit“ zu äußern. Er hätte dann über Risiken der Globalisierung, über Dritte Welt, soziales Elend sprechen können und auch das Thema Missbrauch angehen können (bei dem seine Kritiker gerne übersehen, dass er sich dazu vielfach sehr klar geäußert hat). Er hätte sich, am heiligsten Ort einer laizistisch verfassten Republik, als Bürger geben können und wäre damit jenen ein Stück entgegengekommen, die es unpassend fanden, dass ein Kirchenoberhaupt im deutschen Parlament sprechen darf.
In beiden Fällen hätte er sich von außen an ihn herangetragenen Erwartungen gebeugt, in beiden Fällen wäre er fremdgesteuert gewesen. Beides hat er souverän gemieden – fast möchte man sagen, auf eine nicht ganz unironische Weise. Er ist dem Ort, dem Deutschen Bundestag, in dem das ganze deutsche Volk repräsentativ anwesend ist, gerecht geworden. Er hat über die Grundlagen von Politik in einer freien Gesellschaft gesprochen. Und er hat das Recht in den Mittelpunkt gestellt, den Kirchenvater Augustinus aus dem dritten Jahrhundert zitierend: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“ Dass er dann nichts anderes ist, weiß man gerade in Deutschland, wo die barbarische Missachtung des Rechts durch die Nationalsozialisten am Anfang einer ungeheuren Barbarei stand. BenediktXVI., als Jugendlicher selbst Mitglied der HJ, hat eben das ausdrücklich angesprochen. Und es war gut, dass er das im Bundestag getan hat.
Doch er ging weit darüber hinaus. Er warf die fundamentale Frage auf, woher das Recht denn kommt und wie gewährleistet werden kann, dass es dauerhaft gilt. Im streng diesseitigen Verständnis ist es der Mensch, sind es die Gesellschaften, die das Recht aus sich heraus setzen. Keine höhere Instanz, nur Übereinkunft, nur Vertrag, nur menschliches Vernunftwerk, nur Hier und Jetzt. Das ist zu wenig, sagte der Papst. Er sprach damit ein Dilemma an, das der deutsche Jurist Ernst-Wolfgang Böckenförde 1976 in diesen Satz gefasst hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann.“ Es ist Anmaßung im Spiel, wenn wir glauben, wir seien unsere eigenen Schöpfer und Richter. Benedikt: „Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen.“
Es war schwere geistige Kost, die der Papst da den Repräsentanten des Souveräns zumutete. Ohne Scheu benutzte er den Ton des Oberseminars – als wolle er den Abgeordneten deutlich machen, in welch fundamentalem und dramatischem Dilemma sich befindet, wer die Aufgabe hat, die Dinge dieser Welt zu gestalten und zu ordnen. Auch in der Demokratie ist nicht evident, was das Rechte ist – schon gar nicht heute, wo die, wie Benedikt sagte, positivistische, also die nur innerweltliche Vernunft so glanzvoll zu herrschen scheint. Die Pointe von Benedikts Rede bestand darin, dass er aber nicht einer christlich-katholischen Überwölbung oder Fundierung des Rechtsstaats das Wort redete. Die christlichen Theologen hätten seit dem zweiten Jahrhundert stets jene Kultur Europas verkörpert, die „aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden“ ist. Der Papst hat einem Glauben das Wort geredet, der die Welt auch Welt sein lässt. Und er hat bescheiden darauf hingewiesen, dass die Idee von der Gleichheit aller Menschen, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln von der Idee eines Schöpfergottes her entwickelt worden ist.
Nicht ohne eine Spur von List hat der Papst die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in ihre verantwortungsvolle Freiheit entlassen. Dass er zu sanften Stichen fähig ist, zeigt der Umstand, dass er eine Partei fast explizit nannte: die Grünen der Claudia Roth und des Volker Beck.